Was ist heute sozialdemokratisch?

Das deutlich angeschlagene Ansehen der SPD hat auch mit ihren programmatischen Unschärfen zu tun. Die Partei täte gut daran, ihr normatives Setting neu zu justieren

Historiker, die im Jahr 2038 die deutsche Sozialdemokratie anlässlich ihres 175-jährigen Bestehens in einer Festschrift würdigen, werden ein erstaunliches Phänomen erklären müssen. Während in den ersten 140 Jahren ihrer Geschichte politische Repression die Partei nicht zu brechen vermochte, ökonomische und gesellschaftliche Veränderungen zwar zu heftigen politischen Verwerfungen und internen Auseinandersetzungen führten, aber die Partei sich stets zu erneuern verstand, fiel die SPD anlässlich einer historisch betrachtet eher marginalen Herausforderung plötzlich in eine tiefe Sinnkrise. Aus dieser hat sie bis heute nicht herausgefunden. Die Rede ist von „Hartz IV“, einer im zeitgemäßen europäischen Kontext nicht sonderlich einschneidenden sozialpolitischen Umstrukturierung. Trotzdem hat sie die deutsche Sozialdemokratie aus dem Tritt gebracht.

Seitdem strauchelt die SPD erkennbar, zerreibt sich sowohl in der Großen Koalition als auch in der Opposition und hat dabei vier Parteivorsitzende innerhalb weniger Jahre verschlissen. Der fünfte erweist sich einstweilen noch als resistent genug, den Anfeindungen von innen zu widerstehen – wohl auch, weil ein sechster oder eine sechste nicht in Sicht ist. Die Partei dümpelt seit Jahren bei 25 Prozent, sie ist weit entfernt von jener Einheit von Programm, Person und Performanz, die für Wahlerfolge unabdingbar ist. Ihr Ruf als eine der beiden deutschen Volksparteien steht infrage, was für sie umso schmerzhafter ist, als die andere große Partei diese Rolle in einer geradezu präpotenten Weise ausfüllt.

Dieser Umstand deutet eher auf eigenes politisches Versagen als auf einen strukturellen Wandel des Parteiensystems hin. Gerne wird entschuldigend auf den Kanzlerinnenbonus verwiesen, doch Angela Merkel ist nicht das Problem der SPD. Sowohl Frank-Walter Steinmeier als auch Peer Steinbrück waren der Kanzlerin persönlich wie politisch ebenbürtig. Vielmehr ist der Sozialdemokratie die Gewissheit darüber abhandengekommen, was das genuin Sozialdemokratische an ihr ausmacht, worin also auf dem Markt der Parteien ihr unique selling point besteht. Fraglich ist, woraus die SPD angesichts einer rasant nachlassenden gesellschaftlichen Resonanz die Zuversicht schöpfen soll, das Richtige zu tun – wo doch kaum ein Reformvorhaben ohne innerparteiliche Widerrede über die Bühne geht und mit der Linkspartei eine Konkurrentin existiert, die beansprucht, die wahre Sozialdemokratie zu verkörpern.

Was meinen Sozialdemokraten, wenn sie von sozialer Gerechtigkeit sprechen?

Hartz IV war der Kumulationspunkt eines Prozesses, der lange zuvor eingesetzt hatte und auch heute noch nicht beendet ist. Mit Hartz IV wurde offensichtlich, dass die programmatische Orientierung der Partei mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland nicht mehr in einer Weise in Einklang gebracht werden kann, die eine kohärente Politik begründen würde. Seitdem lebt die SPD mit (und leidet an) der Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit und den tatsächlichen politischen Steuerungsmöglichkeiten. Zugleich streitet sie über das Maß ihrer eigenen Steuerungsfähigkeit, das wiederum von ihrer Mehrheitsfähigkeit abhängt.

Dass diese Quadratur des sozialdemokratischen Kreises nicht mehr gelingen will, schreiben viele in der Partei einer kompromisslerischen Praxis zu, in welcher die normative Orientierung auf eine gerechte Gesellschaft nicht mehr erkennbar sei. In einer konsequenten Rückbesinnung auf die eigenen Werte sehen sie die sicherste Garantie für einen erhöhten Zuspruch der Wählerschaft. Nun ist es zwar richtig, dass soziale Gerechtigkeit beim Wähler nach wie vor hoch im Kurs steht, allerdings wird sie für dessen Wahlentscheidung erst relevant, wenn er erfährt, was er darunter zu verstehen hat: Welche realistische Idee von Gesellschaft verfolgt die Sozialdemokratie überhaupt, wenn sie diese Chiffre im Munde führt?

