Weiter mit den Reformen!
Deutschland, ein Wintermärchen: Glaubte man einer Reihe von Medienberichten, so wurde am 1. Januar 2005 mit der Einführung des Sozialgesetzbuchs II, besser bekannt unter dem Schlagwort „Hartz IV“, der Sozialstaat in der Bundesrepublik abgeschafft. Bedürftige, so suggerierte die Presse, bekämen kein Geld mehr oder würden für einen Euro pro Stunde zu Zwangsarbeit herangezogen. Besonders hart treffe es die ohnehin gebeutelten Ostdeutschen: Sie müssten in unsanierte Plattenbauten ziehen und ihre bescheidenen Datschen verscherbeln.
Obwohl das Gesetz zunächst unverändert blieb, geschah im Laufe des Jahres 2005 Erstaunliches: Das „systematische Verarmungsprogramm“ (DGB-Chef Michael Sommer) wurde teuer. Sehr teuer. Kurz vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen schrieb der Spiegel in einer Titelgeschichte: „Das Gesetz zum Arbeitslosengeld II verteilt die Staatsknete allzu großzügig.“ Von 12 Milliarden Euro zusätzlicher Kosten wegen Hartz IV war jetzt die Rede.
Irgendwie passt das nicht zusammen. Wie kann ein Gesetz die öffentliche Hand so teuer zu stehen kommen, das angeblich so viele Menschen arm macht? Nun, ein Recht auf Grundsicherung besteht weiterhin. Für die große Mehrheit der Betroffenen – vor allem für viele Frauen, Jugendliche, Langzeitarbeitslose und vormalige Sozialhilfeempfänger – sind die monetären Leistungen nicht gesunken, sondern eher leicht gestiegen. Freilich gibt es auch Verlierer: Weniger Geld als zuvor erhielten nun Arbeitslose, die zuvor gut verdient hatten, Arbeitslose mit Vermögen oder solche mit einem erwerbstätigen Partner.
Die Kommunen tricksten und wurden entlastet
Und die angeblichen Milliardenausfälle? Die Kosten für Hartz IV sind tatsächlich nicht höher als die des alten Systems von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Allerdings: Die versprochenen Einsparungen sind nicht eingetreten. Das ist zum einen auf Verschiebungen der Finanzarchitektur zwischen Kommunen und Bund, zum anderen auf unrealistische Planwerte zurückzuführen. Weil die Kommunen teilweise tricksten, wurden sie stärker entlastet als geplant. Für die öffentlichen Haushalte insgesamt ist diese Verschiebung irrelevant, wenngleich sie politisch natürlich hochbrisant ist. Weitere große Lücken traten zwischen den eingeplanten und den tatsächlich entstandenen Kosten auf. Um überhaupt einigermaßen in die Nähe eines verfassungsgemäßen und mit den Maastricht-Kriterien konformen Haushalts zu gelangen, hatte der Bundesfinanzminster für die Hartz-Reform unrealistische Einsparerwartungen im Bundeshaushalt veranschlagt. Zudem antizipierte die Bundesregierung nicht, dass nach der Reform mehr Bürger versuchen würden, Transferleistungen zu erhalten. Eine Flut von Hartz IV-Anträgen brach herein – von Menschen, für die die Grundsicherung nie gedacht war, etwa Lebenspartner und erwachsene Kinder von Besserverdienenden sowie Selbständige, die ihr Einkommen unter das Existenzminimum rechnen konnten. So explodierte die Anzahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II von den erwarteten 3,5 auf fast 5 Millionen. Die finanziellen Aspekte der Reform sind also differenziert zu betrachten.
Noch gravierender sind die Implementationsprobleme der Reform: Die Auszahlung der Unterstützungsleistungen zur Jahreswende 2005, für die Verwaltung sonst nie eine Hürde, wurde erst nach einem Gewaltakt in letzter Sekunde sichergestellt. Überdies scheint die Arbeitsverwaltung seither mit sich selbst beschäftigt: Vermittlung und Beratung funktionieren bis heute nicht auf angemessenem Niveau. Das ist ein fatales politisches Signal. Schließlich war die Kürzung der Transferzahlungen mit zukünftig besserer Unterstützung bei der Arbeitssuche gerechtfertigt worden.
