Tristesse im Hinterzimmer der Macht
Moabit ist der Norden des früheren Bezirks Tiergarten. Seit der Zusammenlegung der Berliner Bezirke gehört es mit dem Wedding zu Berlin-Mitte. Es ist ein großer Stadtteil, ganz in der Nähe des Regierungsviertels, aber nur über Brücken erreichbar, weil Moabit durch Spree und Kanäle eingeschlossen ist. Wie eine kleine Stadt gibt es dort einen Hauptbahnhof (an dem jedoch keine Fernzüge halten), ein Rathaus (in dem freilich nach der Zusammenlegung der Bezirke nicht mehr regiert wird) und ein großes Gefängnis (in dem durchaus Gefangene einsitzen). Moabit ist das nahe, aber etwas schummerige Hinterzimmer der Macht.
Wer sich zu Fuß auf den Weg macht, sieht zuerst den Neubau des Lehrter Stadtbahnhofs. An der Ella-Trebe-Straße vorbei, unter der Bahn hindurch liegen die ersten Häuser. In den schlichten Bauten, die früher in unmittelbarer Nähe der Mauer standen, residiert jetzt die evangelische Berliner Stadtmission. Große „SM“-Plakate werben für deren „Zentrum Lehrter Straße“ als Anlaufstelle für Wohnungslose und ehemalige Strafgefangene; Bundespräsident Köhler hat die Organisation sogar in seiner Antrittsrede erwähnt.
Amerikanisches Lebensgefühl im Alcatraz
Man folgt lange der Lehrter Straße und biegt rechts in die Kruppstraße. An einer Schule vorbei trifft man auf das Alcatraz. „Nein“, sagt die Wirtin auf Nachfrage, mit der JVA habe der Name nichts zu tun: „Das ist doch eher das amerikanische Lebensgefühl.“ Die Gaststätte ist Vereinsheim, viele Pokale verweisen auf erfolgreiches Billardspiel, aber heute Abend sind nur wenig Gäste da. Die Wirtin gibt sich wortkarg, doch am Tresen sitzen zwei wissenschaftliche Mitarbeiter von der FDP. Stolz erzählen sie einander Geschichten davon, wie es ihnen doch noch gelang, „ihren Abgeordneten“ vom Jäger 90 zu überzeugen – oder so ähnlich. Am anderen Ende der Theke ist man über solche Lauthalsigkeit ein wenig pikiert. Die beiden werden an diesem Abend der einzige Hinweis auf das nahe Regierungsviertel bleiben.
Mazedonier trinken Apfelsaft
Die Wilsnacker Straße hinunter zur Perleberger Straße. Hier finden wir den Split-Grill, der haargenau so aussieht wie die jugoslawische Gaststätte, in die uns vor 30 Jahren unsere Eltern mitnahmen. Heute ist der Split-Grill merkwürdigerweise ein mazedonischer Treffpunkt. Im einzigen Gastraum sitzen Dutzende Männer an den Tischen. Sie trinken heiße Schokolade und Apfelsaft. Die Küche ist kalt und der Laden füllt sich mit den Männern, deren Schicht zu Ende ist. Es ist eine eigene Gesellschaft, deutsche Politik ist Wirt Yousef egal: „Vielleicht kann das Merkel als Frau genauso. Hauptsache es gibt Arbeit.“
Bei Heinrich sitzen an diesem Donnerstagabend nur vier Gäste. „Bekommst du deinen Freistrom immer noch aus der ersten Etage?“ ist das Thema. Peter ist hier der Coach: „Ich habe den Laden hier besetzt.“ Er kümmert sich. Gerd, „der alte Stasi-Ossi“, bekommt noch einen Schnaps. Martin und Tina sagen anderthalb Stunden gar nichts. Bekommen aber auch noch einen Schnaps. Peter unterstützt die CDU. Warum? „Weil die der kleinste aller Verbrecher ist.“ Im Übrigen schimpft Peter auf die Politik. Vielleicht nicht sehr substanziell, aber hier im Schultheiss-Eck hängen schließlich auch Sport- und nicht die Politikseiten der BZ aufgeschlagen über dem Pissoir.
