Schützt die Verfassung vor ihren Freunden!
Freunde hatte das Grundgesetz 1949 nur wenige. Viele beobachteten die doppelte Staatsgründung voller Sorge; den meisten war der Text, der in der rheinischen Provinz formuliert worden war und nicht einmal Verfassung heißen durfte, schlicht egal. Das hat sich inzwischen gründlich geändert. Das Grundgesetz hat taugliche Spielregeln für die Politik aufgestellt. Es hat mit den Grundrechten der Staatsmacht wirksam Grenzen gezogen und zugleich Wertmaßstäbe gesetzt, die auch unser gesellschaftliches Leben prägen. Erstmals in der deutschen Geschichte identifiziert sich die große Mehrheit der Menschen mit ihrer Verfassung und empfindet Verfassungspatriotismus.
Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter. Einer ist gewiss die Verlässlichkeit dieser Verfassung. Jeder weiß: Was im Grundgesetz steht, gilt auch; notfalls wird ihm durch das Bundesverfassungsgericht Geltung verschafft. Dieses Vertrauen besteht seit nunmehr 60 Jahren, und diese Stabilität ist ein weiterer Erfolgsfaktor. Sie wird auch deshalb als positiv empfunden, weil das Grundgesetz zugleich die notwendige Offenheit bewiesen hat, sozialen und politischen Wandel zu ermöglichen und rechtlich zu bewältigen. Schließlich verdankt das Grundgesetz seine Popularität auch der Prägnanz und Verständlichkeit seines Textes.
Lobbyisten drängeln sich ins Grundgesetz
Beide haben allerdings schon Mitte der neunziger Jahre gelitten, vor allem durch die Änderungen des Asylrechts und die Einführung des Großen Lauschangriffs. Die schlanke Vier-Wort-Norm „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ wurde ersetzt durch den Artikel 16a, der nicht weniger als 275 Wörter zählt. Damals sind parteipolitische Kompromisse, die eigentlich in ein einfaches Gesetz gehörten, im Grundgesetz zementiert worden. So sind nachträgliche einseitige Veränderungen unmöglich geworden. Der Popularität des Grundgesetzes haben diese und ähnliche Manöver keinen Abbruch getan. Nach einer Allensbach-Umfrage vom Frühjahr 2009 sind 82 Prozent der Westdeutschen und immerhin 58 Prozent der Ostdeutschen mit dem Grundgesetz zufrieden.
Erfolg und Ansehen der Verfassung wenden sich nun aber gegen sie. Beides verleitet Lobbyisten innerhalb und außerhalb des Parlaments dazu, ihre Partikularinteressen durch eine Erwähnung im Grundgesetz adeln zu wollen. So nützlich und förderungswürdig etwa Sport und Kultur sein mögen, so wichtig die Arbeit der einschlägigen Verbände ist – die Verfassung ist keine Verdiensturkunde für ehrenwerte Freizeitbeschäftigungen. Neue Staatsziele sind daher überflüssig.
Neben einem Prestigegewinn geht es den Lobbyisten aber auch um Wettbewerbsvorteile im Verteilungskampf um öffentliches Geld. Wenn etwa das Land Berlin und die FDP die Kulturförderung zum Staatsziel im Grundgesetz machen wollen, betreiben sie damit verfassungsrechtliche Klientelpolitik: Profitieren soll ein Land, das viel Kultur aber wenig Geld hat, und eine Wählerschaft, die überdurchschnittlich oft staatlich subventionierte Kultureinrichtungen nutzt. Es wäre aber schädlich für unsere Demokratie, wenn wegen einer Grundgesetzänderung mehr Staatsgeld für Fußballplätze oder Opernhäuser fließen würde.
Die Verfassung soll die Spielregeln für den politischen Entscheidungsprozess festlegen, nicht aber sein Ergebnis. Wir Wähler müssen das Recht behalten, am Wahltag über die politischen Prioritäten zu entscheiden, und dazu gehört auch, wofür das Steuergeld vorrangig ausgegeben wird. Wäre es anders, würden immer mehr Interessengruppen darauf drängen, ihr Anliegen in der Verfassung zu verankern. Die Folge: Haushaltspolitische Verteilungskämpfe würden zu juristischen Streitigkeiten. „Wer Verfassungsrecht sät, wird Verfassungsrechtsprechung ernten“, mahnt daher Udo Steiner, der selbst zwölf Jahre lang in Karlsruhe die rote Robe trug. Wenn aber andererseits solche Staatsziele den politischen Entscheidungsspielraum kaum einschränken würden, wären sie nur Blendwerk, was ebenso schädlich wäre. Eine Verfassung soll schließlich keine Illusionen schaffen, sondern Verlässlichkeit. Verfassungsrechtlich gibt es jedenfalls keine Notwendigkeit, Kultur und Sport im Grundgesetz zu verankern. Schon heute fallen beide bei Interessenkollisionen und Abwägungsprozessen als achtenswerte Belange ins Gewicht. Das unterscheidet sie vom Tierschutz, der 2002 zu Recht ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Als Kunstfreiheit und Form der freien Entfaltung der Persönlichkeit genießen beide sogar den Schutz der Grundrechte.