Das Debakel begann im Morgengrauen
Wer trägt die Schuld an diesem Debakel? Hatten sich wild gewordene Bürokraten diese Regelung ausgedacht, wie Olaf Baale suggeriert? Geboren wurde die Idee, wie die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zu organisieren sei, irgendwann in den grauen Morgenstunden der Nacht vom 14. zum 15. Dezember 2003. Damals rangen SPD und Union im Vermittlungsausschuss zwischen Bundesrat und Bundestag zäh um ein umfangreiches Reformbündel. Seit langem war man sich darüber einig, dass Sozial- und Arbeitslosenhilfe zusammengelegt werden sollten. Strittig war, wer Träger des neuen Arbeitslosengeldes II sein solle: Die Union wollte nach ihrem Koch-Modell den Kommunen die Verantwortung übergeben, die Sozialdemokraten planten, die Langzeitarbeitslosen von der Bundesagentur für Arbeit (BA) betreuen zu lassen. Schließlich einigten sich die Parteien auf einen Kompromiss, mit dem eigentlich keiner so recht zufrieden war: In Arbeitsgemeinschaften sollten BA und Kommunen gemeinsam die Hartz IV-Kunden betreuen. Einige Kommunen erhielten das Recht zum „Optieren“, also die Aufgaben allein wahrzunehmen. Ohne Zweifel war das ein schwaches Ergebnis, wenngleich besser als der Status quo ante. Damit war das „unwürdige Kompetenzgerangel der Behörden“ (Olaf Baale) politisch von vornherein programmiert.
Die Union setzte aufs Scheitern
Der Zeitplan für die Realisierung von Hartz IV war aberwitzig. Über ein halbes Jahr lang verhandelten die Politiker über die Details des Kompromisses – bis das Hartz IV-Gesetz im Juli 2004 endlich verabschiedet wurde. Jetzt aber sollte plötzlich alles ganz schnell gehen. Bundesregierung und Opposition wollten die Reform bereits zum 1. Januar 2005 in Kraft treten lassen. Allerdings aus konträren Motiven: Die SPD setzte darauf, dass das neue System bis zur anstehenden Bundestagswahl im Jahr 2006 einigermaßen rund laufen würde. Die Union hingegen hoffte, die Reform werde – gleichsam als „Dosenmaut hoch vier“ – kläglich scheitern, und ihr so bei den Landtagswahlen 2005 nützen. Diese Hoffnung sollte sich als begründet erweisen.
Die Kommunen und die BA hatten deshalb nicht einmal ein halbes Jahr Zeit für die Verwirklichung der „größten Sozialreform der Geschichte der Bundesrepublik“ (Wolfgang Clement). Nein, die Reform war, anders als Olaf Baale glaubt, tatsächlich kein „simpler Verwaltungsakt“. Hier trafen eine zentralistische Bundesbehörde und heterogene Kommunalverwaltungen aufeinander, die bisher auf vollkommen verschiedenen Rechtsgrundlagen gearbeitet hatten, deren Mitarbeiter nicht nur unterschiedlich bezahlt wurden, sondern auch verschiedene Ziele verfolgten. Viele Fragen der Ausgestaltung dieser Arbeitsgemeinschaften hatte der Vermittlungsausschuss offen gelassen. In den über 100 Verhandlungsarenen zwischen BA und Kommunen ging es deshalb nur schleppend voran. Hinzu kamen die politischen Eigeninteressen der Kommunalverbände und ihrer Mitglieder. Vor allem dem deutschen Landkreistag war kaum ein Argument zu fadenscheinig, um zur Verteidigung des Einflusses der Landkreise vorgebracht zu werden. Kein Wunder also, dass sich bei den über 100 „Mini-Mergers“ aus Arbeitsagenturen und Kommunen die Probleme türmten.