Das ist keineswegs offensichtlich. Denn die vernunftgeleitete Orientierung an deontologischen Konzepten sozialer Gerechtigkeit, so ziseliert sie in ihren Begründungen sind, weist eine gewisse Blindheit gegenüber den Widrigkeiten der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf, mit denen sie korrespondiert. Augenscheinlich setzt sich nicht diejenige Konzeption durch, die dem normativen Ideal am nächsten kommt und doch eigentlich die größte Zahl der vernunftgeleiteten Bürger hinter sich vereinten müsste. Tatsächlich scheinen Gerechtigkeitsvorstellungen nur noch bedingt wirkmächtige Größen gesellschaftlichen Handelns zu sein. Die aktuellen Profilierungen der Parteien zeigen, dass sie kaum noch zum Merkmal ihrer Unterscheidung taugen. Zumal sie nicht nur schwer zu realisieren sind, sondern bisweilen auch unklar ist, in welchem Ordnungsrahmen sie welches Maß an Gültigkeit besitzen und mit welchen anderen Werten sie konkurrieren.

Vom Ideal »ihrer« Ära Brandt zehrt die deutsche Sozialdemokratie noch heute

Soziale Gerechtigkeit als Identitätskern der Sozialdemokratie ist keine sich selbst erklärende Größe. Aussagekraft gewinnt sie erst in der Vorstellung einer guten Gesellschaft, die sie bewirken will, die aber auch gleichermaßen eine Voraussetzung ihrer Hervorbringung ist. „Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen“, schrieb Karl Marx. Die Sozialdemokratie ist daher gut beraten, nicht nur ihre Praxis der vergangenen Jahre, sondern auch ihr normatives Setting einer kritischen Prüfung zu unterziehen, soll es nicht zu einem leeren Ethos verkommen.

Die Fallhöhe der sozialdemokratischen Misere bemisst sich noch immer am Ideal der Regierungszeit Willy Brandts, der eine später nicht mehr erreichte Einheit von sozialer Programmatik und reformerischer Performanz verkörperte und für einen ungeahnten Zustrom an Wählern und Mitgliedern sorgte. Die Partei war damals noch stark von einem geschichtsphilosophischen Fortschrittsbewusstsein geprägt, aber deontologische Gerechtigkeitsnormen gewannen an Bedeutung. Nicht zufällig formulierte in dieser Zeit John Rawls seine Theory of Justice (1971), die wohl am weitesten entwickelte Vorstellung einer gleichermaßen sozialen wie liberalen Gerechtigkeit. Sie entsprach auf geradezu perfekte Weise den sozioökonomischen und politischen Gegebenheiten. Dies betrifft sowohl die Vorstellung gerechter Güterverteilung, also dem nicht nur formalen, sondern realen, chancengerechten Zugang zu Ämtern und Positionen, und das Differenzprinzip. Ungleichheit ist diesem Prinzip folgend dann gerechtfertigt, wenn sie dem am schlechtesten Gestellten der Gesellschaft mehr zugutekommt, als dies bei einer Gleichverteilung der Fall wäre. Dieses Prinzip war nur dynamisch zu verstehen und implizierte Zweierlei: ein Mehr an Gütern und einen Modus ihrer Verteilung, wobei der Güterzuwachs vorrangig ist.

Um zu diesen Gerechtigkeitsgrundsätzen zu kommen, ließ Rawls die Bürgerinnen und Bürger in einer idealen Beratungssituation hinter einen „Schleier der Unwissenheit“ treten. Die Unkenntnis des eigenen Status in der Gesellschaft würde das gerechte Ergebnis der Beratung garantieren. Die naheliegende Frage, was die Bürger bewegen sollte, freiwillig hinter diesen Schleier zu treten, lässt sich nur mit der Unterstellung eines verbindenden gesellschaftlichen Vertrauens, mit der geteilten Vorstellung eines guten Lebens beantworten. Das Differenzprinzip setzt zumindest voraus, dass das wirtschaftliche Mehrprodukt nicht mehr Gegenstand eines Klassenkampfes ist, sondern nach vernunftgeleiteten Regeln verteilt wird.

