Wenn der Kuchen nicht mehr größer wird

Die alte Wachstumslogik funktioniert nicht mehr: In den Schoß des kuscheligen Modells Deutschland werden wir nicht mehr zurückkehren können. Aber was dann? Wie kann unsere Demokratie auch in Zeiten gleichbleibenden Wohlstands gesellschaftlichen Zusammenhalt hervorbringen, ohne die Nachhaltigkeit aufs Spiel zu setzen - und damit ihre eigene Existenz?

Lässt sich die deutsche Wirtschaftspolitik der kommenden Jahrzehnte in einer einfachen Gleichung fassen? Wahrscheinlich schon: Schwächere Wachstumsraten plus demografischer Wandel ergeben sinkende Staatseinnahmen bei steigendem Ausgabenbedarf und insgesamt einen schrumpfenden Verteilungsspielraum für die Gesellschaft. Die politische Explosivkraft dieser Gleichung sollte niemand unterschätzen. Sie stellt so ziemlich alles in Frage, was den deutschen Wohlfahrtsstaat der vergangenen Jahrzehnte charakterisiert hat – und gibt gleichzeitig eine klare Handlungsanweisung für die Gegenwart: finanzpolitische Nachhaltigkeit, jetzt!

Wer in der Bundesrepublik heute davon träumt, bald wieder Wachstumsraten von drei, vier, fünf Prozent zu erreichen und damit in den Schoß des kuscheligen Modells Deutschland zurückkehren zu können, der irrt. Wir vergessen, dass eine jährliche Steigerung der Wertschöpfung um einen festen Prozentsatz mittelfristig exponentielles Wachstum hervorbringt. Sollte Deutschland von jetzt an real um zwei Prozent jährlich wachsen, dann müssten wir die Wertschöpfung im Vergleich zu heute in den kommenden 35 Jahren verdoppeln, in 70 Jahren vervierfachen und in 100 Jahren versiebenfachen. Ist es möglich, das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland in 100 Jahren von den derzeit knapp 30.000 Euro auf 210.000 Euro (wohlgemerkt: real – das heißt bei gleichbleibender Kaufkraft) anzuheben? Ich glaube nicht daran.

Wer zahlt die 1.680 Milliarden zurück?

Sinkt aber unsere Wachstumsrate, dann steht die Schlüsselformel des alten Modells Deutschland auf dem Spiel. Sie lautet: Politik ist einfach, wenn der Kuchen ständig größer wird und Verteilungsspielräume bestehen. Löhne können steigen, wenn Gewinne steigen; Sozialleistungen können steigen, wenn immer weniger Menschen sie in Anspruch nehmen; Subventionen können fließen, wenn gleichzeitig finanzieller Spielraum für Innovationen besteht.


Aus der Nähe betrachtet trägt diese Erfolgslogik des alten Modells schon lange nicht mehr. An ihre Stelle ist seit vielen Jahren die Logik des Wachstums auf Pump getreten, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in eigentlich allen Industrienationen. Die Staatsverschuldung in Deutschland hat sich in den vergangenen 20 Jahren vervierfacht. Wie der aktuelle deutsche Schuldenstand von 1.680 Milliarden Euro zurückgeführt werden soll, steht in politischen Lichtjahren entfernten Sternen. Nun sollte dieses Argument nicht falsch verstanden werden, Staatsverschuldung ist keineswegs immer schlecht. In der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise waren schnell aufgelegte und große Konjunkturpakete existenziell wichtig für das Wachstum. Investive Staatstätigkeit ist der Schlüssel zu mehr Wachstum – und wer Investition sagt, sagt Schulden. Aber die Kernlogik kann nicht sein, jährlich ein neues Defizit aufzunehmen und zu hoffen, dass irgendwann bessere Zeiten kommen.

Unsere BIP-Fixierung führt uns in die Irre

Jedoch ist die Schuldenthematik nur die Spitze des Eisbergs. Wir stehen vor drei wirtschaftspolitischen Zwickmühlen. Erstens wird im Zuge der demografischen Veränderungsprozesse der Anspruch steigen an Solidarität gegenüber den Bedürftigsten dieser Gesellschaft – aber gleichzeitig gibt es immer weniger finanzielle Mittel, um diese Solidarität zu leisten. Zweitens haben wir schon in den vergangenen Jahren zeitweilig über unsere Verhältnisse gewirtschaftet und gehofft, der nächste Aufschwung werde uns schon wieder in die Balance zurückführen – aber nun weichen wir fast automatisch immer stärker davon ab. Drittens haben wir lange auf einen tragfähigen Wirtschaftsaufschwung gehofft, um das Modell Deutschland in seinen Grundstrukturen neu auszurichten, zu modernisieren und zukunftsfähig zu machen (also jenseits von Arbeitsmarktreformen) – aber stellen nun fest, dass diese Modernisierung in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation erfolgen muss.