Neben der kurzen Vorlaufzeit tickte derweil eine weitere Zeitbombe. Diese nicht rechtzeitig entschärft zu haben, war ein weiterer gravierender politischer Fehler: Bekanntlich erreicht die saisonale Arbeitslosigkeit zum Jahresanfang stets ihren höchsten Stand. Nun stießen zusätzlich mehrere Hunderttausend erwerbsfähige ehemalige Sozialhilfeempfänger in die Statistik. So war es keine wirkliche Überraschung, dass die Arbeitslosenzahl Anfang 2005 die magische Grenze von 5 Millionen überstieg.
Die Briten stellten sich gescheiter an
Das Hartz IV-Debakel war also politisch verursacht. Die Politik verhinderte systematisch realistische Umsetzungsbedingungen. Es ist eine anspruchsvolle, aber eben originär politische Aufgabe, Implementationsprobleme zu antizipieren sowie Strategie und Fahrplan der Durch- und Verwirklichung einer Reform danach auszurichten. Vertreter der Kommunalverwaltungen und der BA hatten vor einem Schnellschuss gewarnt. Schließlich gab es Erfahrungen aus dem „Modellvorhaben zur verbesserten Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe“ (MoZArT). Beispielsweise hatte das vorbildliche JobCenter Köln gezeigt: Die Zusammenarbeit kann gelingen – aber sie ist langwierig und schwierig.
Dass ein Erfolg möglich gewesen wäre, zeigt das Beispiel Großbritannien. Die Briten haben nämlich eine ganz ähnliche Reform der Arbeitsverwaltung bewältigt. Dabei üben die britischen Jobcenter mehr Druck auf die Arbeitslosen aus als die deutschen, und die Transferleistungen an Arbeitslose sind weit niedriger. Trotzdem gab es in Großbritannien keinen Protest wie gegen Hartz IV. Ein wesentlicher Grund dafür war, dass das „Jobcentre plus“ nicht im Hau-Ruck-Verfahren eingeführt wurde, sondern in Wellen. Die erste von mehreren Einführungstranchen begann in Modellämtern im Oktober 2001. Die letzte kam erst nach etlichen Verbesserungsschleifen im März 2005. Außerdem wählten die Briten für ihre Reform eine wesentlich geschicktere Dramaturgie. Bereits der Name „Jobcentre Plus“ klingt nach einem Gewinn. Tony Blairs Credo war: „Das Jobcentre Plus steht sowohl für einen aktiven Sozialstaat wie für unsere Vorstellung von öffentlichen Dienstleistungen. Es geht darum, dass der Sozialstaat den Menschen tatkräftig zu mehr Lebenschancen verhilft und die Menschen umgekehrt eine größere Verantwortung tragen, diese Lebenschancen tatsächlich wahrzunehmen.“ Die Reform sollte also Blairs Vision eines aktivierenden Wohlfahrtstaats verwirklichen. In Deutschland fehlte dieser Überbau. Gerhard Schröder mochte kein „Pathos“, wie er nach seiner Rede zur „Agenda 2010“ sagte, in der er die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ankündigte.
Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer
Dabei hatte der Auftakt der Hartz-Reform geradezu übertrieben pathetische Züge gehabt: Als die Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt am 22. August 2002 im Konzerthaus am Gendarmenmarkt der Bundesregierung ihren Bericht übergab, zitierte Peter Hartz den Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, lehre deine Männer die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.“ Binnen dreier Jahre werde das Reformkonzept die Arbeitslosigkeit halbieren.
