Und der Zukunft zugewandt
Mit der Entscheidung, Neuwahlen herbeizuführen hat der Bundeskanzler die Machtfrage in Deutschland gestellt. Was zunächst wie ein tollkühner Schachzug des „Spielers“ Schröder aussah, entpuppt sich zunehmend als Bumerang. Alle „strategischen Hoffnungen“, die sich das Duo Schröder/Müntefering gemacht haben mag, mussten begraben werden. Die Kürze der Zeit bis zum Wahltermin hat weder den Zusammenschluss der pseudo-linken „Linkspartei“ verhindert, noch die Union über die K-Frage stolpern lassen. Auch das Gespenst der schwarzen Republik scheint seinen Gruselwert verloren zu haben. Bleibt die Frage: Was ist der Mehrwert einer vorgezogenen Bundestagswahl für Deutschland und worin besteht der Mehrwert für die SPD?
Was zum Beispiel ändert sich nach einem unterstellten Sieg von Rot-Grün an den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat? Trotz aller bemühten Erklärungen, mit einem Wahlsieg könne man die CDU stellen, man hätte also wieder ein klares Votum, fragen sich die Bürger natürlich: Wie kann denn das sein? An den Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat ändert sich doch nichts. Eben darin liegt die Krux. Man kann gar nicht um so viele Ecken denken, um den Sinn dieses Manövers zu verstehen. Schon gar nicht kann man von den Wählern erwarten, dass sie sich noch einmal vier Jahre Stellungskrieg zwischen Bundesrat und Bundestagsmehrheit wünschen sollen. Sie wollen eine Regierung, die sich ins Zeug legt und sich um die Lösung ihrer Probleme kümmert und einfach gute Arbeit liefert. Simply getting things done! Das Überhöhen von Regierungsmehrheiten als „Projekt“ ist da eher Wunschtraum einiger weniger.
Die Niederlagen der SPD in den vergangenen Jahren erklären sich vor allem aus zwei Fehlern; sollte die Sozialdemokratie aus diesen lernen, dann können wir hoffen:
Erstens gab es weder 1998 noch 2002 (spätestens da hätte es jeder wissen müssen) eine ehrliche Analyse der ökonomischen Situation Deutschlands. Wer aber vor der Wahl nicht klar macht, vor welchen Herausforderungen dieses Land steht, der kann nicht erwarten, nach der Wahl mit seinen Antworten Zustimmung geschweige denn Euphorie erzeugen zu können. Die Agenda 2010 kam somit zu spät und griff zu kurz. Eine wirkliche Veränderung der wirtschaftlichen Situation bräuchte Zeit. Die haben wir nun nicht mehr, und die Befürchtung liegt nahe, dass die Union bei einem Wahlsieg die Früchte sozialdemokratischer Arbeit erntet.
Weit nach links, wo die Mehrheit nicht ist?
Damit nicht genug – die SPD steht in der Gefahr, weit nach links zu rücken und sich vom bisherigen Reformkurs zu distanzieren. Das hätte die fatale Folge, dass die CDU das wirtschaftspolitische Spielfeld vollends für sich vereinnahmen könnte. Für die Wähler entscheidend ist aber eine plausible Antwort auf die Frage nach Arbeit. Wer hier die größte Kompetenz aufzuweisen hat, gewinnt auch langfristig die Unterstützung der Bevölkerung. Die Höhe der Sozialtransferleistungen ist das eine, die wichtigste Frage jedoch ist die nach erfüllter Arbeit, nach einem Platz in der Gesellschaft. Viele Menschen (gerade im Osten) arbeiten für prekäre Löhne, die unterhalb der Transfereinkommen liegen. Friseurinnen und Friseure erhalten in Thüringen je nach Betriebszugehörigkeit Stundenlöhne von 3,18 beziehungsweise 3,81 Euro, wie das Bundeswirtschaftsministerium bei einer Verbandsabfrage in Erfahrung brachte. Dass Menschen für diese Gehälter dennoch Tag für Tag zum Dienst erscheinen, macht die Bedeutung von Arbeit für die gesellschaftliche Inklusion deutlich. Wer hierauf keine Antworten gibt, vergibt seine Mehrheitsfähigkeit.
