Vita activa: Welche Reformpolitik braucht die Berliner Republik?



Bei der Veränderung der wirtschafts- und sozialpolitischen Grundlagen unserer Gesellschaft geht es um nicht weniger als um die Zukunft der sozialen Demokratie in Deutschland. Die Akzeptanz des politischen Systems hängt nicht zuletzt davon ab, ob es auch zukünftig gelingt, genug Arbeitsplätze zu schaffen und soziale Sicherheit zu ermöglichen. Im Vergleich mit den besseren Ergebnissen in anderen Ländern wurde der Bundesrepublik über viele Jahre hinweg eine fehlende wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik attestiert – auf den Begriff gebracht in der Rede vom „Reformstau“. Mittlerweile ist das Gegenteil der Fall. Die Reformen und deren Wirkungen sind kaum noch überschaubar. Immer mehr Menschen sind diese Projekte mittlerweile zu weitreichend, zu ungerecht, zu wenig transparent oder einfach zu kompliziert. Obwohl viel bewegt wird, sind die Reformer scheinbar ebenso unbeliebt wie ihre Projekte „Es ist uns nicht gelungen, unsere Reformpolitik dem Wähler zu vermitteln“ – dieser oft gehörte Satz spiegelt nicht nur die Hilf- und Sprachlosigkeit vieler Akteure wider, die für den Reformprozess verantwortlich gemacht werden. Er offenbart auch inhaltliche Defizite, die diese Vermittlungsmisere ermöglichen.

Denn bei allen Klagen über die Schwierigkeiten von Reformen darf der Überblick nicht verloren gehen, dürfen die Grundfragen nicht vergessen werden. Worum geht es bei den Reformprozessen? Wer sind die Gewinner? Wer sind die Verlierer? Was wird getan, um die Verlierer zu integrieren und zu beteiligen? Welche Leistungen müssen jene erbringen, die für sich in Anspruch nehmen, glaubhafte Reformakteure zu sein? Und wie lassen sich aus dem Spannungsbogen zwischen Altem und Neuem schlüssige Konzepte machen?

Reform als politisches Prinzip

Die „Reform als politisches Prinzip“ beschrieb der Politikwissenschaftler Christian Graf von Krockow in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts: „Es ist die Methode des verantwortlichen Handelns, die das Verändern mit dem Bewahren verbindet und dabei das Risiko mindert. ... Denn reformieren heißt, Bestehendes so zu verändern, dass es neuen Verhältnissen, gewandelten Anforderungen gerecht werden – und eben damit bewahrt werden kann. Im Gegensatz zum großen Schlag, zum Würfeln um Alles oder Nichts, meinen Reformen außerdem das behutsame Vorgehen Schritt um Schritt“ (Reform als politisches Prinzip, München 1976, S. 59 ff.). Ausgehend von diesen Überlegungen formulierte Krockow drei Prinzipien für eine erfolgreiche Reformpolitik:

Erstens, das Prinzip der Verständlichkeit. Damit meinte er nicht nur die sprachliche Seite, sondern auch die notwendige inhaltliche Struktur eines Reformprojektes: nicht zu komplex und zeitlich nachvollziehbar. Zweitens geht es um eindeutige Prioritäten: Man kann nicht alle Ziele gleichzeitig verfolgen; wer zuviel gleichzeitig will oder gar alles, der wird am Ende nichtsbekommen. Drittens schließlich geht es um Aufrichtigkeit und Fairness. Reformen nach dem Motto The winner takes it all sind unsozial und werden als gesellschaftlich vorwärts weisende Projekte nicht akzeptiert. Reformen dürfen nicht zu Lasten der Schwachen, der Engagierten und der Motivierten gehen. Sie müssen vielmehr dazu beitragen, dass die Zahl der Engagierten größer wird, dass Integration, Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit bessere Chance haben.

Aus der aufgeklärten Perspektive des 21. Jahrhunderts wissen wir natürlich, dass alle politischen Projekte nicht intendierte Folgen haben. Auch darauf sollte sich Reformpolitik einstellen. Sie muss davon ausgehen, dass Reformen zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Konstellationen und auf unterschiedliche Gruppen divergierende Wirkungen haben oder haben können. Insofern müssen auch systemverändernde Eingriffe dem Prinzip der evolutionären Stückwerkarbeit folgen, wenn sie nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt sein sollen.

