Und was tut die SPD für mich?
27,3 Prozent! Bei einer Europawahl! Ein besseres Ergebnis als 2014 hatte die SPD das letzte Mal vor 15 Jahren eingefahren. Überhaupt konnte die SPD in diesem Jahr erstmals bei einer Europawahl zulegen. Deshalb fühlen sich die 27 Prozent fast an wie ein Wahlsieg. Und in der Tat: Gegenüber der Bundestagswahl vom vergangenen Herbst konnte die SPD Stimmenanteile hinzugewinnen, auch ist der Abstand zur CDU/CSU nur noch halb so groß. Aber dennoch: Für eine Partei, die den Anspruch hat, Kanzlerpartei zu sein, ist das immer noch (zu) wenig.
Die Bundestagswahlen 2013 endeten für die SPD mit enttäuschenden 25,7 Prozent. Das war ein Zuwachs von knapp 3 Prozentpunkten, aber die SPD saß weiterhin tief unten im 20-Prozent-Sumpf. Die Union triumphierte mit über 40 Prozent der Stimmen, Grüne und Linkspartei erhielten jeweils weniger als 10 Prozent, die FDP stürzte unter die Fünf-Prozent-Hürde. Die anschließende Regierungsbildung dauerte eine halbe Ewigkeit, doch seit Dezember regiert die Große Koalition endlich. Man mag von ihrer Arbeit halten, was man will, aber die Regierung setzt das in die Tat um, was sie verabredet hat – sei es die Mütterrente, das Mindestlohngesetz, die so genannte Rente mit 63 oder mehr Geld für Bildung.
Stabile Stimmung wie nie zuvor
Doch im Vergleich zum Start aller anderen Bundesregierungen der vergangenen 20 Jahre verändert sich die politische Stimmung kaum. Bis zur Europawahl lag die CDU/CSU weiterhin bei 40 Prozent, die SPD bei um die 25 Prozent, Grüne und Linkspartei bei 10 Prozent, die FDP weiter unter 5 Prozent, einzig die AfD hatte zugelegt auf tendenziell über 5 Prozent. Diese Zahlen liegen gegenüber dem Bundestagswahlergebnis innerhalb der Schwankungsbreite der Meinungsforschung.
Die stabile politische Wetterlage ist relativ einzigartig und ein Novum in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik. Bisher hatte der „Honeymoon“ von Bundesregierungen meist nur ein paar Wochen angehalten. Denn allzu schnell mussten die Regierenden entweder erst in der Realität ankommen oder das Regieren lernen – und manchmal auch beides. Die Folgen waren interne Streitereien und ein schneller Absturz der Zustimmungswerte. Die letzte schwarz-gelbe Koalition hat sich von den Anfangsquerelen nicht mehr erholt und galt über die gesamte Wahlperiode hinweg als zerstritten und handlungsschwach.
Ganz anders im Jahr 2014. Zunächst einmal scheinen derzeit Profis am Werk zu sein, die das verwirklichen, was zuvor – teilweise bis ins kleinste Detail – verabredet wurde. Die stabile politische Stimmungslage ist aber auch ernüchternd, vor allem für die Sozialdemokraten. Denn ihre Zustimmungswerte stagnieren, obwohl sie exakt das tun, was sie vorher versprochen hatten.
Linksschwenk mit beschränkter Wirkung
Aber vielleicht liegt genau da das Problem. Vielleicht ist das Wahlprogramm von 2013 – auf das die SPD so stolz war – genau das: ein Programm für 25 Prozent der Wähler. Nicht mehr und nicht weniger. Und wenn es verwirklicht wird, befriedigt man gewiss die 25 Prozent, die einen gewählt haben, aber man erreicht noch lange keine neuen Wählerschichten. Nun mag eine Voraussetzung für neues Vertrauen darin liegen, dass man Versprochenes auch hält. Nur wird das allein nicht ausreichen, um von den verloren gegangenen zehn Millionen Wählern der vergangenen zehn Jahre einen großen Batzen zurückzuholen.
So hat die SPD in ihrer Oppositionszeit von 2009 bis 2013 einige inhaltliche Korrekturen vorgenommen, die vor allem als „Linksschwenk“ wahrgenommen wurden und auch so wahrgenommen werden sollten. Ein Blick auf die Wahlergebnisse dieser Jahre zeigt relativ klar, was dieser Kurs bewirkt hat. Grosso modo hat die SPD gut 10 Prozent ihrer verloren gegangenen Wähler zurückgeholt: etwas über eine Million von zehn. Dieser Trend zeigte sich nicht nur bei der Bundestagswahl 2013, sondern auch bei den meisten Landtagswahlen.