John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie fand in geradezu idealtypischer Weise ihre Entsprechung in den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen ihrer Zeit. Es war der Höhepunkt einer langen Phase wachsender Prosperität, die in Deutschland durch die fortschreitende Einbindung armer agrarischer Schichten und Vertriebener in einen industriegesellschaftlichen Korporatismus gekennzeichnet war. Die damit wachsende private Nachfrage war der Stimulus steigender Produktivität. Damit einher ging die Ausweitung staatlicher Daseinsvorsorge und Fürsorge. Die hohe Kohäsion einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“, die sich wirtschaftlich als Zugewinngemeinschaft verstand und von einem materiellen und rechtlichen Fortschrittsoptimismus sowie einem gestaltungsmächtigen Staat getragen wurde, stellten die passende Einbettung dieser Gerechtigkeitsvorstellung dar.

Von diesem Ideal „ihres“ Jahrzehnts zehrt die Erzählung der Sozialdemokratie bis heute, für nicht wenige ist sie nach wie vor Messlatte guter Politik. Doch diese Zeiten eines staatlich orchestrierten Gleichklangs von normativer Orientierung, ökonomischem und gesellschaftlichem Nutzen, eines korporativen Kapitalismus, der in ein relativ homogenes Sozialgefüge eingebettet ist, sind unwiederbringlich passé, zerfallen in Sphären eigener Handlungslogiken und damit je eigener Gerechtigkeiten.

Überanpassung an den liberalen Zeitgeist

Seit den achtziger Jahren sind die ökonomischen und gesellschaftlichen Fundamente dieses Ideals erodiert. Ausgelöst durch das Versagen des keynesianischen Modells in den siebziger Jahren, schwenkte die Wirtschaftspolitik über zur Angebotsorientierung. Die Europäisierung und Globalisierung der Ökonomie, das Aufwachsen des Finanzkapitals zum dominierenden Faktor dieser Ökonomie und schließlich die anschwellende Schuldenfinanzierung des Staatshaushalts korrespondierten mit der Deregulierung der Arbeitsverhältnisse, der Privatisierung von Einrichtungen staatlicher Daseinsvorsorge und einem Rückbau der extensiv angewachsenen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, der durch eine Stärkung privater Vorsorge kompensiert werden sollte, aber nicht kompensiert wurde.

Diese Liberalisierung wurde, ausgehend von den Vereinigten Staaten und Großbritannien, von Konservativen eingeleitet. Ab Mitte der neunziger Jahre waren jedoch progressive Kräfte, in Deutschland die Sozialdemokratie, die zentralen Akteure der Transformation. Die Regentschaft Gerhard Schröders war geprägt von einer erratischen Vorgehensweise. Lange Zeit korrespondierte eine (auch habituelle) Überanpassung an den liberalen Zeitgeist, die ihren Ausdruck in einer Senkung des Spitzensatzes der Einkommenssteuer und einer steuerlichen Freistellung der Gewinne bei Unternehmensveräußerungen fand – und sozialpolitischer Stagnation. Die Versuche, deren Überwindung mit dem Schröder-Blair-Papier innerparteilich einen normativen Boden zu bereiten, scheiterten kläglich. Entsprechend unvorbereitet war die SPD in programmatischer Hinsicht, als im Jahr 2003 mit der Verschärfung der wirtschaftlichen Lage die Strukturreformen unausweichlich wurden. Zugleich war wegen der zuvor gewährten Steuererleichterungen kein finanzielles Polster zur Abfederung dieser Strukturreformen mehr vorhanden. Die daraus resultierenden sozialen Härten verschärften die innerparteilichen Auseinandersetzungen.