Im Kern ist die deutsche Gesellschaft eine Erwerbsarbeitsgesellschaft und somit davon abhängig, dass die Wirtschaft wächst und die soziale Integration funktioniert. Solange eine gesellschaftliche Befreiung von der Erwerbsarbeit nicht bevorsteht und andere vergleichbar leistungsfähige Integrationsformen nicht absehbar sind, gilt das 1958 formulierte Diktum von Hannah Arendt auch für die weitere Entwicklung der bundesdeutschen Gesellschaft: „Die Erfüllung des uralten Traums (der Befreiung von der Arbeit, W.S.) trifft in der Erfüllung von Märchenwünschen auf eine Konstellation, in der der erträumte Segen sich als Fluch auswirkt. Das ist ja eine Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der Arbeit befreit werden soll, und diese Gesellschaft kennt kaum vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten um derentwillen sich die Befreiung lohnen wird. ... Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“ (Vita Activa oder vom tätigen Leben, München 1981, zuerst Chicago 1958). Um zu verhindern, dass der Erwerbsgesellschaft die Arbeit ausgeht, müssen eindeutige Prioritäten gesetzt werden:

Erstens, die Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Dynamik des deutschen Modells hoch qualitativer und diversifizierter Massenproduktion. Deutschlands ökonomische Stärke basiert nach wie vor auf seiner starken industriellen und exportorientierten Position. Der Übergang zur Wissensgesellschaft kann also nicht über die Liquidierung der industriellen Basis verlaufen, sondern diese muss stärker mit dienst- und wissensorientierten Elementen verknüpft werden. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung liegen mit 2,2 Prozent des deutschen Inlandsprodukts jedoch nur bei der Hälfte dessen, was erfolgreiche Länder wie Schweden oder Finnland dafür investieren. Weniger als 5 Prozent der Staatsausgaben werden in Deutschland für Investitionen in das Humankapital verwendet. Da die Arbeitsplätze von morgen das Resultat der Forschung und Entwicklung von heute sind, bedarf es einer eindeutigen finanzpolitischen Prioritätensetzung in Richtung forschungs- und wissensbasierter Modernisierung. Die historische Schwäche der deutschen Wirtschaft liegt in ihrer Unfähigkeit, sich schnell und stark in neuen Branchen zu verankern. Beunruhigend wirkt in diesem Zusammenhang auch die defizitäre Zahlungsbilanz bei technologischen Dienstleitungen: Inzwischen kaufen wir Technologien im großen Stil ein, anstatt sie selbst an andere zu verkaufen. Der Strukturwandel hin zu wissensbasierten Industrien verläuft in den meisten Regionen nur im Schneckentempo.

Arbeit und Würde gehören immer zusammen

Zweitens, die integrative Perspektive der Arbeitsgesellschaft muss erhöht werden. Wenn es zutreffend ist, dass Arbeit auch in Zukunft die zentrale Instanz gesellschaftlicher Integration ist, dann weist Hartz IV in die richtige Richtung. Damit ist dieses Projekt aber noch lange nicht erfolgreich. Die monetären Transferleistungen im Falle von Arbeitslosigkeit sind eindeutig zu gering, der Zwang zur Arbeitsaufnahme in jedweder Form zu hoch und die Möglichkeiten zur qualitativen Integration zu niedrig. Will man also Hartz IV zu einem Erfolg machen, dann müssen deutlich zielgenauere Anstrengungen unternommen werden, um besonders den jüngeren Arbeitnehmern bis 25 Jahren und den älteren Arbeitnehmern ab 55 bessere Integrationschancen zu eröffnen. Vor allem in Regionen, in denen eine Vermittlung aufgrund fehlender Arbeitsplätze kaum gelingen wird, muss ein Sektor öffentlich geförderter Beschäftigung aufgebaut und eng mit Qualifikationsmaßnahmen verkoppelt werden. Dabei ist daran zu erinnern, dass Arbeit und Würde immer zusammen gedacht werden müssen: Die Menschen sollten auf der Grundlage von Qualifikationen in die Lage versetzt werden, ihr Leben selbst zu gestalten. Es geht allerdings nicht einfach um mehr Arbeitsplätze, sondern immer auch um bessere Arbeitsplätze und um gute Arbeit.