Die Zukunft lässt sich nicht verbieten
Zweitens: Wer die Zukunft gestalten will, darf weder Angst vor ihr haben, noch sollte er versuchen, sie zu verbieten. Doch auf vielen Politikfeldern gelang es der SPD nicht, sich eine zukunftsoptimistische Perspektive zu erarbeiten. Wer selbst skeptisch ist und angstvoll in die Zukunft schaut, für den ist in dieser Partei kein Platz. Sämtliche Innovationsoffensiven nützen nichts, wenn die „wachstumsskeptisch“ sozialisierten sozialdemokratischen Eliten die Erfolge konterkarieren, die die Bundesbildungsministerin durchaus zu verzeichnen hat. Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen:
- Solange das medizinische Potenzial der Stammzellforschung mit adulten und embryonalen Stammzellen noch nicht hinreichend ausgelotet ist und somit Chancen bestehen, damit bislang unheilbare Krankheiten zu bekämpfen, sollte diese Forschungsmethode nicht ungenutzt bleiben. Wer dies trotzdem ablehnt, muss die Konsequenzen bedenken, sollte ein anderer Staat dank der Stammzellforschung eine Therapie gegen eine unheilbare Krankheit entwickeln.
- Auf dem ethisch weniger komplexen Feld der Verkehrspolitik ist allen Wirtschaftssubjekten klar, dass eine leistungsfähige Infrastruktur die Voraussetzung für einen effizienten Transport von Waren und die Mobilität von Menschen ist. Doch wer sieht, wie lange in Deutschland der Bau von Straßen und Schienen dauert, der bekommt Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des Landes. Von denjenigen aber, die Verkehr für ein Grundübel moderner Volkswirtschaften halten, sind keine schnelleren Bewilligungs- und Planungsverfahren zu erwarten. Statt exemplarisch den Geltungsbereich effizienteren Planens von Verkehrswegen in den neuen Bundesländern auch auf die alten Länder auszudehnen, planen und prozessieren wir weiter munter vor uns hin.
Die Vielzahl der Themen wie Gentechnik und Verkehrspolitik, die Sozialdemokraten insbesondere der älteren Jahrgänge für randständig halten, lässt in der Wählerschaft das Gefühl entstehen, dass der Sozialdemokratie insgesamt die Zukunft suspekt sei. Somit stellt sich die Frage, wie die SPD in der Bundesrepublik wählbar und nützlich für unser Land bleibt. Während die CDU sich über den Wirklichkeitsgehalt ihres Wahlprogramms streitet und sich auf die Machtübernahme vorbereitet, kämpft die SPD ums Überleben. Sie läuft dabei Gefahr, den Populisten vom linken Rand nach dem Munde zu reden, um deren Aufstieg zu verhindern.
Wie man sich unwählbar macht
Jedem Recht zu geben und immer Gutmensch zu sein – das mag glücklich machen, aber nicht regierungsfähig. Es ist eben bequemer, über die vermeintlich richtige Politik zu reden, als sie dann tatsächlich zu gestalten. Die SPD stünde mit diesem Kurs in der Gefahr, die tragenden Säulen der Leistungsträger in der Gesellschaft zu verprellen und auf Dauer im 30-Prozent-Turm sitzen zu bleiben. Wie das aussieht und wohin das führt kann man exemplarisch an der bayerischen SPD betrachten. Nur noch Randgruppen haben dort – ob als Mitglieder oder Abgeordnete – eine Chance, innerhalb der SPD mehrheitsfähig zu sein. Die Folge dieser Isolierung des Personals: Für breite Schichten ist die Partei nicht wählbar.