Leider verzichtete die Bundesregierung darauf, die von Peter Hartz geweckten Erwartungen zurechtzustutzen. Zu verlockend war das Aufbruchssignal im Wahlkampf 2002. Dabei war in den internen Beratungen der Kommission immer klar, dass sich positive Wirkungen frühestens drei Jahre nach der vollständigen Einführung der Hartz-Reform einstellen könnten. Erst im Jahr 2006 treten alle notwendigen Gesetze in Kraft, wird der vollständige Umbau der BA – eine Voraussetzung für Hartz IV – halbwegs abgeschlossen. Ein brauchbarer Termin zur Messung des Reformerfolgs liegt also eher im Jahr 2009. Und auch bis dann ist keine Halbierung der Arbeitslosigkeit zu erwarten, wohl aber möglich, was ursprünglich der Auftrag der Kommission war: moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zu schaffen. Im Fall der Einführung von Hartz IV war also die Mehrzahl der Probleme durch politische Entscheidungen und Unterlassungen induziert. Deshalb ist es falsch, wenn Olaf Baale schreibt, die Politiker hätten ihr Gesicht verloren, weil die öffentliche Verwaltung jede Veränderung blockiere.
Die Kumpanei des Verzeihens
Allerdings: Grundsätzlich trifft die These von der veränderungsresistenten Verwaltung häufig genug zu. Dies gilt vor allem für die vielen Reformen, bei denen die institutionellen Eigeninteressen von Verwaltungsapparaten berührt sind. Diese Interessen können nur dann überwunden werden, wenn Politiker als Reformmotoren viel Zeit und Bereitschaft zur Austragung von Konflikten mitbringen. Genau hier liegt die eigentliche Komplexität im Verhältnis von politischer Führung und Verwaltung, der Baales Artikel nicht gerecht wird. Verwaltungen können mit ihrem Vorsprung an Insiderwissen Reformansätze so lange still blockieren, wie die politische Leitung nicht mit Kompetenz und Einsatz ihres politischen Kapitals dagegen hält. Dies ist für Politiker aber mit beträchtlichem Risiko verbunden, da den kurzfristig hohen politischen Kosten oft nur unsichere und mittelfristige Gewinne gegenüber stehen. Weil somit beiden Seiten die nötige Veränderungs- und Risikobereitschaft fehlt, verfolgen sie viele Reformen auch bei steigendem Problemdruck nur halbherzig. Dieser Missstand wird in der Öffentlichkeit nur selten thematisiert, weil politische Führung wie Verwaltung von den Schwächen der jeweils anderen Seite wissen und in eine Art „Verzeihenskumpanei“ verfallen. Baales Kritik ist also nicht ganz falsch, aber zu eindimensional. Im Übrigen bremst nicht selten eine Interessenallianz aus Politik und Verwaltung Reformen aus.
Ebenso nachvollziehbar ist Baales Klage, Politiker müssten ständig die Köpfe für einen unbeweglichen, reformresistenten Staatsapparat hinhalten. Den Kern trifft der Autor damit jedoch ebenfalls nicht. Es ist nicht nur die ureigene Aufgabe von Politik, die unterstellten Verwaltungen zu führen, zu kontrollieren und entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Sie muss auch – notfalls durch größere institutionelle Veränderungen – Strukturen schaffen, die politische Steuerung und die Übernahme von Verantwortung überhaupt erst ermöglichen.
Warum die Politik verantwortlich ist
Bei Hartz IV verfehlte man auch dieses Ziel. Der Vermittlungsausschuss hat mit den zunächst ohne geklärte Führungsstruktur versehenen Arbeitsgemeinschaften ein weiteres Feld der organisierten Unverantwortlichkeit geschaffen. Weder der Bund (der das Ganze mit 25 Milliarden Euro finanziert) noch die BA (über die der Bund beim ALG II die Fachaufsicht hat) noch die Kommunen hatten zunächst einen direkten Einfluss auf die Arbeitsgemeinschaften. Natürlich kann nach so kurzer Zeit auch nicht erwartet werden, dass horizontale Selbstkoordination gelingt. Auch diese Verantwortungsdiffusion ist ein Resultat politischer Blockaden in Kombination mit objektiven institutionellen Barrieren in unserer föderalen Struktur. Diese können vermutlich nur von einer großen Koalition überwunden werden. Jedenfalls sind auch hier politische Entscheidungen gefordert.