Während weite Teile der Partei in einer sozial- und arbeitsmarktpolitisch konservativen Orientierung am „Modell Deutschland“ verharrten – ohne allerdings gangbare Wege aus der Krise aufzuzeigen – und darin von den Gewerkschaften bestärkt wurden, konnte die rot-grüne Reformpolitik auf keine konsistente normative Orien-tierung verweisen. Neoliberale Trickle-Down-Theoreme wurden mit ordoliberalen Regulierungsvorstellungen gepaart und mit einer starken normativen Orientierung auf Leistungsgerechtigkeit untersetzt. Zugleich mussten die Regierungen seit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders hinnehmen, dass sich das Einkommensgefüge in einer Weise spreizte, die jeder Leistungsgerechtigkeit Hohn sprach. Der Umbau des nachträglich statussichernden zu einem vorsorgenden Sozialstaat hat zwar zu mehr Investitionen in das Erziehungs- und Bildungssystem geführt, gleichzeitig aber ist die Reintegration in den Arbeitsmarkt noch immer eher eine Frage der wirtschaftlichen Konjunktur als der individuellen Förderung und der gleitenden Übergänge. Zudem kann die Sozialdemokratie diese Investitionen nicht als politisches Alleinstellungsmerkmal für sich reklamieren.

Alle Fraktionen der Linken, rechte wie linke Sozialdemokraten, haben programmatisch damit zu kämpfen, dass sich der Finanzkapitalismus als normativ taub erwiesen hat. Darin unterscheidet er sich von den liberalen und sozialdemokratischen Kapitalismuskonzepten. Während diese nicht nur in ihren Strukturen, sondern auch in ihrer Orientierung auf solide theoretische Fundamente bauen, genügt dem Finanzkapitalismus die reine Funktionalität, welche eine eigene Handlungsrationalität erzeugt, die auf die Realökonomie und die Gesellschaft abstrahlt – ohne dass diese im Gegenzug gestaltenden Zugriff auf das Finanzkapital hätten. Die Gewinne, die sich an den Finanzmärkten erzielen lassen, hängen vom spekulativen Handel ab, nur sehr bedingt hingegen von der Produktion. Entsprechend renditeorientiert ist das Salär der Aktien- und Derivatehändler. Der Shareholder Value ist ein Factum brutum, das über die Existenz von Unternehmen entscheiden kann, entsprechend ist die Orientierung der Vorstandsbesoldung am Aktienkurs schlüssig und die Klage über die „Gier der Heuschrecken“ hilflos, auch wenn die Diskrepanz zur Entlohnung der Beschäftigten ins Auge springt. Der Standort ist ein Kostenfaktor, der Staaten in den Wettbewerb untereinander zwingt. Die Banken sind entscheidende Treibriemen und Profiteure dieses Systems, gleichwohl reichte allein diese funktionale Bedeutung, um – auch linken – Regierungen in der Finanzkrise ihre Rettung erforderlich scheinen zu lassen.

Wie gewinnt die Sozialdemokratie Steuerungs- und Gestaltungsfähigkeit zurück?

Sieben Jahre nach Ausbruch der Krise ist die Funktionalität des Finanzkapitals wieder hergestellt. Zudem hat sie sich der Staatshaushalte bemächtigt und wird von einer Politik des Niedrigzinses und der Geldschwemme der Europäischen und anderer Zentralbanken befeuert. Auch dagegen erhebt sich kein nennenswerter Protest. Die Linke war über die Jahre hinweg wortreich in ihrer Anklage gegen dieses „neoliberale System“, aber hilflos in ihren Handlungsoptionen. Die Mächtigkeit, mit der Colin Crouchs Theorie der „Postdemokratie“ daherkommt, korrespondiert mit der Schmalbrüstigkeit der Opposition, die sich von dieser Theorie noch anleiten lässt. Das Übermaß an offensichtlicher Ungerechtigkeit, das der Neoliberalismus hervorbringt, empört Menschen, aber ihre Empörung kennt keinen Adressaten. Alle Hoffnung auf eine sozial gerechtere Gesellschaft ruht auf eher marginalen Gruppen der außerparlamentarischen Opposition, die bei Crouch in diffuser Weise auf die Sozialdemokratie abstrahlen sollen.

