Terrorismus und die deutsche Politik 2017
In der Rückschau wird sich in einiger Zeit zeigen, dass das Jahr 2015 ein Epochenjahr für Deutschland war, vor allem für die deutsche Sicherheitspolitik. Die Ereignisse dieses Jahres werden weitreichende Auswirkungen auf die Bundespolitik des Jahres 2017 haben, denn es zeichnet sich seit einigen Monaten ab, dass sicherheitspolitische Themen bei den anstehenden Bundestagswahlen so wichtig sein werden wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Der Grund dafür ist die deutliche Verschlechterung der Sicherheitslage seit 2015, als der so genannte Islamische Staat (IS) entschied, einige seiner zahlreichen europäischen Rekruten in ihre Heimatländer zurückzuschicken, damit sie dort Anschläge verüben. Die Situation verschärfte sich dramatisch, als im selben Jahr hunderttausende Flüchtlinge über die „Balkanroute“ nach Deutschland kamen und der IS den Kontrollverlust der Europäer nutzte, um künftige Attentäter auf diesem Weg nach Deutschland und in seine Nachbarländer zu schicken.
IS-Rückkehrer berichten, dass ihre Organisation bereits im Frühjahr 2014, als das Kalifat noch nicht ausgerufen war, nach Freiwilligen für Attentate in Europa suchte – was bedeutet, dass es sich nicht um Reaktionen auf die Luftangriffe der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten handelte, die erst im Sommer 2014 begannen. Verantwortlich für die Planungen war eine Teileinheit des IS-Geheimdienstes, die von dem Syrer Abu Muhammad al-Adnani angeführt wurde. Sie bestand aus rund einem Dutzend Planer und Rekrutierer, die in den folgenden zwei Jahren den Terror vor allem in die Türkei und nach Westeuropa trugen. Die Zahl der Anschläge und ihre Wirkung waren erstaunlich, was darauf zurückzuführen ist, dass die IS-Operationen bis vor wenigen Monaten von ehemaligen Militärs und Geheimdienstmitarbeitern aus der Regierungszeit Saddam Husseins geleitet wurden, mit der Folge, dass der IS sehr viel professioneller agierte als seine Vorgängerorganisationen.
Für die großen westeuropäischen Länder entwickelte der IS eine eigene Strategie. Um große Anschläge mit vielen Opfern zu ermöglichen, setzte er auf Einzeltäter, die die Sicherheitsbehörden beschäftigen und von den Planungen größerer Gruppen ablenken sollten. Einige von ihnen schickte der IS nach einer kurzen Ausbildung in Syrien mit dem Auftrag nach Europa zurück, hier einen Anschlag zu verüben. Andere Attentäter rief der IS über das Internet und die neuen sozialen Medien dazu auf, selbständig Anschläge zu verüben. Im Windschatten der immer zahlreicheren Einzeltäterattacken plante und organisierte eine größere Zelle die Attentate von Paris im November 2015 und Brüssel im März 2016.
Stehen auch bei uns große Attentate bevor?
In Deutschland scheint der IS auf größere Probleme gestoßen zu sein, weil die mit einem Auftrag zurückgekehrten deutschen Kämpfer nicht so entschlossen und opferbereit waren wie ihre französischen und belgischen Gesinnungsgenossen. Trotzdem gelang es dem IS, Personen nach Deutschland einzuschleusen und Einzeltäter zu Anschlägen zu bewegen. Der Attentäter von Ansbach im Juli 2016, der Syrer Muhammad Dalil, war bereits vor Jahren Mitglied des IS gewesen, als dieser noch ausschließlich im Irak kämpfte. Ob er aber von der Organisation geschickt wurde, ist weiterhin unklar. Sein afghanischer Kollege Riaz Khan, der einige Tage zuvor in Würzburg chinesische Touristen angegriffen hatte, stand wie Dalil schon lange vor seiner Tat im Kontakt mit dem IS, aber auch bei ihm ist nicht geklärt, ob dies bereits vor seiner Einreise nach Deutschland so war. In jedem Fall hat sich die Zahl der Anschläge und vereitelten Planungen in Deutschland 2015 und 2016 stark erhöht.