Politiker sind also für die Verwaltung verantwortlich, die ihnen untersteht. Das ist nicht ungerecht, sondern notwendig. Im Jahr 1999 stolperten gleich zwei Bundesminister über die BSE-Krise; nicht wegen persönlicher Verfehlungen, sondern aufgrund von Fehlern, die in ihrem Ministerium begangen wurden. Wegen dieser Verantwortung der Politik ist es so problematisch, wenn Bürokratien zur nicht steuerbaren Black Box werden. In der Theorie untersteht die Verwaltung zwar der politischen Führung. Wenn diese ihren Apparat aber nur über Regeln und finanzielle Inputs zu steuern versucht, wird sie in komplexen Policyfeldern nicht viel erreichen. Daher sind neue Steuerungsinstrumente notwendig.
Wo die Probleme einer bürokratischen Verwaltungsführung liegen und wie eine leistungsfähigere Steuerung aussehen kann, lässt sich am Beispiel der reformierten BA zeigen. Bisher unterlag sie einer klassischen Regelsteuerung. Sie stand also dem zuständigen Ministerium gegenüber in der Verantwortung, das ihr zur Verfügung stehende Geld im gesetzlichen Rahmen bis zum Jahresende auszugeben. Ob sie dies effektiv oder effizient tat, war nicht so wichtig, solange sie sich nur regelkonform verhielt. Der Hauptstelle der Bundesagentur unterstanden die örtlichen Arbeitsagenturen, an Weisungen der BA gebunden. Praktisch war es für die Zentrale aber stets sehr schwierig zu überschauen, wie erfolgreich die Agenturen arbeiteten. So konnte die Black Box „Bundesagentur“ ihre Leistungen jahrelang geschönt darstellen, wie sich Anfang des Jahres 2002 im so genannten Vermittlungsskandal herausstellte. Kernelement des daraufhin eingeleiteten Umbaus der Bundesagentur war die Entwicklung eines Controllingsystems, das genaue Aussagen über die Zielerreichung und Leistungsfähigkeit der örtlichen Agenturen machte. Statt über Weisungen zu führen, schließt die Zentrale jährlich Zielvereinbarungen mit den Regionaldirektionen ab, und diese wiederum tun dies mit den örtlichen Agenturen, die monatlich auf deren Zielerreichung überprüft werden.
Die Reformen zeigen bereits Wirkung
Nach derselben Logik soll die Bundesagentur gesteuert werden: Mit dem dritten Hartz-Gesetz konnte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine Zielvereinbarung mit der BA schließen. In ihrem Koalitionsvertrag vereinbarten die Parteien der Großen Koalition, dass dieses Instrument nun angewendet werden soll. Damit könnte die Bundesregierung die Realisierung ihrer Arbeitsmarktpolitik zielgerecht steuern. Diese Reform der BA mittels der neuen Managementpraxis zeigt bereits Wirkung: Die Bundesagentur hat im Jahr 2005 einen fast ausgeglichenen Haushalt erreicht und dabei trotz der hohen Arbeitslosigkeit etwas mehr Menschen in den Arbeitsmarkt integriert als im Jahr davor. Als einzige Sozialversicherung wird sie im Jahr 2006 einen Milliardenüberschuss erzielen und nicht mehr – wie in den vergangenen 20 Jahren – auf einen Zuschuss aus dem Bundeshalt angewiesen sein.
Rechtsbelehrung statt wirksame Beratung
Vielfach wird zudem das Verhalten der Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung gegenüber ihren Kunden kritisiert. Dieses Verhalten ist sicher nicht damit begründet, dass dort – wie Olaf Baale meint – hochbezahlte Beamte tätig sind. Bereits vor der Reform bestand nur der geringere Teil der Mitarbeiter aus Beamten, und seit 2003 verbeamtet die BA gar nicht mehr. Führungskräfte bekommen zeitlich befristete, leistungsabhängige Arbeitsverträge. Ein Arbeitsvermittler verdient nicht mehr als 2.000 bis 3.000 Euro brutto monatlich. Wenn die Vermittler ihre Kunden unflexibel und bürokratisch behandeln, dann liegt das an mangelnden Anreizen für Mitarbeiter und an dem unüberschaubaren Werk von Gesetzen und Verordnungen, auf das sie sich stützen. Eine große „Bibel“ findet sich auf dem Schreibtisch jedes Arbeitsvermittlers: Das Sozialgesetzbuch, das samt der angrenzenden Verordnungen so groß und schwer ist wie ein Telefonbuch.