Es führt also kein Weg daran vorbei, dass Deutschland in den Jahren 2011 und 2012 den Grundstein für eine vollkommen neue Wirtschaftspolitik legt, die folgende Komponenten umfasst:

-- Wir müssen das Volumen der öffentlichen Haushalte über einen zielgerichteten Konsolidierungskurs in die Balance führen. Nur diese Balance schafft Spielräume für eine sinnvoll „atmende“ Finanzpolitik, die in guten Zeiten spart und in schlechten Zeiten Konjunkturimpulse gibt. (Ein Wort zur Schuldenbremse: Ich halte sie für handwerklich schlecht gemacht, im Grundgesetz völlig fehl am Platz – aber ihr Grundgedanke ist absolut richtig.)

-- Wir müssen die inhaltliche Ausrichtung der Staatsfinanzen überdenken und an vielen Stellen neu definieren. Es geht darum, Ressourcen dort einzusetzen, wo sie der Gesellschaft am meisten Gewinn bringen. Natürlich sind das in erster Linie Investitionen in Zukunftsfaktoren wie Bildung und Innovation. Es geht aber auch um den Gewinn, der über Umverteilung aus gesellschaftlicher Geschlossenheit und Gerechtigkeit für die Volkwirtschaft entsteht. Ich wünsche mir die Faustformel, dass staatliche Ausgaben entweder investiver Natur sind (dass also jeder ausgegebene Euro später einen materiellen oder ideellen Ertrag bringt, der den Wert des investierten Euros übersteigt) oder über Umverteilung zur gesellschaftlichen Geschlossenheit beitragen.

-- Wir müssen die Grundfrage stellen, ob gesellschaftlicher Wohlstand mehr ist als eine Steigerung des Bruttoinlandsprodukts. Quantitatives Wachstum ist wichtig, aber die Verteilung des Wohlstands und die soziale Kohäsion haben ebenfalls einen monetären Gegenwert – nur wird dieser Gegenwert nicht diskutiert, und er ist wissenschaftlich kaum erforscht. Das Thema des „qualitativen Wachstums“ sollte noch viel stärker in den Fokus wirtschaftspolitischer Debatten rücken.

Zum letzten Punkt noch einige Gedanken: Vor sechs Monaten hat eine prominente und internationale Kommission unter der Leitung von zwei Ökonomie-Nobelpreisträgern (Joseph Stiglitz und Amartya Sen, gemeinsam mit Jean-Paul Fitoussi) einen Bericht zur Messung von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialem Fortschritt vorgelegt. Ihr Urteil ist vernichtend für den klassischen Blick auf Wachstum als Indikator für Wohlstand. Es geht bei Wohlstand um mehr als nur um das gesellschaftliche Gesamteinkommen. Viel von dem, was die Gesellschaft leistet und was ihr wichtig ist, wird vom Bruttoinlandsprodukt oder der klassischen Wachstumsperspektive gar nicht abgebildet. Dazu gehören das tatsächliche Einkommen der Menschen, der Grad an Umverteilung, die Lebensqualität, die tatsächlich verfügbare Arbeit, das freiwillige soziale Engagement und natürlich die Nachhaltigkeit von Wachstum. Eine Wirtschaft kann zulasten der Zukunft (Umwelt, Bildung, Gesundheit), ja sogar zulasten der Menschen in der Gegenwart wachsen. Unser viel zu eng ausgerichteter Fokus auf das Bruttoinlandsprodukt als politisches Zielobjekt verwischt den Blick auf die wahren Inhalte der Wertschöpfung.

Im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise beauftragte der amerikanische Kongress im Jahr 1930 den Ökonomen Simon Kuznets damit, einen Indikator zur Messung der Wertschöpfung zu entwickeln. Kuznets wichtigste Antwort war die Schaffung eines Indikators: das Bruttoinlandsprodukt. Die Konsequenz der heutigen Wirtschaftskrise sollte eine Anpassung dieses Indikators an die heutige Zeit sein. Aus ökonomischer Sicht ist zu klären, welches Kriterium der Bewertung von Wirtschaftspolitik zugrunde liegen muss. Ist es Effizienz? Ist es die Steigerung der Wertschöpfung? Ist es Gleichheit? Wie steht es um Werte wie gesellschaftliche Geschlossenheit oder Solidarität? In unserer Gesellschaft existiert bereits ein Grundbewusstsein für „Neues Wachstum“, nur fehlen Messgrößen, Indikatoren und Referenzpunkte, um das Thema noch tiefer in der gesellschaftlichen Diskussion zu verankern.

Wer nur das quantitative Wachstum betrachtet, wird falsche Prioritäten in der Wirtschaftspolitik setzen und wahrscheinlich weiter darauf spekulieren, dass der schon jetzt heißgelaufene Motor immer neue Höchstleistungen vollbringt. Dabei geht es um eine viel spannendere, aber auch gefährlichere Frage: Wie kann eine Demokratie auch in Zeiten gleichbleibenden Wohlstands gesellschaftlichen Zusammenhalt hervorbringen, ohne die Nachhaltigkeit und damit die Zukunft ihrer eigenen Existenz aufs Spiel zu setzen? «




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