Aus den vielen Aktionen einzelner Täter mit oder ohne direkten IS-Kontakt zu schließen, dass Einzeltäter die größte Gefahr der nächsten Jahre sind, wäre aber grundfalsch. Diese geht weiterhin von großen Anschlägen des IS aus, weil vor allem sie das Potenzial haben, unsere Gesellschaft zu verändern. Die wichtigste Frage der deutschen Terrorismusbekämpfung ist dementsprechend, ob in oder für Deutschland Attentate dieses Ausmaßes vorbereitet werden. Einige Personen und Kleingruppen wurden bereits verhaftet, deren Pläne darauf hinweisen, dass es der IS auch in Deutschland auf Anschläge größerer Dimension abgesehen hat. Einer von ihnen könnte der Syrer Jabir al-Bakr gewesen sein, der im Oktober in Chemnitz verhaftet wurde, und der wahrscheinlich einen Sprengstoffanschlag auf den Flughafen Berlin-Tegel plante.
Die Erfolge des IS und die massive Verschlechterung der Sicherheitslage seit 2015 gehen aber auch auf Fehler der deutschen Politik zurück. Denn während der Flüchtlingskrise von 2015 verloren die Sicherheitsbehörden die Kontrolle über die Außengrenzen der EU, so dass es Dutzenden IS-Terroristen gelang, ungehindert nach Deutschland und in seine Nachbarländer einzureisen. Der Kontrollverlust war sicherheitspolitisch auch deshalb so folgenreich, weil die meisten Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsländern Syrien, Irak und Afghanistan kamen und damit gerechnet werden musste, dass sie die Konflikte ihrer Heimatländer mit nach Deutschland tragen würden. Hinzu kam, dass der IS (und andere terroristische Organisationen) eine solche Gelegenheit, vollkommen ungehindert eigene Leute nach Europa einzuschleusen, natürlich nutzen musste, wenn er dort Anschläge beabsichtigte. Das war bereits im Sommer 2015 nicht mehr zu übersehen.
Überraschend war lediglich, wie planmäßig der IS vorging. Wichtige Personen wie der Anführer der Pariser Attentäter, Abd al-Hamid Abaaoud, reisten mehrfach über die Balkanroute hin und zurück, und der IS-Geheimdienst scheint auch mehrere Scouts geschickt zu haben, die die Reisewege vorab prüften und darüber nach Syrien berichteten. Wie wichtig der freie Weg für die Organisation war, zeigte der Anschlag von Paris, an dem mindestens zwei Männer beteiligt waren, die auf der Balkanroute und damit über Deutschland nach Frankreich einreisen konnten. In den folgenden Monaten wurden immer mehr IS-Kämpfer gefasst, die ebenfalls als falsche Flüchtlinge auf diesem Weg gekommen waren. Als die Gefahr Ende 2015 dann auch in Berlin erkannt wurde, machten die deutschen Sicherheitsbehörden schnell Fortschritte in ihrem Bemühen, unter den Flüchtlingen Terroristen zu identifizieren. Dennoch gelang es einigen von ihnen, Attentate wie die von Würzburg und Ansbach zu verüben.
Terroristen wollen Überreaktionen erzwingen
Es dürfte Monate, wenn nicht Jahre dauern, bis die Sicherheitsbehörden einen ungefähren Überblick darüber haben, wer unter den Flüchtlingen von 2015 noch eine Gefahr darstellen könnte. Der Kontrollverlust des deutschen Staates hat maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Sicherheitslage in ganz Westeuropa dramatisch verschlechtert hat – mit langfristigen Folgen für die innere Sicherheit. Ähnliche Fehler dürfen sich in den kommenden Jahren nicht wiederholen.
Denn das größte Problem für Deutschland besteht nicht in der Professionalität des IS und im unkontrollierten Zustrom von falschen oder wahren Flüchtlingen. Es besteht vielmehr darin, dass sich die deutsche Gesellschaft in den vergangenen Jahren stark verändert hat und Anschläge islamistischer Terroristen heute viel dramatischere Auswirkungen hätten als früher. Noch vor wenigen Jahren wären die Folgen wahrscheinlich überschaubar gewesen: Die deutsche Politik hätte mit Augenmaß reagiert, die Sicherheitsbehörden gestärkt, außerdem auf mehr Prävention gesetzt und in ihren politischen Reaktionen sehr genau zwischen den islamistischen Terroristen und allen anderen Muslimen unterschieden. Heute wäre das nicht mehr möglich.