Warum „Kinderrechte“ überflüssig sind
Diese Grundrechte gelten für alle Menschen, und zwar unabhängig vom Lebensalter. Genau deshalb sind auch gesonderte Kinderrechte im Grundgesetz überflüssig. Der Ruf nach ihnen ist lauter geworden, seit schreckliche Einzelschicksale vernachlässigter Kleinkinder für Schlagzeilen gesorgt haben. Es ist absehbar, dass bei der nächsten medialen Empörungswelle über (tatsächliche oder vermeintliche) skandalöse Zustände in deutschen Altenpflegeheimen der Ruf nach Seniorenrechten ertönen wird. Was den Kindern recht ist, soll den Alten billig sein. Argumente für eine Grundgesetzänderung sind dies aber nicht.
So ist etwa das Erziehungsrecht der Eltern schon heute im Grundgesetz beschränkt: „Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“, heißt es in Artikel 6. Die Jugendämter dürfen und müssen daher im Notfall eingreifen. Weil sie dies in Bremen und Schwerin versäumt haben, wurden sie mitschuldig am Tod des kleinen Kevin und von Lea-Sophie. Wenn sich jetzt gerade die Länder Bremen und Mecklenburg-Vorpommern für Kinderrechte im Grundgesetz stark machen, ist dies bestenfalls Ausdruck politischer Hilflosigkeit, schlimmstenfalls der Versuch, die Verantwortung für eigenes Versagen der Bundesverfassung zuzuschreiben. Die Landesverfassungen von Bremen und Mecklenburg-Vorpommern kennen schon heute ausdrückliche Kinderrechte, gerettet hat dies Kevin und Lea-Sophie nicht. Hier zeigt sich: Probleme beim Gesetzesvollzug löst man nicht mit Verfassungsänderungen. Wichtiger wären mehr Personal und eine effektivere Organisation der Jugendämter. Das allerdings kostet Geld und gute Ideen, es dauert und zeigt kurzfristig kaum sichtbare Erfolge. Mit dem Ruf nach einer Grundgesetzänderung lässt sich dagegen einfach und rasch politisches Handeln vortäuschen. Aber wenn die Politik wirklich etwas bewegen will, darf sie die Mühen der Detailarbeit nicht scheuen.
Das gilt übrigens auch für die Integrationspolitik. 60 Jahre lang hat niemand eine Bestimmung über unsere Sprache im Grundgesetz vermisst. Die gesetzlichen Regelungen über die Amts- und Gerichtssprache reichten völlig aus. Motiviert durch latente Überfremdungsängste und den Ärger verkniffener Sprachschützer über Anglizismen soll es nach dem Willen des CDU-Parteitags künftig im Grundgesetz heißen: „Die Sprache der Bundesrepublik ist Deutsch.“ Wer es allerdings gut meint mit der deutschen Sprache und wer sie als gemeinsame Kommunikationsgrundlage der Bevölkerung in Deutschland stärken will, der braucht die Verfassung nicht zu ändern. Stattdessen sollte er für mehr Sprachkurse für Einwanderer und mehr Goethe-Institute in aller Welt eintreten.
Textkürzungen als Symbolpolitik
Verfassungsrechtliche Symbolpolitik und Verengungen demokratischer Handlungsspielräume lassen sich aber nicht nur mit Erweiterungen des Grundgesetzes betreiben, sondern auch mit Hilfe von Textkürzungen. Die FDP hatte schon in der vergangenen Wahlperiode die Streichung der Vermögenssteuer aus dem Grundgesetz beantragt, jetzt will sie jenen Artikel 15 aufheben, der die Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen oder Produktionsmitteln zulässt. Diese Option des Grundgesetzes darf allerdings nicht zur kleinen Münze der parteipolitischen Profilierung gemacht und leichtfertig preisgegeben werden. Wenn sich einmal herausstellen sollte, dass nach einer Privatisierung öffentlicher Aufgaben die Leistungserfüllung nicht mehr gewährleistet ist, könnte sich das Sozialisierungsrecht als bitter notwendig erweisen.
