Wer nicht fragt, bleibt dumm

Nein, der rot-grünen Bundesregierung gelingt wirklich nicht immer alles. Aber immerhin: Die Koalition pflegt einen Stil, dem die Zukunft gehören könnte. Immer mehr entscheidet über den Erfolg von Politik, ob diese sich als lernendes System begreift

Schon wieder ′ne Kommission", lautete der geläufigste Kommentar zu Schröders jüngstem Gremium unter Leitung des Wirtschaftsweisen Bert Rürup. So, als ob solche Gruppen Metaphern wären für die Reformblockaden des politischen Systems. Als Begründung für die Überflüssigkeit dieser Zirkel wird dann gern jener einleuchtende Satz formuliert, demzufolge wir im Falle der sozialen Sicherungssysteme und der Folgen des demografischen Wandels "kein Erkenntnis- sondern ein Umsetzungsproblem" hätten. So entsteht das Bild einer schockgefrorenen, handlungsstarren und geistig gelähmten Regierung, die hilflos nach dem nächstbesten Experten-Zirkel ruft. Und dabei nicht mal aufgehalten wird vom schleichend entmachteten Parlament.


Ein völlig antiquiertes Politikverständnis diagnostiziert der Soziologe Ulrich Beck der rot-grünen Bundesregierung zu Beginn ihrer zweiten Legislaturperiode: "Die denken doch tatsächlich, sie sitzen an den Hebeln der Macht und müssen von paritätisch besetzten Kommissionen ergrübelte, konsensgestählte Konzepte nur ‚eins zu eins‘ umsetzen." Immer neue Kommissionen seien überflüssig, schreibt auch der Historiker Arnulf Baring in der FAZ, sie brächten allenfalls Zeitgewinn für eine ertrinkende Regierung, sicherten nur vorübergehend deren Überleben.

Kommissionen ersetzen keine Visionen

Eines ist wahr: Kommissionen ersetzen keine politischen Visionen. Nicht auf den Räten sollte man deshalb allerdings herumhacken, sondern auf dem Day-to-day-Management im Kanzleramt, das den großen Entwurf gar nicht mehr sucht. Doch der Einsatz solcher Runden ist ein gutes Zeichen - für eine neue, ergebnisorientierte Dialogkultur zwischen Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft. Es handelt sich hier erstens um die Verwirklichung eines modernen Konzeptes des moderierenden, aktivierenden Staates. Zweitens wird so der Mangel an think tanks gemildert - Deutschland hinkt hier anderen Ländern weit hinterher. Drittens können sich die gesellschaftlichen Gruppen in solchen konzentrierten Runden gegenseitig Kompromisse abringen, die der öffentlichen Konsensfindung dienen. Viertens machen sie Politik ehrlicher - indem sie preisgeben, dass eine Regierung trotz erkannter Probleme gemeinsam mit den anderen gesellschaftlichen Akteuren mühsam nach der Lösung suchen muss. Das ist ein Eingeständnis des Nicht-Wissens.

Und so einer soll unser Kanzler sein?

Man stelle sich vor, einer der beiden Kanzlerkandidaten hätte vor der Bundestagswahl beim ritualisierten Duell im Fernsehen folgende Worte gesagt: "Ich weiß es nicht, ich weiß die richtige Antwort auf Ihre Frage nicht!". Und dabei ernst und souverän in die Kamera geschaut. Unvorstellbar. Nicht nur die beiden Moderatoren wären perplex gewesen, auch das 16-Millionen-Publikum vor den Fernsehern im Wohnzimmer. Die politischen Boulevardmedien hätten am nächsten Tag höhnische Worte zu Papier gelacht: "Und so einer soll unser nächster Kanzler sein?".


Dabei wäre jener Satz auf manche Fragen die einzig wahrhaftige Antwort, die ein führender Politiker heute geben könnte: Ist nationale Politik in Zeiten der Globalisierung überhaupt noch in der Lage, die Arbeitslosigkeit zu halbieren, wie es Schröder und Stoiber versprachen? "Ich weiß es nicht", müssten die beiden sagen, wollten sie bei der Wahrheit bleiben. Und: "Wir können nur versuchen, unser Bestes zu tun." Doch das dürfte derzeit höchstens der Bundespräsident hinter vorgehaltener Hand zugeben. Stattdessen warb die Kampa 02 der SPD - wir erinnern uns - mit grobkörnigen schwarz-grauen Großplakaten des Schröder-Staatsmannes, der nachts an seinem Schreibtisch dafür schuftet, "dass alle Arbeit haben". Ein Traum vom mächtigen Kanzler, der mal eben Vollbeschäftigung herbeiregiert.