In Hamburg bediente Volker Kiez-Größen
Drei Kilometer vom Bundeskanzleramt entfernt liegt eine Kneipe, die nach einer deutschen Brauerei benannt ist. Für einen originelleren Namen als Hasseröder-Stube haben offenbar die Kreativität und das Geld nicht gereicht. In der Bar herrscht Tristesse. An der Theke hängt ein Poster mit Papst Benedikt. „Hartz IV wirkt. Jetzt nehmen Deutsche sogar Polen-Jobs“, steht darauf geschrieben. Viktors drei Gäste würden in ihrem Zustand keinem mehr die Arbeitsstelle streitig machen. Die eine Hand am Bier, die andere hoch gereckt in der Luft stimmen sie lautstark in die Evergreens des Berliner Rundfunks ein.
In solchen Momenten ist Volker zufolge ein guter Barkeeper gefragt. Mit einem kräftigen „Ruhe“ ruft er den Chor der Betrunkenen zur Ordnung und gießt ihnen das nächste Pils ein. Der 47-Jährige ist eher Dirigent und Psychiater denn Wirt. In Hamburg bediente er Kiez-Größen, jetzt muss er sich in Moabit einem anderen Publikum stellen. Neben Ingenieuren und Angestellten zählen zu seinen Kunden Menschen, die mit dem Leben abgeschlossen haben. Arbeitslos, verlassen oder drogenabhängig. Jeder klagt ihm sein Leid. Volker bleibt nichts anderes übrig, als zuzuhören. Das gehört zu seinem Job. Und er beschwert sich auch nicht darüber.
Volkers Stärke ist, dass er in den Nachteilen immer auch Vorteile sieht. Auf seiner Zigarettenschachtel klebt der Spruch „Rauchen verhindert den vorzeitigen Samenerguss“. Nur von der Politik erhofft sich Volker gar nichts mehr. Der gebürtige Westfale würde jede Wette eingehen, dass es 2015 immer noch mehr als 3,5 Millionen Arbeitslose geben wird. Wie Gerhard Schröder vor sieben Jahren – nur umgekehrt.
Andi ist gebürtiger Moabiter. Seine Heimat hat er nur einmal verlassen. 1990 musste er als einer der ersten Berliner „Bundis“ ins Saarland. Damals war er Metzger. Nach BSE musste er umlernen, und jetzt arbeitet er als Maler: „Man muss ja flexibel bleiben.“ Im „Bau“ saß er nur 45 der 83 Tage ab, zu denen er veurteilt worden war. Über das Warum will er nicht groß reden. Nur dass er eine Tochter hat und keinen Unterhalt mehr zahlen wollte. Auf dem Hocker neben Andi sitzt Claudia und ruht mit ihrem Kopf auf dem Tresen. Mit ihr geht er gelegentlich ins Bett, was mitunter zu Problemen mit seiner Freundin führe. Andi sind die Große Koalition und Angela Merkel egal: „Hauptsache Hertha gewinnt und du hast auf dem Bau was zu tun.“
Der Glaube an die Macht ist verloren
Volker nippt noch einmal am Bier und kommt zu seinem Fazit: „Deutschland wird untergehen. Moabit bleibt stehen.“ Drei Kilometer nordwestlich vom Kanzleramt ist von irgendeinem neuen Aufbruch wenig zu spüren. Ost-Moabit mag das Hinterzimmer der Macht sein, aber den Glauben an genau diese Macht hat man hier längst verloren. Drei Kilometer südöstlich interessiert das vermutlich die wenigsten.
ALCATRAZ – Eckkneipe – Wilsnacker/Ecke Kruppstraße
SPLIT-GRILL – Mazedonische Teestube – Perleberger Straße 29
HASSERÖDER STUBE – Kneipe – Quitzowstraße 131
"BEI HEINRICH" SCHULTHEISS ECK – Kneipe – Rathenower Straße 49