Es geht auch anders: Das Arbeitsmarktservicegesetz in Österreich ist nicht viel dicker als ein Faltblatt – die österreichische Arbeitsverwaltung gilt international als vorbildlich. Im britischen „Jobcentre Plus“ steht den Arbeitsvermittlern statt eines detaillierten Regelwerks ein Integrationsbudget für jeden Arbeitslosen frei zur Verfügung. Weil aber in Deutschland die Regelwut herrscht, kann hier jedes Verwaltungshandeln ein Verstoß gegen Vorschriften sein. Deshalb agieren Verwaltungsangestellte so vorsichtig, deshalb besteht ein Termin beim Arbeitsvermittler klassischerweise mehr aus Rechtsbelehrungen als aus Beratung zur Jobsuche. Was den Vermittlern fehlt, sind Freiräume, sind Motivation und Kreativität, um Menschen bei der Integration in den Arbeitsmarkt zu helfen. Die Leistungsauszahlung der Verwaltung funktioniert in der Regel reibungslos. Eine wirklich nützliche Hilfe bei der Suche nach einem Arbeitsplatz ist sie aber eher selten. Mit mutigen Federstrichen könnte der Gesetzgeber das komplexe Sozialgesetzbuch lichten. Die Macht dazu liegt bei der Politik, nicht bei den Bürokraten.
Ein Argument von Olaf Baale allerdings trifft uneingeschränkt zu: In der Tat ist in der Verwaltung die Einführung der kaufmännischen Buchführungen anstelle der antiquierten Kameralistik überfällig. Aber auch hier liegt das Problem nicht, wie Baale meint, in der Verwaltung, sondern in der Politik. Beispielsweise drängt Die BA selbst darauf, ihren Haushalt kaufmännisch bilanzieren zu dürfen; sie wird aber in der Bundeshaushaltsordnung explizit zur kameralistischen Haushaltsführung verpflichtet. Auch hier bedarf es nur eines Federstrichs, um dies zu ändern. Bemächtigt dazu ist allein der Gesetzgeber.
Im Eisernen Dreieck der Beharrer
Nicht alle Verordnungen und Gesetze sind so einfach zu bereinigen. Die Versuche der vorherigen Bundesregierung die Architekten-, Ärzte- und Handwerksordnungen zu liberalisieren, scheiterten nicht an wild gewordenen Bürokraten, sondern an den Lobbygruppen der Betroffenen. Eine jüngst erschienene Studie der Bertelsmann Stiftung beschreibt, wie sich ein „Eisernes Dreieck“ aus branchenspezifischen Interessengruppen, Fachbehörden und -politikern bei der Entscheidung über die Verlängerung der Geltungsdauer eines Gesetzes frühzeitig positioniert und seine Überlegenheit ausspielt. Gegen eine solche Allianz hätten die oftmals generalistischen „Deregulierer“ kaum jemals Chancen. Deshalb genügt es nicht, alle paar Jahre mit dem Rasenmäher einige überflüssige Regelungen zu stutzen. In Initiativen zum Bürokratieabbau wird selten mehr als Symbolpolitik betrieben. Jene Paragraphen, die diesen Initiativen zum Opfer fallen, sind meist sowieso in jeder Hinsicht irrelevant, nie werden dabei wirklich wichtige Regulierungen angegangen.