Die meisten der verlorenen „Schröder-Wähler“ sind auch mitnichten zur Linkspartei gewandert, sondern entweder zur CDU/CSU und FDP, oder sie verharren in der Wahlenthaltung und warten auf ein attraktives personelles und inhaltliches Angebot der Sozialdemokraten. Die Wahlen in Deutschland werden weiterhin in der Mitte gewonnen.
Deshalb ist es falsch zu glauben, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns der SPD elektoralen Auftrieb geben würde. Das Mindestlohngesetz ist gut. Es findet – trotz großem öffentlichen Gegenwind – breite Unterstützung in der Bevölkerung. Zustimmungswerte von 60 bis 80 Prozent können nicht viele politische Großprojekte für sich verbuchen. Gleichwohl ist der Mindestlohn für die meisten Deutschen (auch die SPD-Wähler) überhaupt nicht relevant. Für die Wahlentscheidung hat er kaum Bedeutung. Der Mindestlohn ist im Bereich von politischer Hygiene angekommen – man erwartet ihn schlicht und einfach, weil das doch eh klar ist. Wenn man so will, handelt es sich um ein „Sowieso-Gesetz“ – ein Gesetz, das sowieso kommen muss. Abgesehen davon, dass die Mehrheit der Deutschen die 8,50 Euro sogar tendenziell eher für zu niedrig hält.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Gesetz zur „Rente mit 63“. Auch dieses Vorhaben hat große Zustimmungswerte – weil die meisten Deutschen nun mal lieber kürzer als länger arbeiten wollen. Aber auch hier gilt: Die meisten Wähler haben verstanden, dass die Neuregelung für sie kaum Auswirkungen hat. Je nach Schätzungen werden ein paar zehn- oder hunderttausend Menschen in den Genuss eines früheren Renteneintritts kommen.
Gute Projekte, schwache Relevanz
Auch eine Reihe anderer Regierungsprojekte, die in erster Linie auf Druck der SPD angepackt werden, erfüllen die Kriterien der schwachen Relevanz. Alles keine falschen Pläne, alle mit relativ hohem Rückhalt in der Bevölkerung. Aber auf die Frage „Was bringt es mir?“ zucken die meisten dann mit den Achseln. Eine Frauenquote für Aufsichtsräte in Dax-Unternehmen? Kann nicht schaden, aber ändert das wirklich etwas? Sukzessiv-Adoption für Schwule und Lesben? OK, aber ist das wirklich ein Kernprojekt einer Regierung? Kurzum, aus der Addition von Minderheitenthemen wird noch keine Mehrheit.
Die Frage muss lauten: Welche Themen brennen der breiten Mitte in Deutschland auf den Nägeln – und hat die SPD glaubhafte Antworten darauf? Zunächst einmal – und das ist sicherlich keine Neuigkeit – sind die Deutschen keine Revolutionäre. Die stille Sehnsucht nach möglichst wenig Veränderung musste selbst Gerhard Schröder am Ende der bleiernen Kohl-Jahre mit dem Satz bedienen, „es wird nicht alles anders, aber vieles besser“.
Gerade die enormen ökonomischen Verwerfungen in Europa verstärken die Sehnsucht nach Ruhe – ist Deutschland doch so etwas wie die Insel der Glückseeligen in einem unruhigen Meer von Verschuldung, Massenarbeitslosigkeit und Zukunftsangst. Gleichwohl: Es gibt Themen, auf die die SPD Antworten braucht. Sie haben auch mit der guten wirtschaftlichen Situation Deutschlands zu tun. Es geht also darum, Ideen zu entwickeln, die die Leute nicht verschrecken und gleichzeitig das Leben vieler Menschen in den mittleren und unteren Etagen der Gesellschaft spürbar verbessern können.
Einer der wichtigsten Gründe, warum das größte Land Europas ökonomisch so gut dasteht, ist die Lohnzurückhaltung der vergangenen 15 Jahre. Sie hat die hohe Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands auf den Weltmärkten erst ermöglicht. Aber bei einem so langen Zeitraum hinterlassen stagnierende Löhne gerade bei den Beziehern von unteren und mittleren Einkommen tiefe Spuren. So können sich selbst Durchschnittsverdiener in den Innenstädten von München, oder mittlerweile selbst in Berlin, kaum noch eine Wohnung leisten. Welche Möglichkeiten gibt es also, die Einkommen besonders der unteren und mittleren Einkommensschichten zu steigern, wenn man sich nicht mehr auf die Stärke von Gewerkschaften und die Breitenwirkung von Tarifverträgen verlassen kann?