Was Lothar Matthäus empfiehlt
Wie verhängnisvoll es sein kann, aus den Launen der Tagespolitik heraus auf Handlungsoptionen des Grundgesetzes zu verzichten, zeigt derzeit das Kooperationsverbot von Bund und Ländern in Artikel 104b. Es wurde erst 2006 im Zuge der Föderalismusreform beschlossen. Heute verhindert es, dass der Bund mit seinem Konjunkturpaket Investitionen der Länder beim Schul- und Hochschulbau fördern darf. Verfassungsrecht sei dazu bestimmt, altes Recht zu werden, meinte Niklas Luhmann mit Blick auf die Stabilisierungsfunktion der Verfassung. Wer aber allzu leichtfertig Hand an den Verfassungstext legt, produziert nur Labilität: Das Kooperationsverbot muss noch in diesem Jahr wieder geändert werden!
Weil die Parteipolitik zu symbolischen Verfassungsänderungen neigt, die die Prägnanz, Verlässlichkeit und Offenheit des Grundgesetzes gefährden, muss unsere Verfassung vor ihren vermeintlichen Freunden besser geschützt werden. Die Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat, die für Grundgesetzänderungen nötig ist, scheint dafür nicht auszureichen. Dieter Grimm, Verfassungsrechtler von Rang und einst Richter am Bundesverfassungsgericht, hat deshalb vorgeschlagen, einfache und verfassungsändernde Gesetzgebung nicht mehr in der gleichen Hand zu lassen. Dies wäre die Fortsetzung einer historischen Entwicklungslinie: Im Bismarckschen Reich waren die Auslegung der Verfassung und die Streitentscheidung noch Sache des Bundesrates. Das Grundgesetz machte die Verfassungsgerichtsbarkeit von Parlament und Regierung unabhängig. Die Trennung der verfassungsändernden von der einfachen Gesetzgebung wäre der nächste, folgerichtige Schritt zur Stärkung der Verfassung.
Viele Staaten lassen über Verfassungsänderungen ihr Volk abstimmen. Dadurch geriete aber das Grundgesetz noch viel stärker ins Fahrwasser der parteipolitischen Kontroverse. Außerdem wäre vielen Placebo-Normen die Zustimmung der Bevölkerung sicher. In Hessen etwa ist 2002 per Plebiszit die Sportförderung zum Staatsziel gemacht worden. Wenn das Land hier trotzdem den Rotstift ansetzt, verstärkt dies die Diskrepanz zwischen dem normativen Anspruch der Verfassung und der politischen Wirklichkeit. Verfassungspatriotismus entsteht so nicht. Auch bundesweit wären Volksabstimmungen eher gefährlich und böten keinen Schutz vor schädlichem Verfassungsmurks. Das juristische Fachblatt Bild am Sonntag titelt schon heute „Sport muss ins Grundgesetz!“ und beruft sich dabei auf Autoritäten wie den Rekordnationalverfassungsrechtler Lothar Matthäus. Ein guter Grund, von Volksentscheiden über Grundgesetzänderungen die Finger zu lassen.
Schafft einen Bundesverfassungsrat!
Der verfassungsändernde Gesetzgeber braucht einerseits demokratische Legitimation, andererseits muss er unabhängig vom politischen Tagesgeschäft bleiben. Wie man dies erreichen kann, zeigt das Bundesverfassungsgericht: Seine Mitglieder werden von Bundesrat und Bundestag gewählt, eine Zwei-Drittel-Mehrheit verhindert die Berufung von Radikalen, die lange Amtszeit von zwölf Jahren und das Verbot der Wiederwahl stärken die persönliche Unabhängigkeit.
Nach diesem Vorbild könnte ein Bundesverfassungsrat geschaffen werden. Besetzt mit elder statesmen der Politik, geachteten Repräsentanten der Gesellschaft und ausgewiesenen Verfassungsexperten würde er allein über Änderungen des Grundgesetzes entscheiden. Bundestag und Bundesrat wären von dieser Verantwortung entlastet und könnten sich ganz der Gesetzgebung und Regierungskontrolle widmen. Änderungsvorstöße gerieten weder ins Kreuzfeuer der parteipolitischen Kontroverse, noch könnten sie dafür missbraucht werden. Kein Großkopferter stünde unter dem Druck, eine zweifelhafte Verfassungsreform nur deshalb durchzusetzen, weil die Medien sie zum Nachweis seiner politischen Durchsetzungskraft erhoben hatten. Es gäbe auch keine Placebo-Normen mehr, die den Verfassungstext aufblähen und den Blick auf jene Normen verstellen, die wirklich etwas regeln.
Stattdessen würde das Grundgesetz nur geändert, wenn es dafür einen breiten gesellschaftlichen und fachlichen Konsens gäbe. Die Normen blieben wirkmächtig, die Verfassung stabil und offen zugleich, der Text des Grundgesetzes schlank und für jedermann lesbar. All dies würde das hohe Ansehen und die große Akzeptanz unseres Grundgesetzes auch in Zukunft sichern. Genau das ist der beste Verfassungsschutz, den man sich wünschen kann.