Weiter Weg nach Westen
Seit wenigen Wochen wird das Land von Berlin aus regiert. Trotz des Jahrhundertereignisses eines Parlaments- und Regierungsumzugs bestimmen jenseits feuilletonistischer Diskurse Sachfragen die politische Tagesordnung: Wie geht es mit der Rente weiter? Wieviel Sozialstaat können und wollen wir uns leisten? Wie sieht eine künftige Außenpolitik aus? Die Fragen, die die politische Öffentlichkeit bewegen, gleichen denen, die in anderen westlichen Staaten diskutiert werden. Deutschland ist in diesem Sinne ein normales westliches Land. Deutschland ist nach den Sonderwegen der Vergangenheit im Westen angekommen. So lautet auch die Kernthese eines Buches des Hamburger Historikers Axel Schildt (Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, S. Fischer Verlag Frankfurt, 1999).
Viel wird derzeit darüber gesprochen, was sich ändern muß in der anbrechenden Berliner Republik. Doch auch für das nun aus der neuen Hauptstadt regierte Land gilt, was der neue Kanzler vor seiner Wahl versprochen hatte: Vieles besser machen, aber nicht alles anders. Und so gibt es auch im geeinten Deutschland keine politischen Akteure, die die Einbindung Deutschlands in die westliche Wertegemeinschaft in Frage stellen wollten. Im Jahr des 50jährigen Bestehens der Bundesrepublik und ihrer wichtigsten demokratischen Institutionen erscheint diese Verwestlichung als Selbstverständlichkeit; viele Jubiläumspublikationen erschöpfen sich in der chronologischen Wiedergabe der wichtigsten politischen Wegmarken des westdeutschen Staates. Axel Schildt reicht dies nicht, er richtet seinen Blick auf die Frage, wie es gelingen konnte, daß aus Deutschland ein westlich-zivilisiertes Land wurde - das Inkrafttreten des Grundgesetzes bildete nur die formale Grundlage dieser Entwicklung. Die Deutschen jener Zeit standen der westlichen Demokratie, dem Geist der Bonner Verfassung, 1949 noch fern. Schildt befaßt sich vor allem mit den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Krieg und streift die Tagespolitik und die parlamentarischen Redeschlachten nur am Rande. Denn die Grundlagen, die die Akzeptanz der Demokratie erst möglich machten, sieht er wesentlich in der "stillen sozialen Revolution", die mit dem Wiederaufbau einherging und im Generationenwechsel Ende der fünfziger Jahre, als sich erstmals eine Generation zu artikulieren begann, für die bereits die Zeit nach dem Krieg prägend war.
Noch Anfang der fünfziger Jahre überwog die Skepsis nicht nur gegenüber dem neuen Staat, sondern auch gegenüber westlichem Denken insgesamt. Intellektuelle hielten Distanz zur amerikanischen Kultur, die als oberflächlich betrachtet wurde, in der Bevölkerung herrschten Zukunftsängste und eine tiefgreifende Verunsicherung vor. Nicht zufällig ähnelte die Ästhetik im ersten bundesrepublikanischen Jahrzehnt - als Beispiel mögen die Heimatfilme der frühen fünfziger Jahre gelten - den dreißiger Jahre, die den Menschen im Rückblick als gute Zeit erschienen. Noch 1952 antworteten in einer Allensbach-Erhebung auf die Frage, welcher große Deutsche am meisten für Deutschland geleistet habe, 36 Prozent Bismarck, 7 Prozent Hitler. Adenauer kam auf magere 3 Prozent. Kaum fünf Jahre später hatte sich das Bild grundlegend gewandelt - Kanzler Adenauer überrundete Bismarck. Am Ende seiner Amtszeit waren Hitler und Bismarck vergessen. Ausführlich dokumentiert Schildt anhand zahlreicher Daten aus der Wirtschafts- und Sozialstatistik den materiellen Aufschwung der Bundesrepublik, der auch weitreichende Auswirkungen auf das Arbeitsleben und Freizeitverhalten hatte und die Werteinstellungen der Nachkriegsdeutschen grundlegend wandelte. Dieser neu gewonnene Wohlstand hatte nach Schildt maßgeblich Anteil an der Legitimität der Ordnung der Bundesrepublik - auch im Kontrast zur Entwicklung in Ostdeutschland. Die Adenauer-Zeit war keineswegs jene bleierne Zeit, als die sie in der Rückschau, insbesondere mit Blick auf die Dominanz der Union, manchem erscheint. Vielmehr vollzog sich in wenigen Jahren eine grundlegende Modernisierung des Landes - wenn auch unter konservativen Vorzeichen -, die politisch nicht ohne Folgen blieb.