Das Ziel terroristischer Gruppen ist es fast immer, ihre Gegner zu Fehlern in Form von Überreaktionen zu zwingen. Dem IS ist es seit 2014 immer wieder gelungen, durch die Wahl von Anschlagszielen innenpolitische Konflikte zu schüren. In Saudi-Arabien gelang ihm dies mit Attentaten auf die benachteiligten Schiiten, die prompt der Regierung vorwarfen, sie nicht vor den Extremisten zu schützen. In der Türkei tötete der IS oppositionelle Kurden, linke Aktivisten und Säkularisten, die seither argwöhnen, die dortige Regierung und ihr Geheimdienst arbeite mit dem IS zusammen. Ähnliche Ziele verfolgt die Organisation in Europa, wo sie Konflikte zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Muslimen schüren will, um unter diesen neue Unterstützer zu gewinnen. In Deutschland profitiert der IS auch davon, dass Rechtspopulisten und -extremisten schon vor der Flüchtlingskrise und der Häufung islamistischer Anschläge im Aufwind waren.
Im Wahlkampf wird Sicherheit ein großes Thema
Es entspricht genau dem Kalkül des IS, dass eine rechtspopulistische Partei wie die AfD die Ereignisse von 2015 nutzte, um mit einer ausländer- und islamfeindlichen Agenda zu punkten. Dass die Rechtspopulisten beispiellose Wahlerfolge feierten, verängstigte viele Muslime in Deutschland und verschaffte der IS-Propaganda immer neues Material. Hinzu kam die nicht mehr ganz neue Stärke rechtsextremistischer Gruppierungen, die seit 2015 immer häufiger Flüchtlinge und Flüchtlingsheime angreifen. Zwar reagierte die deutsche Politik entschlossen, doch hatten die Rechtsextremisten und -terroristen so lange von der nachlässigen Bekämpfung durch Bund und Länder profitiert, dass ihrem raschen Erstarken nicht kurzfristig beizukommen ist.
Diese Konfliktlage führt dazu, dass ein großer terroristischer Anschlag heute sehr viel dramatischere Konsequenzen hätte: vermehrte Anschläge von rechts und weitere Zugewinne der AfD bei den nächsten Wahlen. Im schlimmsten Fall würden sich junge Muslime daraufhin vermehrt den Dschihadisten anschließen. Der einfachste Weg, den Rechtspopulisten und -extremisten den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist eine entschlossene Terrorismusbekämpfung. Denn viele Deutsche aus allen politischen Lagern haben seit den Ereignissen von 2015 das Vertrauen in die deutsche Sicherheitspolitik verloren, ganz unabhängig davon, wie sie die massenhafte Zuwanderung bewerten. Auch die Erfolge der Behörden in den vergangenen Monaten (Stichwort: Chemnitz) haben daran noch nichts geändert. Deshalb und weil die Gefahr so deutlich sichtbar ist, werden sicherheitspolitische Fragen im Jahr 2017 eine wichtige Rolle spielen, und die Parteien werden im Bundestagswahlkampf geeignete Konzepte vorstellen müssen.
Drei Maßnahmen sind für den Umgang mit der neuen Bedrohung notwendig: Erstens müssen die Sicherheitsbehörden und besonders die Nachrichtendienste gestärkt werden. Deutsche Behörden sind vor allem in der Früherkennung von terroristischen Gefahren schlecht, was an den mangelnden Kompetenzen sowie technischen Mitteln der Dienste liegt. Ansbach und Würzburg zeigen, dass die amerikanische NSA nicht in allen Fällen rechtzeitig von solchen Planungen erfährt. Zweitens sind effektivere Grenzkontrollen und ein umfassender Informationsaustausch aller Schengen-Staaten erforderlich, der endlich der Tatsache Rechnung trägt, dass eine Einreise in ein Schengen-Land einer Einreise nach Deutschland gleichkommt. Denn eine gemeinsame Außengrenze ist ohne eine gemeinsame Sicherheitspolitik nicht haltbar. Drittens wird es auch künftig darum gehen, den IS und andere terroristische Organisationen dort zu bekämpfen, wo sie Attentate planen, sei es in Syrien, im Irak, im Jemen, in Mali oder in Libyen. Die deutsche Politik sollte sich an den Gedanken gewöhnen, dass Terroristen auch mit militärischen Mitteln bekämpft werden müssen, will man Anschläge in Deutschland verhindern.