Im Osten wird die so genannte Linkspartei aus WASG und PDS neben der Stammwählerschaft hauptsächlich Unzufriedene und Nichtwähler ansprechen. Es zeichnet sich ab, dass nicht nur durch die angekündigte Unterwanderung der Linkspartei durch Rechtsradikale ein Sammelbecken der Destruktiven entsteht. Wenn nun die SPD ihrerseits versuchen würde, vermutete Verluste am linken Rand durch das Versprechen von Vermögenssteuer und „milliardenschweren Investitionsprogrammen“ zu verhindern, setzte sie damit ihre Regierungsfähigkeit aufs Spiel.
Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit
Bei verschiedenen Untersuchungen der zugeschriebenen Parteienkompetenz liegt die SPD in der Bildungs- und Sozialpolitik immer noch vor der Union. Mit Forderungen, die dem bisherigen Kurs zuwiderlaufen, verliert die SPD ihre Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit. Diese beiden Punkte sind aber für die Wahlentscheidung vieler Menschen entscheidende Kriterien. Die SPD hat, wenn auch widerwillig, den Kurs dieser Regierung unterstützt und dies auch auf Parteitagen dokumentiert. Sie hat dafür Prügel bezogen und Landtagswahlen verloren. Warum sollen uns die Menschen weiterhin unterstützen, die uns durch diese Niederlagen getragen haben, wenn wir unseren Kurs jetzt um 180 Grad ändern? Und jene, die wir verloren haben, werden wegen dieses Wendemanövers nicht zurückkehren. Selbstverständlich sind Korrekturen an einzelnen Gesetzen nötig. Dies war auch – beispielsweise mit den angekündigten Revisionsterminen bei Hartz IV – von vornherein stets vorgesehen. Grundsätzlich aber ist der eingeschlagene Weg richtig und muss weitergegangen werden. Dass er mit der vorgezogenen Bundestagswahl zur Abstimmung steht, ist die einzig logische Begründung für den Coup des Kanzlers. Einen Mehrwert für Land und Partei bedeutet das leider nicht.
Dabei steht auch ein Generationswechsel in der SPD an: in der Bundestagsfraktion, in Präsidium und Parteivorstand. In den Landesverbänden ist dieser Prozess teilweise schon eingeleitet. Er muss die ganze Partei erfassen, von unten nach oben, von rechts bis links. Nicht weil wir „jetzt mal dran“ wären oder die älteren Kollegen einfach schon „zu lange dabei“. Sondern weil es um die Zukunftsfragen unserer Gesellschaft und unseres Landes geht. In unserer vom demografischen Wandel erfassten Bundesrepublik steht die mittel- und langfristige Überlebensfähigkeit auf dem Spiel. Dies mag pathetisch klingen, aber auch nur, weil wir darum so viele Worte machen müssen – weil es bei uns immer noch nicht nur ein Umsetzungs-, sondern auch ein Erkenntnisproblem gibt.
Matthias Platzeck hat es vorgemacht
Die jüngeren Leistungsträger erwarten zukunftsgerechte Antworten. Und zwar Antworten, die ihnen und ihrer Zukunft gerecht werden. Die in diesem Zusammenhang immer wieder unterstellte Ausgrenzung der Älteren steht dabei gar nicht zur Debatte. Denn gerade auch den Älteren ist es nicht egal, ob ihre Kinder oder Enkel noch die gleiche Chance (wenn man nur den westdeutschen Kontext berücksichtigt) auf Bildung und Wohlstand haben werden, die sie selbst einmal hatten. Dass dafür Veränderungen notwendig sind, haben auch sie längst eingesehen.
Gefragt ist jetzt politischer Mut. Matthias Platzeck hat im brandenburgischen Wahlkampf gezeigt, dass man Menschen und Wahlen gewinnen kann, wenn man glaubwürdig, aber entschieden für seine Ideen kämpft. Das müssen keine populären Strohfeuer sein, denn an die glaubt sowieso keiner mehr. Nein, Mut zur Wahrheit ist gefragt.