In der Realität müssen Politiker weltweit über Probleme entscheiden, an die vor zehn Jahren überhaupt niemand dachte. Politik muss Grenzen setzen und Rahmenbedingungen schaffen, dabei steht sie häufig noch vor einem gewaltigen Wissensdefizit - und ist auf den Dialog mit Experten angewiesen. Am deutlichsten wird dies in der Biopolitik. Seit der Entschlüsselung des Humangenoms im Jahr 2000 geht es nicht mehr allein um technologische Chancen und Risiken für Mensch und Umwelt - wie etwa bei der Atomenergie. Bundespräsident Johannes Rau stellte in seiner "Berliner Rede" des Jahres 2001 eine neue Qualität politischer Entscheidungen fest: "Zum ersten Mal scheint der Mensch fähig, den Menschen selber zu verändern, ja ihn genetisch neu zu entwerfen." Wenngleich man von der Realisierung dieser Vision noch weit entfernt ist, müssen sich die Regierenden mit Problemen befassen, die Forschung und Fortschritt hervorbringen, sie selbst aber kaum durchschauen. Wie ihre Wähler zum (wenn auch professionellen) Laientum verdammt, mussten sie in den vergangenen Jahren Entscheidungen auf der Basis einer provisorischen Halbkenntnis treffen, bei der es nur eine Gewissheit gab: Dass morgen schon wieder alles anders sein könnte - und eine Revision vonnöten.

Der allwissende Immerkönner ist tot

In Wahlkampfzeiten wird von allen Seiten eine Erwartung geschürt, die umso unrealistischer und altmodischer erscheint, je mehr die Gesellschaft den Einfluss der unkalkulierbaren Weltwirtschaft auf die eigenen Geldbeutel und Arbeitsplätze spürt: Die Erwartung, dass der Politiker für alle Probleme des Landes eine Lösung parat hat. Und das fernsehgerecht in einer Minute dreißig zum Besten geben kann. Es sind die Kandidaten, die solche Wunschbilder ihrer selbst erzeugen. Die Enttäuschung nach der Wahl ist damit programmiert. Irgendwann einmal wird einer von ihnen zugeben: Politiker, die passgenaue Antworten für die Schwachstellen moderner, hoch komplexer Gesellschaften haben, wird es schlichtweg nie wieder geben können.

Der ehemalige Regierungssprecher der ersten rot-grünen Bundesregierung, Uwe-Karsten Heye, sinnierte nach den ersten beiden Regierungsjahren im Frühjahr 2000, dass es auch den großen Entwurf der Politik nicht mehr geben könne - "in einer Zeit, in der Ideologien keine Antworten haben auf das, was wir zu leisten haben". Etwa zu verhindern, dass die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer zerfalle - so viel Wertorientierung darf bei aller neuen Ideologiefreiheit sein. Die Politik, folgerte der Schröder-Vertraute, müsse ständig bereit sein, sich selbst zu revidieren. Ein ganz neuer Job für Politik-Berater bahnt sich da an: Nicht mehr einen allwissenden Immerkönner werden sie präsentieren, sondern dabei helfen, den lernfähigen Politiker als Erfolgskonzept zu verkaufen.

Wenn die Wirklichkeit nicht mehr gehorcht

Das gilt besonders in Zeiten, in denen liebgewonnene Versorgungsideen wie die Sozialversicherungssysteme brüchig werden. Zeiten, in denen die Vorstellungen platzen, man könne durch die beschützend-lenkende Hand des Staates langfristig mehr sichere Arbeitsplätze schaffen. Mehrmals musste die Regierung Schröder in der ersten Legislaturperiode bei den gut gemeinten Gesetzen für den Arbeitsmarkt nachbessern, weil die Realität ihnen nicht gehorchte.


Politik als lernendes System zu begreifen und sie den Bürgern auch so zu vermitteln, ist eine der Zukunftsaufgaben der Politik. Lernfähigkeit nicht als Schwäche, sondern als Stärke sehen. Fehler machen dürfen, ohne gleich als unfähig zu gelten. Politik als Ringen um die richtige Lösung, die man von vornherein gar nicht kennt: das Trial-and-Error-Prinzip. Statt des spezifisch deutschen Handlungszwangs, keinen Fehlgriff tun zu dürfen, ein wenig kalifornische Leichtigkeit ins Spiel bringen: die Pleite als vorübergehende, zuweilen sogar wertvolle und notwendige Erfahrung auf dem Weg zum Erfolg statt als Untergang zu sehen.