Einen wesentlichen Einschnitt in der politisch-kulturellen Entwicklung der jungen Bundesrepublik sieht Schildt nicht erst 1968, sondern rund ein Jahrzehnt eher, als die erste Generation, die nach dem Kriege in einem sich verstetigenden wirtschaftlichen Wohlstand sozialisiert wurde, politische Ansprüche anmeldete. Die Dominanz autoritärer Einstellungen, die Garant der Adenauerschen Herrschaft war, begann zu bröckeln, über die NS-Zeit wurde offener geredet, stark belastete Politiker mußten zurücktreten. Die sechziger Jahre waren die Jahre des expressiven Jugendkults, an deren Ende die Studentenrevolten standen. Ohne den Generationenwechsel der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre ließe sich jedoch die weitere Entwicklung in dieser Dekade kaum erfassen. Es scheint jedenfalls ein bewußt gepflegter Mythos zu ein, erst 1968 habe Deutschland Anschluß an den Westen gefunden und erst dank der studentischen Revolutionäre mit dem provinziellen Mief der Adenauer-Ära gebrochen.
Schildt attestiert der 68er Bewegung, im wesentlichen nicht anti-amerikanisch gewesen zu sein, sondern lediglich Kritik an der US-Administration geübt zu haben. Zwar läßt Schildt anklingen, daß er die Ernsthaftigkeit der politischen Ziele der 68er in Zweifel zieht. Interessant wäre aber seine Einschätzung, ob die Studenten durch ihre Forderungen nach Demokratisierung und die Übernahme westlicher Protestformen die Verwestlichung vorangetrieben haben oder durch ihre Forderungen nach einer anderen Republik eher eine bremsende Wirkung hatten. Immerhin läßt Schildt in seinen abschließenden Anmerkungen zur Bundesrepublik im Wechsel der Generationen anklingen, was von den 68ern nicht gern zugegeben wird: Daß sie die einzige Generation waren, die von jenen "glücklichen zehn Jahren" von 1965 bis 1975 profitierten, als die Stellen im öffentlichen Dienst deutlich wuchsen - schon die Nachfolgenden blieb vor der Tür.
Auch die achtziger Jahre mit dem widersprüchlichen Phänomen, daß die Union zwar zur dominierenden politischen Kraft wurde und eine geistig-moralisch Wende versprach, gleichzeitig aber viele 68er ihren Frieden mit dem einst bekämpften westlichen Staat machten und das mental vielleicht rot-grüner war als die Gegenwart, in der diese Parteienkonstellation das Land regiert, läßt Schildt unbeleuchtet. Er erklärt dies - für einen Historiker legitim - damit, daß es noch keine abschließenden historischen Betrachtungen dieser Zeit gäbe. Auf einfache Erklärungsmuster möchte er sich nicht einlassen. Zu wenig erforscht und zu Unübersichtlich sei die jüngste Geschichte der Bundesrepublik. Während die gesellschaftlichen Transformationen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik ohne den Generationenbegriff kaum adäquat erfaßt werden können, habe die generationelle Komponente an Erklärungswert für die soziale Wirklichkeit der im Westen angekommenen, durch die fortschreitende Pluralisierung gekennzeichnete Bundesrepublik stark eingebüßt. Aber diese Pluralität sei letztlich Bestätigung der Entwicklung seit den fünfziger Jahren: Deutschland ist längst Westen.