Theresas Mayday
Genau 52 Tage dauerte der Wahlkampf in Großbritannien. Premierministerin Theresa May wollte mit vorgezogenen Neuwahlen ihren harten Kurs in den Brexit-Verhandlungen mit der EU bestätigen lassen und ihre knappe Mehrheit im Unterhaus ausbauen. Doch wie so oft in den vergangenen 12 Monaten spielten die Wählerinnen und Wähler nicht so mit, wie es ihnen Umfrageinstitute und Medien einzureden versuchten. Von den anfangs 20 Prozentpunkten Vorsprung der Tories vor der oppositionellen Labour Party blieben am Wahltag gerade noch zwei Punkte übrig. Aufgrund des reinen Mehrheitswahlrechts genügte dies nicht, um eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze zu gewinnen. In der Konsequenz ist Theresa May auf eine – für die Briten noch immer ungewohnte – Koalition angewiesen. Dafür stand lediglich die nordirische Democratic Unionist Party (DUP) mit ihren gerade mal zehn Abgeordneten zur Verfügung. Nach zähen Verhandlungen und weitreichenden finanziellen Zusagen für Nordirland unterstützt diese Regionalpartei nun eine -Minderheitsregierung unter Theresa May. Wer auf diesen Wahlausgang getippt hatte, ging mit sehr viel Geld aus einer der berühmten britischen Wettstuben. Manchmal kommt es eben anders, als man denkt: Florian Ranft hatte in der vergangenen Ausgabe der Berliner Republik mit guten Argumenten eine krachende Niederlage für Labour vorhergesagt und den Abschied von Parteichef Jeremy Corbyn gefordert.
Doch dieser war der eindeutige Wahlgewinner. Corbyn hatte das Thema Gerechtigkeit in den Mittelpunkt seiner Kampagne gestellt. Mit Themen wie Bildung, Gesundheit, Steuern und Ungleichheit sprach er gerade jüngere Wähler an. Hinzu kam eine ungeschickte Wahlkampfführung von Premierministerin May. Außerdem führten die Terroranschläge in Manchester und London zu einer Diskussion über die Kürzungen bei der Polizei, die Theresa May noch als Innenministerin zu verantworten hatte.
Nun erwecken in Deutschland Fans der linken Gallionsfigur Jeremy Corbyn den Eindruck, er habe nach den Blair-Jahren einen Neuanfang geschafft. Zudem verkörpere er eine Anti-Establishment-Haltung, die gerade viele Menschen anspricht. Dieser Anschein mag auch gegenüber der britischen Öffentlichkeit erweckt worden sein – zutreffend ist er jedoch nicht. Die neue Fraktion im Unterhaus unterscheidet sich kaum von der Vorgängergruppe. Dies bedeutet, dass die Skeptiker gegenüber Corbyns Kurs weiterhin die Mehrheit bilden dürften. Jeremy Corbyn selbst, und das verbindet ihn mit Bernie Sanders, gehört mit über 30 Jahren Parlamentszugehörigkeit quasi zum Inventar. Natürlich waren beide schon immer Freigeister in ihren Parteien, aber von „Anti-Establishment“ zu sprechen ist doch etwas übertrieben.
Festzuhalten bleibt aber: Jeremy Corbyn war der richtige Kandidat zur richtigen Zeit. Kandidat und Programm bildeten eine glaubwürdige Einheit und setzten sich deutlich vom politischen Mitbewerber ab. Erfolgreich war diese Kombination aber vor allem, weil sie maximal von den zahlreichen Fehlern Mays profitieren konnte. Dadurch gab es beispielsweise so gut wie keine Diskussionen über die Solidität der politischen Vorhaben von Labour oder die tatsächliche Machtoption im Parlament. Beide Punkte hatten dem damaligen Spitzenmann Ed Miliband bei der letzten Unterhauswahl im Jahr 2015 noch schwer zu schaffen gemacht.