Eine sozialdemokratische Antwort auf den Finanzkapitalismus kann sich hingegen nicht darin erschöpfen, Verletzungen von Gerechtigkeitsnormen zu beklagen, auf denen diese Form des Kapitalismus ohnehin nicht beruht. Die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratie hängt vielmehr von ihrer Fähigkeit ab, als Ordnungsmacht gestaltend in die Prozesse einzugreifen. Die Sozialdemokratie muss sich wieder als politische Kraft erweisen, die steuerungsfähig ist, die für ihre Ziele eigene Mehrheiten finden und Koalitionen schmieden kann. Dieser Nachweis wird sich nur schwerlich auf globaler Ebene erbringen lassen. Und selbst dort, wo eine Neuordnung gestaltbar ist, hat sie mehrere Bezugspunkte und unterliegt unterschiedlichen, gar widerstreitenden Gerechtigkeitsvorstellungen. Dies hat sich in der Euro- und Griechenlandkrise ebenso gezeigt wie in der Arena nationaler Sozialpolitik unter globalisierten Auspizien. Das alles grenzt die Möglichkeiten ein, Politik mit einer eindeutig sozialdemokratischen Handschrift zu versehen.

Die Abgehängten haben sich in ihren Ghettos eingerichtet

So erwuchs auf nationaler Ebene der Sozialdemokratie eine entscheidende politische und normative Last aus der Tatsache, dass sich in den zurückliegenden Jahren ein sozialer Bodensatz von einem Fünftel der Bevölkerung verfestigt hat, der arbeitslos oder prekär beschäftigt und in der Regel arm oder zumindest armutsgefährdet ist. Dieses Fünftel ist zwar kein (alleiniges) Resultat der kurzen Ära sozialdemokratischen Regierens, aber es zermürbt den normativen Kern der Partei und mindert auch ihre Chancen auf elektorale Regeneration. Nun lässt sich die verfestigte Aversion der sozial Ausgeschlossenen gegenüber der etablierten Politik nicht allein dadurch erweichen, dass es politische Kräfte gibt, die ihren Interessen eine Stimme verleihen wollen. Davon zeugt schon die magere Resonanz, welche die Partei „Die Linke“ in diesen Milieus erfährt. Es kommt darauf an, die Durchsetzung dieser Interessen durch eine entsprechende Machtperspektive glaubhaft machen zu können.

Darin liegt für die Sozialdemokratie ein Problem. Die soziale Zusammensetzung ihrer Wählerschaft ist heterogen, die verschiedenen gesellschaftlichen Milieus, deren Interessen die SPD vertreten will, korrespondieren nicht miteinander, sondern bewegen sich in je eigenen Lebenssphären. Die Abgehängten haben sich in eigenen sozialen und kulturellen Ghettos eingerichtet, von denen sich die etablierten Erwerbstätigen abgrenzen, weil sich im Schicksal der anderen die Gefahr des eigenen Scheiterns spiegelt. Statusangst ist mittlerweile ein stärkerer Treibriemen politischer Erwartungen als Aufstiegshoffnung. Die Fragmentierung der Gesellschaft lässt sich durch Parteitagsbeschlüsse schwerlich aufheben. Hinzu kommt, dass die gesellschaftliche Kohäsion und die Bereitschaft zu solidarischem Handeln aufgrund steigender Integrationskosten für Flüchtlinge und Migranten noch erheblichen, bislang kaum absehbaren Belastungen ausgesetzt sein wird. Mit dem massenhaften Asyl hat sich eine eigene Arena der Verteilungskämpfe etabliert, in deren Zentrum die Leistungen des Sozialstaates und der Zugang zum Arbeitsmarkt stehen. Um diese Leistungen und Zugänge konkurrieren die neuen Asylsuchenden mit den bestehenden Milieus der ansässigen migrantischen und autochtonen Prekären.

Diese gesellschaftliche Dynamik nicht zu einer zentrifugalen werden zu lassen, erfordert ein hohes Maß an Steuerungsfähigkeit, zumal sie kulturell aufgeladen ist und den Verteilungskonflikten begrenzte staatliche Ressourcen zu deren Befriedung gegenüberstehen. Die Bereitschaft des Elektorats, diese Ressourcen durch Steuererhöhungen zu vergrößern ist, wie die letzte Bundestagswahl eindrücklich gezeigt hat, nicht sonderlich groß. Den klassischen Ausweg über eine Erhöhung der Staatsschulden hat sich das Parlament selbst verfassungsrechtlich versperrt.