Das ist viel verlangt und auch ein gefährliches Plädoyer, weil es schnell missbraucht werden kann: Von regierenden Faulenzern, die dies schlau als intellektuell anspruchsvolle Generalausrede für jede Art von Fehler, verschleppte Entscheidung und vermeidbare Ahnungslosigkeit heranziehen können. Für jene programmatisch nicht mehr identifizierbaren Politiker, die ihr Fähnchen nach dem jeweiligen Wind der Umfragewerte und Interessen ausgewählter focus groups richten - ohne eine Idee davon zu haben, welche Art von Gesellschaft sie mit ihren Entscheidungen eigentlich erzeugen wollen. "Ich weiß es nicht" als Gütesiegel eines neuen Politikstils - das ist eine Gratwanderung.


Dennoch ist sie nötig geworden. Nach dem 11. September 2001 war klar, dass sich die Außenpolitiker aller Staaten zu einer gemeinsamen neuen Weltinnenpolitik zusammenfinden müssen, um einen Feind zu bekämpfen, den die Geschichtsbücher nicht kennen: Einen virtuellen, staatenlosen Aggressor, gespeist aus einem weltweiten, kaum verortbaren und deswegen mit herkömmlichen Waffen schwer bekämpfbaren Terroristennetzwerk. Jedem gebührte Misstrauen, der schon einen Tag später die richtige Reaktion zu kennen glaubte.
Wer heute behauptet, das die Gentechnologie nur Segen bringt und nahezu uneingeschränkt zu fördern sei, macht es sich leicht. Die deutsche Forschungsministerin Edelgard Bulmahn von der SPD war manchen Wissenschaftlern nicht forschungsbegeistert genug. Sie hatte genau jenen neuen lernenden Politikstil verinnerlicht, indem sie mit ihrer offiziellen Entscheidung über therapeutisches Klonen menschlicher Embryos zum Zwecke der Erzeugung menschlichen Ersatzgewebes genauso abwartete wie bei der Frage, ob die Forschung an den ethisch umstrittenen embryonalen Stammzellen erlaubt werden sollte. Und das um den Preis, eigene Positionen und Präferenzen schließlich korrigieren zu müssen. Die Exekutive harrte der Debatten im Parlament und des öffentlichen Diskurses, bevor sie, daran angepasst, ihr Votum traf.

Von Wissensvorsprung keine Rede

In Deutschland entschied man sich im Januar 2002 für einen sehr eingeschränkten Gebrauch der menschlichen Zellen, für deren Gewinnung Embryonen getötet werden müssen - weil ihr Nutzen umstritten und es noch nicht bewiesen ist, dass man nicht auch mit ethisch unproblematischen Stammzellen aus dem Gewebe erwachsener Menschen Gleiches erreichen kann. Doch was würde geschehen, wenn morgen aus Amerika die Nachricht käme, mit embryonalen Stammzellen könne man erstmals Aids-Infizierte heilen? Die Diskussion würde von Neuem losgehen, die Politik müsste womöglich ihre Entscheidungen revidieren. Aber auch die Kirchen, Ärzteverbände und andere Nicht-Regierungsorganisationen.


Die Politik operiere nicht aus einem überlegenen Steuerungswissen heraus, das sie zu einer aus der übrigen Gesellschaft herausgehobenen Stellung berechtigen würde, schrieb der SPD-Justiziar Carsten Stender in der Berliner Republik (Heft 1/2002): "Tatsächlich verfügen weder Parlament noch Regierung a priori auch nur über das notwendige Steuerungswissen, um sachadäquat zu handeln. Von einem Wissensvorsprung kann erst recht nicht die Rede sein." Der Charme des vermittlerisch angelegten Systems von Kanzleramtschef Steinmeier bestehe gerade darin, dass es sich dessen bewusst sei und sich darauf konzentriere, die notwendigen Lernprozesse selbst zu organisieren. Schröder als Multi-Options-Kanzler.