Warum Gesetze evaluiert werden müssen
Um also unnötige Gesetze zu verhindern, wäre es am besten, sie gar nicht erst zuzulassen. Die Große Koalition plant, einen Normenkontrollrat im Bundeskanzleramt einzurichten, der die Kosten und nicht intendierten Folgen von Gesetzen abschätzen soll. Das ist zu begrüßen, wird aber in der Praxis nie so wunderbar funktionieren, wie es in der Theorie klingt. Ein halbes Dutzend Wirtschaftsforschungsinstitute versucht Jahr für Jahr mit großem Aufwand und stets vergeblich, die konjunkturelle Entwicklung vorauszusagen. Wie soll es da möglich sein, komplexe Gesetze, die meist weit länger als ein Jahr wirken, auch nur einigermaßen genau auf Folgen und Kosten zu bewerten? Deshalb ist es sinnvoll, die Ex-ante-Prüfung von Gesetzen durch eine Ex-post-Evaluation zu ergänzen.
Bisher wurde im Entstehungsprozess eines Gesetzes meist um jedes Wort mühsam gerungen, um es dann im wahrsten Sinne des Wortes zu verabschieden. Steht es erst einmal im Bundesgesetzblatt, gibt es zwar noch ab und zu Novellen, aber die Substanz bleibt in aller Regel erhalten. Das hat sich geändert. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode erließ der Bundestag 51 Gesetze mit einer so genannten „Sunsetting-Klausel“, also zeitlich befristet. Soll nicht die Verlängerung der Gesetze zur bürokratischen Routine werden, muss das Gesetz einer systematischen Evaluierung unterzogen werden – sonst ergibt alle Befristung keinen Sinn. Eine solche Evaluationsklausel besteht unter anderem für die mit den Hartz-Gesetzen eingeführten Arbeitsmarktinstrumente. An der Evaluierung der ersten drei Hartz-Gesetze arbeiten zurzeit rund 80 Wissenschaftler im Auftrag der Bundesregierung. Wenn also in diesem Jahr wie geplant eine Generalrevision der aktiven Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung stattfindet, wird dafür eine belastbare Datenbasis zur Verfügung stehen.
Die Steuerungsfähigkeit der Verwaltung lässt sich demnach verbessern, und auch die nachhaltige Vereinfachung und Verbesserung von Gesetzen ist machbar. Ebenso wichtig ist aber eine vorausdenkende, strategisch handelnde Verwaltung. Aufholbedarf gibt es daher beim Führungspersonal. Das Juristenmonopol der deutschen Verwaltung ist ungebrochen. Von einer „John F. Kennedy School of Government“ wie in den Vereinigten Staaten oder einer „École Nationale d’Administration“ wie in Strassburg ist Deutschland noch weit entfernt. Ambitionierte Projekte wie die „Hertie School of Governance“ in Berlin sowie der Masterstudiengang „European Governance and Administration“ der Universität Potsdam und der französischen ENA sind Fortschritte. Ihre Absolventen werden aber erst in einigen Jahren die Praxis durchdringen.
Wo sind die Denkfabriken der Ministerien?
Zudem fehlt es in der Administration am Querschnittsdenken. Das Phänomen der „selektiven Perzeption“, also das enge Denken im eigenen, sehr spezialisierten Fachbereich, hat Renate Mayntz bereits in den siebziger Jahren beschrieben. Projektarbeit ist in der Ministerialverwaltung immer noch weitgehend unbekannt. Wo sind die Denkfabriken der Ministerien? Ein Minister hat zwar eine stattliche Zahl von Fahrern und Sekretärinnen, doch in der Regel nur zwei persönliche Referenten. Sein französischer Kollege schart einen ganzen Stab um sich. Sein amerikanischer Kollege kann seine Expertise aus hochprofessionellen Think Tanks und Stiftungen ziehen. Die Antwort auf Olaf Baales in der Artikelüberschrift gestellte Frage: „Nie wieder Reformen?“ muss also lauten: „Weiter mit den Reformen!“ Professionelles Personal und Strukturen sind dabei der Schlüssel für mutige politische Konzepte und eine kluge Implementationsplanung.