Die Schuldenbremse wurde in der Ära Schröder/Müntefering eingeführt und hätte die seinerzeit schwächelnden normativen Ressourcen der Sozialdemokratie eigentlich stärken können. Doch die SPD hat bis heute Schwierigkeiten, sich positiv auf dieses Instrument zu beziehen. Weit entfernt davon, sie als Mittel finanzieller Nachhaltigkeit zu feiern, hadern weite Teile der Partei mit dem „Austeritätsregime“. Tatsächlich widerspricht die neue Logik diametral dem seit dem „Goldenen Zeitalter“ bestehenden Verständnis sozialdemokratischen Regierens, das in der Aufnahme von Schulden eine die Nachfrage stimulierende, mithin der Wirtschaft wie den sozialen Interessen gleichermaßen dienliche Maßnahme sieht. Nun hat sich die zweite Seite der keynesianischen Medaille, die nicht nur die Finanzierung privater und staatlicher Nachfrage durch Schulden in der Rezession, sondern auch deren Reduktion in Zeiten der Hausse vorsah, in den zurückliegenden vierzig Jahren nie erfüllt. Beständig sank deshalb der zur politischen Gestaltung verfügbare Anteil des Staatshaushalts. Auch ist unstrittig, dass staatlichen Schulden private (in der Regel vermögende) Gläubiger gegenüberstehen, deren Zinsen von der Allgemeinheit bezahlt werden müssen. Schuldenpolitik bedeutet also immer auch Umverteilung an die ohnehin bereits Vermögenden. Die SPD ist zwischen beiden Sichtweisen hin und hergerissen. Es ist nicht zuletzt diese Unentschiedenheit, die die Partei daran hindert, eine in sich konsistente Politik zu formulieren und die für Wahlerfolge unabdingbare Einheit von Programm, Performance und Person herzustellen.

Die Griechenland-Krise zeigt, warum soziale Gerechtigkeit heute so schwierig ist

Diese Unentschiedenheit kommt auf nationaler Ebene wegen der guten konjunkturellen Lage derzeit kaum zum tragen, doch umso stärker ist das Agieren in der Eurokrise, vor allem die Politik gegenüber Griechenland, von ihr geprägt. In dieser Krise zeigt sich die ganze Schwierigkeit – um nicht zu sagen: Unmöglichkeit –, aus den Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit in sich schlüssige Handreichungen für eine gelingende Praxis zu entwickeln.

Zwar wurde die Unentschiedenheit der Europolitik von der Regentschaft -Merkels und Schäubles vorgegeben, doch tun sich SPD und auch Grüne schwer, dagegen ein eigenständiges Profil zu entwickeln. Eine entscheidende Gelegenheit dazu verpassten sie, als sie im Mai 2010 dem ersten Griechenland-Paket zustimmten (Die Grünen) beziehungsweise sich enthielten (SPD). Dieses Paket umfasste im Wesentlichen die Rettung der griechischen Banken durch eine Verschuldung des griechischen Staates bei seinen drei Gläubigern EZB, IWF und Euro-Gruppe. Damit akzeptierten die Oppositionsparteien implizit nicht nur, dass die eigentlichen Gläubiger, nämlich im Wesentlichen die europäischen Banken, ungeschoren blieben, sondern sie schluckten auch die Verletzung der No-bailout-Regel. In der Konsequenz gerieten sie in die zwiespältige Rolle, zugleich zur Seite der Gläubiger zu gehören, als auch die Belange des griechischen Schuldners im Blick haben zu müssen: Die Sanierung des griechischen Staates und der griechischen Wirtschaft wurden zu einem Anliegen der Gläubiger – mit allen Einschränkungen staatlicher Souveränität und den Verletzungen der demokratischen Willensbildung auf Seiten des Schuldners, die seitdem zu beobachten sind. SPD und Grüne haben sich in Mithaftung für eine Griechenlandpolitik nehmen lassen, auf die sie seitdem kaum Einfluss haben. Das zerrt besonders an ihrem politischen Selbstverständnis.