In vieler Hinsicht erinnert die fulminante Aufholjagd von Labour an die Bundestagswahl 2005, zumal die Konservativen trotz allem die Regierungschefin stellen. Für eine echte Machtperspektive müsste Labour 326 Sitze im Unterhaus gewinnen. Das sind 64 Sitze mehr als jetzt. Selbst wenn man die 35 Abgeordneten der schottischen Nationalisten einkalkuliert, bleibt dieser Abstand für die kommenden Wahlen eine große Herausforderung. Aufgrund des reinen Mehrheitswahlrechts müssen die Parteien nämlich in den „richtigen“ Regionen des Landes Stimmen hinzugewinnen. So erzielte die Labour-Abgeordnete Stella Creasy in ihrem Londoner Wahlkreis ein Traumergebnis von 80,6 Prozent; das hilft aber in anderen Regionen des Landes nichts, wo es Spitz auf Knopf steht.
Einen erheblichen Einfluss auf das Wahlergebnis hatte die Abwanderung vormaliger UKIP-Wähler. Die populistische United Kingdom Independence Party (UKIP) kam landesweit nur noch auf 1,8 Prozent. Bei der Wahl 2015, also vor dem Brexit-Referendum, hatte sie noch fast 12 Prozent der Stimmen auf sich vereint. Damit dürfte das Ende der Rechtspopulisten in Sicht sein. Denn mit der Entscheidung Großbritanniens für den Austritt aus der Europäischen Union hat die Partei ihr zentrales politisches Ziel erreicht. Anscheinend gibt es in der Partei keine Bestrebungen relevanter Kräfte, die UKIP neu aufzustellen.
Eigentlich hatte Theresa May gehofft, nach der Parlamentswahl als gestärkte Eiserne Lady nach Brüssel reisen zu können – und zugleich durch eine komfortable Mehrheit von den europakritischen Hinterbänklern in der eigenen Fraktion unabhängig zu werden. Diese Strategie ist nicht aufgegangen. Weil Theresa May geschwächt ist und sich auf eine knappe Mehrheit stützen muss, sind die Brexit-Verhandlungen noch komplizierter geworden.
Dabei stellen die Austrittverhandlungen Großbritannien und die Europäische Union sowieso schon vor schier unlösbare Aufgaben. Zwar kann die Entflechtung Großbritanniens aus der EU recht stringent erfolgen, allerdings führt jeder einzelne Punkt in jedem einzelnen Politikfeld automatisch zu der Frage, wie die Zusammenarbeit künftig neu geregelt werden soll. Bereits jetzt ist absehbar: Das erklärte Ziel, innerhalb von nicht mal 18 Monaten den Austritt und die Neuordnung der Beziehungen zu regeln, ist zum Scheitern verurteilt. Stattdessen droht ein „hard brexit by accident“ – ein unkontrollierter Austritt ohne Neureglung der Beziehungen. Deshalb müssen Deutschland und die EU-27 jetzt die Initiative ergreifen.
Beim jährlichen deutsch-britischen Dialog zwischen SPD und Labour wurde jüngst ein interessanter Lösungsvorschlag für die schwierigen Verhandlungen diskutiert. Demnach könnte es nach der Bundestagswahl einen deutsch-französischen Vorstoß geben: ein Angebot für die zukünftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU. Dieser Vorschlag erscheint zunächst absurd, sind es doch die Briten, die den Austritt wollen und deshalb auch einen Entwurf präsentieren sollten, wie sie sich die Zukunft vorstellen. Jedoch hat sich die Regierung in London in eine unmögliche Situation gebracht: Einerseits hat sie den Bürgern versprochen, die volle Kontrolle über alle Entscheidungen wiederzuerlangen und das Vereinigte Königreich von den Fesseln der EU-Bürokratie zu befreien. Andererseits möchte man den Zugang zum europäischen Binnenmarkt erhalten und auch sonst möglichst viele Vorteile der EU-Mitgliedschaft weiterhin genießen. Beide Ziele stehen in einem logischen Konflikt zueinander und laufen auf ähnliche Beziehungsmodelle hinaus, wie sie zwischen der EU und Norwegen oder der Schweiz bestehen.
Der Charme eines deutsch-französischen Angebots wäre, dass Theresa May eine gesichtswahrende Lösung ihrer Probleme geboten und eine chaotische Situation vermieden würde. Der Nachteil wäre allerdings, dass die britische Regierung ihr Gesicht wohl nur nach großem Theater mit vielen Anschuldigungen und aufreibenden nächtlichen Sitzungen wahren könnte. Möglicherweise ist aber genau eine solche Initiative notwendig, um das britische Drama zu einem halbwegs guten Ende zu führen.