Die Spaltung der Gesellschaft verhindern

Drittens, die auf die Erwerbsarbeit bezogene Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme muss relativiert werden. Die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland bauen auf erwerbsbezogenen Beiträgen auf. Durch den Strukturwandel des Arbeitsmarktes, der sich in einer Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und in atypischen Erwerbsbiografien ausdrückt, ist die Finanzierungsbasis dieser Sicherungssysteme enorm geschwächt. Ähnliche Wirkungen gehen von einer starken Lohndifferenzierung zugunsten der besser Verdienenden und einer Schwächung der unteren und mittleren Einkommen aus. Hinzu kommen die Verschiebung hin zu Einnahmen jenseits der Erwerbsarbeit, die zunehmende Zahl von Scheinselbständigen und die spezifischen Wirkungen des demografischen Wandels. Angesichts dessen ist eine solide Finanzierung der Kranken- und Rentenversicherung auf eine Ausdehnung der Gruppen der Beitragszahler angewiesen, um eine weitere Spaltung der Gesellschaft zu verhindern und sozialstaatliche Mindeststandards zu garantieren, die maßgeblich zur Lebensstandardsicherung jenseits der Erwerbsarbeit beitragen können.

Mit dem Projekt der Bürgerversicherung ist ein Ziel markiert, dass den deutschen Sozialstaat unabhängiger von den strukturellen Veränderungen des Arbeitsmarktes macht und in diesem Sinne nachhaltige Finanzierung sowie die Beteiligung aller Menschen am medizinisch-technischen Fortschritt ermöglichenkann. Auch für die Rentenversicherung sind neue Überlegungen notwendig, um die finanzielle Basis langfristig abzusichern. Dabei wird darauf zu achten sein, dass die erste Säule (also die staatlich organisierte Rentenversicherung) den maßgeblichen Beitrag zur Lebensstandardsicherung leistet und gleichzeitig die betriebliche Alterssicherung vor der dritten Säule (der privaten Alterssicherung) gefördert wird.

Ohne Reformen wird es nicht gehen

Ohne Reformen wird dieses Land nicht in der Lage sein, seine arbeitsgesellschaftlichen Strukturen auf die Höhe der Zeit zu bringen. Dafür sollten die Stärken des deutschen Modells gepflegt und weiterentwickelt werden. Zu ihnen zählen das Modell der Mitbestimmung und die Tarifautonomie. Beides zusammen hat nicht nur in Zeiten der Stabilität einen verlässlichen Rahmen gebildet, sondern gerade auch in den letzten Jahren einen flexiblen Rahmen für die Bewältigung der veränderten Herausforderungen geboten. Ohne die Mitbestimmung wären Krisen wie derzeit bei Karstadt und Opel mit ganz anderen, viel eruptiveren Auseinandersetzungen verbunden. Ohne die Mitbestimmung und starke Gewerkschaften gäbe es weder flächendeckende Qualitäts- und Innovationsorientierung noch sozialen Frieden. Die Stärken müssen also gepflegt und die Schwächen mit größerer Konsequenz angegangen werden. Die Orientierung gegenüber der Integrationspolitik, wie sie in Hartz IV entwickelt worden ist, kann dazu ein Beitrag sein. Allerdings sind hierfür einige Korrekturen notwendig, weil dieses Projekt sonst mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen kann. Und den Reformern sollte immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden: Verständlichkeit, Prioritäten und Fairness sind die Essenzen, aus denen jede gute Reformperspektive besteht.

Die Zeitschrift Berliner Republik hat in den vergangenen fünf Jahren einen wichtigen Beitrag in der Debatte um die Neujustierung des deutschen Modells geleistet. Sie hat Kontroversen angeregt, um neue Perspektiven zu finden. Die Berliner Republik ist ein lebendiger Katalysator in der intellektuellen und politisch strategischen Debatte um die Neuausrichtung des deutschen Modells im Kontext der Europäisierung. Sie hat sich in kurzer Zeit als verlässlicher Gesprächspartner für die Reformpolitik in Deutschland etabliert. Und besonders klar ist: Die Zeitschrift Berliner Republik ist in der Reformarbeit weiter als die Berliner Republik. Und das sollte auch so bleiben.

zurück zur Ausgabe