Beide Parteien haben sich auf diese Politik vorrangig deshalb eingelassen, weil sie den Euro als wichtige Stufe der Europäischen Einigung ansehen, die es zu halten gilt, „whatever it takes“. Darin sind sie mit Merkel auch beim nun beschlossenen dritten Rettungspaket noch einig. Doch diese Einigkeit bröckelt. Während in der Union die Zahl der „Grexit“-Befürworter steigt, wächst bei der Opposition die Kritik am „Austeritätsregime“. Entsprechend steigt ihre Bereitschaft, Griechenland ein höheres Maß an Handlungsfreiheit und Zeit einzuräumen. Allerdings würde eine Lockerung des kritisierten „Austeritätsregimes“ mehr staatliche Autonomie und eine sozialverträgliche Anpassung des Reformprozesses bedeuten, mithin ein höheres Kreditvolumen erfordern. Dieses würde noch aufwachsen, wenn jene Konzepte zur wirtschaftlichen Sanierung in die Tat umgesetzt werden, die Griechenland dauerhaft stabilisieren sollen. Dies sollten Sozialdemokraten im Blick haben, die wortreich mehr Solidarität mit Griechenland fordern.

Das dreifache Problem der sozialen Gerechtigkeit

Die deutschen Sozialdemokraten (mehr noch als die Grünen) stehen damit vor einem dreifachen Problem sozialer Gerechtigkeit:

Erstens müssen sie der deutschen Bevölkerung oder zumindest ihren eigenen Wählern glaubhaft machen, dass die Rückzahlung ihrer Kredite und Garantien nicht nur gesichert bleibt, sondern dass diese höhere Investition in Zeit und Geld sich mehr rentiert und erfolgversprechender ist, als das bisherige „Austeritätsregime“ – das zu begründen dürfte der SPD gegenüber ihrer Klientel schwerer fallen als den Grünen.

Zweitens müssten die Sozialdemokraten plausibel machen, weshalb Griechenland ein solch hohes Maße an Zuwendung im doppelten Sinne des Wortes erfährt, wenn solche Zuwendung zugleich Euro-Staaten mit geringerem Pro-Kopf-Einkommen sowie schlechteren Wirtschafts- und Sozialverhältnissen verwehrt wird, die im Gegenteil sogar noch die Zuwendung für Griechenland mitfinanzieren sollen. Alle jene, die nun aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit angesichts der dortigen sozialen Lage einem Mehr an Stützung Griechenlands das Wort reden, verdrängen anscheinend, dass das gleiche Maß an Gerechtigkeit auch für andere gilt.

Das führt zum dritten und gravierendsten Problem: Die wirtschaftliche Gesundung steht und fällt mit der Bereitschaft von Unternehmen, in Griechenland zu investieren. Diese Bereitschaft werden sie nur zeigen, wenn glaubhaft gemacht wird, dass die Euro-Mitgliedschaft des Landes unumkehrbar ist, also auch dann gilt, wenn diese Sanierung nicht die erwarteten Erfolge zeitigt. Ein solches Bekenntnis hätte allerdings weitreichende Implikationen.

Spätestens wenn mit Auslaufen des dritten Hilfspaketes deutlich wird, dass mehr als 300 Milliarden Euro Hilfsgelder diese relativ kleine Volkswirtschaft nicht zu stabilisieren vermochten, wird man von einem dauerhaften strukturellen Problem ausgehen müssen. Griechenland ähnelt in vielen Aspekten seiner Misere Süditalien, und es wird innerhalb des Euroraums den Status einnehmen, den Süditalien schon seit Jahrzehnten gegenüber Norditalien hat. Es wird dauerhafter Empfänger von Transfergeldern und Aufbauhilfen sein, die diese Misere lindern, aber nicht beheben. Allerdings mit einem Unterschied: Während Süd- und Norditalien das zwar arg strapazierte aber intakte Band der gemeinsamen Nation eint, besitzt der Euroraum kein entsprechendes Solidargefüge. Allerdings kennt er einen Gleichbehandlungsgrundsatz und mehrere Staaten, die aufgrund ihrer ökonomischen und sozialen Eckdaten dann ebenfalls Transferansprüche geltend machen könnten. Nicht nur die Südländer, sondern auch die sozialistischen Regierenden in Frankreich tendieren dazu, die Europäische Union um eine Transferunion zu erweitern.

Damit stellt sich die Frage nach der grundsätzlichen Ausrichtung der Europä-ischen Union – und für die Sozialdemokratie die Frage nach dem Orientierungsrahmen ihrer Gerechtigkeitsvorstellung. Denn die Befriedigung dieser Ansprüche entspräche zweifellos der Vorstellung eines sozialen Europas nach nationalstaatlichem Vorbild. Doch egal, ob der Ausgleich über ein gestärktes europäisches Zentralregime oder föderal erfolgte – er würde die Solidarbereitschaft der Steuerzahler in den Geberländern auf eine harte Probe stellen. Diese würde kaum durch das ökonomisch zutreffende Argument geschmälert, dass der „Standort Deutschland“ von der Eurozone profitiert, denn es bleibt unklar, ob damit die Deutsche Bank gemeint ist oder der deutsche Minijobber.