Im Bundestagswahlkampf hat die SPD noch mit Steuererhöhungen geworben – zwar hauptsächlich für die oberen Einkommensgruppen, aber das ist etwas untergegangen. Auch was die SPD mit dem Geld vorhatte, ist weitgehend im Nebel geblieben. Sinnvoller wäre angesichts der immer neuen Einnahmerekorde vielmehr ein neuer Ansatz: Entlastung der unteren und mittleren Einkommen – gerade um ihr verfügbares Einkommen zu erhöhen.
Es ist nur folgerichtig, dass Sigmar Gabriel das Ende der Steuererhöhungspolitik verkündete und die Bereitschaft zur Steuersenkung durch die Bekämpfung der „kalten Progression“ signalisierte. Die Kita-Gebührenfreiheit – im Wahlprogramm von 2013 bereits verankert – wäre ein echtes Entlastungspaket gerade für Familien aus der Mittelschicht und sollte ein echtes Kernprojekt der SPD sein. Eine Steuererhöhungspartei ist einfach nicht attraktiv für Leute, die den (nicht von der Hand zu weisenden) Eindruck haben, seit vielen Jahren keinen Einkommenszuwachs gehabt zu haben.
Diese Familien sind es auch, die Entlastung bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf suchen. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig hat zu Beginn dieses Jahres einen schlecht vorbereiteten, aber hoch interessanten Vorschlag gemacht. Mit einer Familienteilzeit sollen Eltern ihre Arbeitszeit auf 32 Stunden pro Woche senken können, während der Lohnausgleich zumindest teilweise über Steuermittel sichergestellt wird. Die Idee wurde zwar von der Kanzlerin schnell einkassiert, ein attraktives Angebot an junge Familien mit Kindern wäre die Familienteilzeit dennoch. Die finanzielle Unterstützung von Kindern aus einkommensschwachen Familien auf dem Weg zum Abitur – unter Helmut Schmidt und Willy Brandt als Schüler-Bafög gewährt – wäre es ebenfalls.
It’s still the economy, stupid!
Hinzu kommt eines der Megathemen dieser Zeit: die Rente. Dass die „Rente mit 67“ irgendwann doch noch ein Kassenschlager wird, erwartet sicherlich niemand; abgefunden haben sich die Deutschen mittlerweile aber doch damit. Auch versteht kaum jemand die Rentenformel in ihren Details. In der Summe haben die umfangreichen Diskussionen um die Demografie, die alternde Gesellschaft und das schwieriger zu finanzierende Rentensystem die Bevölkerung tief verunsichert, was die Stabilität der Alterssicherung und die Höhe des Lebensstandards in der Rente betrifft. Die Mini-Renditen bei den Lebensversicherungen haben dieser Unsicherheit einen weiteren Baustein hinzugefügt. Diese Unsicherheiten artikulieren sich politisch derzeit nur selten, zumal sie von den „Wohltaten“ der Großen Koalition für die derzeitige Rentnergeneration überschattet werden. Dennoch wird jede Partei in Deutschland Antworten auf die Fragen der mittleren Generationen nach ihrem Lebensstandard im Alter haben müssen.
Wenn die SPD wieder Kanzlerpartei werden will, braucht sie ein Programm, das sie deutlich über die jüngsten Wahlergebnisse hinausbringt. Dafür wird sie die sozialdemokratische Kernwählerschaft mit der breiten Mitte der deutschen Gesellschaft verbinden müssen. Eine Chance wird die SPD dabei nur bekommen, wenn ihr kluge Antworten auf ganz weltliche Fragen einfallen.
Anders gesagt: It’s the economy, stupid! Es geht darum, unseren wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern und dafür zu sorgen, dass mehr Menschen davon profitieren. Sozialdemokraten sind dann Wählermagneten, wenn sie soziales Engagement, Aufstiegsversprechen und moderne Gesellschaftspolitik mit ökonomischem Sachverstand verbinden. Wenn die Leute auf die Frage „Und was tun die Sozialdemokraten für mich?“ eine einfache Antwort haben, dann wird sich ein Wahlergebnis auch wieder wie ein richtiger Sieg anfühlen können.