Am Ende muss trotzdem entschieden werden

Je weniger die Politik das Entscheidungs- und Wissensmonopol für sich beanspruchen kann, sondern nur als ein Akteur unter vielen den sozialen Wandel beeinflusst, desto wichtiger wird die Konsensverankerung der Entscheider in der Gesellschaft. Politik als lernendes System bindet die Zivilgesellschaft idealerweise mit in die Entscheidungsfindung ein - und überträgt ihr damit auch mehr Verantwortung. Politik sollte solche Diskussionsprozesse initiieren und moderieren. Am Ende muss sie allerdings trotzdem alleine zwischen den unterschiedlichen Interessen entscheiden. In diesem Lichte betrachtet, erscheint Schröders "Räterepublik" durchaus sinnvoll - und entspricht diesem modernen Politikkonzept: Die Hartz-Kommission, ein Nationaler Ethikrat, eine Zuwanderungskommission und ein Experten-Gremium zur Reform der Bundeswehr (die beiden zuletzt genannten Kreise gar von Unionspolitikern geführt) markieren das rot-grüne Politikverständnis - im Gegensatz zu jenem des Vorgängersystems Kohl, dessen Entscheidungsfindung autokratischer auf den Kanzler und seine informellen, öffentlich nicht wahrnehmbaren und dadurch schlecht kontrollierbaren Beraterkreise zugeschnitten war.

Entschleunigung? Auch nicht verkehrt

Die Agrar- und Verbraucherschutzministerin Renate Künast von den Grünen hatte einen mehrmonatigen, professionell moderierten Diskurs zur Anwendung der so genannten "grünen Gentechnik" bei der Produktion von Lebensmitteln, vor allem in der Landwirtschaft, organisiert, der im August 2002 beendet war. Er machte einen gewaltigen Dissens zwischen Biotechnologie-Industrie, Bauern und Verbrauchern sichtbar. Und damit konnte Künast ihre Skepsis der neuen Technik gegenüber argumentativ eleganter begründen, als wenn sie Einwände nur ideologisch aus der grünen Philosophie hergeleitet hätte.


Eine solche politische Führung hat zunächst einmal die Entschleunigung von Entscheidungen zur Folge, aber dies kann bei manchen Themen gerade vonnöten sein. Als der Deutsche Bundestag 1959 das Gesetz über die friedliche Nutzung der Kernenergie verabschiedete, dachten die Abgeordneten nicht einmal an die Brisanz des - im Übrigen bis heute ungelösten - Entsorgungsproblems des Atommülls. Mit einer einzigen Gegenstimme stimmten sie dafür. Neue Nachdenklichkeit, mehr Risikobewusstsein und bessere Gesetzesfolgenabschätzung würden ein so einseitiges Abstimmungsverhalten heute verhindern.


Das Prinzip der Verhandlungsdemokratie lädt allerdings zum Missbrauch ein: Ist das Ergebnis absehbar unangenehm - oder stellt es sich später gar als grobe Fehleinschätzung heraus, ist es verlockend für den Kanzler, die Verantwortung dafür auf die Schultern einer mehrköpfigen Kommission zu verlagern. Geradezu ein Klassiker dafür ist das Bündnis für Arbeit.
Absolut heuchlerisch wäre es, einen Diskurs als Scheindebatte zu organisieren und durch geschickte Besetzung der verschiedenen Rollen das Ergebnis vorzugeben. Ohnehin würde eine kritische Öffentlichkeit dies langfristig durchschauen. Und jene, die aus demokratietheoretischer Sicht durch die neuen Verhandlungsnetzwerke das Parlament entmachtet sehen, müssten zugeben, dass genau hier die Abgeordneten des Deutschen Bundestages mächtig ins Spiel kommen. Es ist ihre Sache, sich die anschließende Debatte und Entscheidung über das, was die Regierung vorlegt, nicht aus der Hand nehmen zu lassen - sei es nun mit oder ohne Kommission zu Stande gekommen.

Der Politiker steckt im Sandwich fest

Es lauern weitere Gefahren hinter dem schönen Modell: etwa die, das Machtmonopol zu verlieren, welches Politik braucht, um handlungsfähig zu sein. Ferner das Risiko, als Regierung auf der Suche nach dem tragfähigsten Konsens unkenntlich im Werte- und Parteiprofil zu werden. Erschwerend kommt hinzu, dass nationaler Politik durch die Verlagerung der Entscheidungen auf europäische und internationale Ebene ein Machtverlust von anderer Seite droht. So steckt der Politiker im Sandwich zwischen immer mächtiger werdenden Akteuren der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und der internationalen Staatengemeinschaft.


Auch deswegen wächst in vielen Milieus der Bedarf an starken Führungsfiguren mit einfachen Antworten. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse nennt es das "Vereinfachungsbedürfnis" in einer immer komplexeren Welt. Wo politische Gewissheiten wegfallen, wächst die Sehnsucht nach den Problemlösern. So erklärt sich der Erfolg europäischer Neo-Populisten wie Haider, Fortuyn und Schill. Der Selbstzweifel, den die viel gescholtene Generation der Achtundsechziger in die Politik eingebracht hat, kann dagegen heilsam sein - solange er nicht in die Handlungsunfähigkeit führt.

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