Nur noch 17 Prozent der Deutschen wollen einen europäischen Bundesstaat

Die Euro-Staaten weisen Produktivitätsunterschiede von mehr als 100 Prozent auf. Eine Angleichung über Wechselkursanpassungen ist ausgeschlossen. Daher werden in den Krisenländern Wachstumspotenziale außer durch Innovationen nur durch innere Abwertungen, also vor allem durch Deregulierung der Arbeitsverhältnisse sowie die Senkung der Arbeitseinkommen und Sozialausgaben oder – womöglich gleichzeitig – durch eine von außen induzierte Nachfragestärkung erschlossen werden können. Letzteres wäre im besten Fall der ökonomische Effekt einer Transferunion. Ob er aber eintritt, ist – wie das Beispiel Süditaliens zeigt – alles andere als sicher. Denn eintreten wird er nur, wenn damit eine Veränderung der Produktionsweisen verbunden ist. Dazu müssten überkommene soziale Strukturen mit ihrem Nepotismus und ihrer Verwobenheit mit den administrativen Systemen überwunden und pfadabhängige Sozialsysteme angeglichen werden. Bislang haben sich die Befürworter einer stärkeren europäischen Integration schwer damit getan, diese nationalen und regionalen Binnenstrukturen in ihrem zähen strukturellen und ökonomischen Konservatismus angemessen zur Kenntnis zu nehmen. Dabei ist selbst innerhalb des ökonomisch potenten Deutschlands mittlerweile offensichtlich, dass eine Angleichung des Ostens an den Westen auf absehbare Zeit ausgeschlossen ist.

Mit diesen skizzierten Anforderungen und Widrigkeiten hätte eine Politik zu kämpfen, welche die Eurokrise zum Ausgangspunkt einer Even-Closer-Union machen wollte, also auf mehr als ein gemeinsames Banken- und Fiskalregime abzielt. Die teleologische Sicht, die jede Krise Europas als Entwicklungsstufe dahin ansieht, hat mit demokratischen Defiziten zu kämpfen. Diese werden umso deutlicher werden, je mehr die Teleologie nach Maßgaben einer europäischen sozialen Gerechtigkeit mit Transferzahlungen unterfüttert wird. Der europäische Streit um die Aufnahme und Finanzierung der Flüchtlinge ist nur ein bitterer Vorgeschmack.

In Deutschland sprechen sich nur noch 17 Prozent der Bevölkerung für einen europäischen Bundesstaat aus. Ihnen stehen 33 Prozent gegenüber, die für eine Rückentwicklung zur Wirtschaftsunion plädieren und 11 Prozent, die die EU gleich ganz auflösen wollen. In anderen Staaten mit einem entwickelten Populismus – und das sind mittlerweile die meisten in der EU – dürften die Ergebnisse eher noch deprimierender sein. Angesichts dieser Entwicklung kann sich eine Europapolitik nicht mehr, wie es bislang die linke Einigungspolitik à la Habermas und Fischer getan hat, allein in der Vergangenheit begründen, auf einem Elitekonsens beruhen und eine Zentralisierung anstreben. Vielmehr muss sie die Bevölkerungen mit ihren national je unterschiedlichen Sozial- und Interessenlagen mitnehmen, schon allein weil eine stärkere Integration über kurz oder lang Änderungen nationaler Verfassungen und Europäischer Verträge und damit Plebiszite notwendig machen würde. Es wäre klug, bereits vorher auf den Willen des Demos zu hören – nicht des teleologischen, sondern des empirischen. Bislang ist die Europapolitik in Deutschland noch von einem recht weitgehenden Konsens der Parteien getragen, aber die Verunsicherung über den weiteren Weg wächst. Spätestens mit dem Auslaufen des dritten Hilfs-pakets an Griechenland wird auch von der SPD eine perspektivische Festlegung erwartet werden, dies umso mehr, als es in die Zeit des Bundestagswahlkampfes 2017 fallen wird.

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