Wider den Dogmatismus des Gegebenen
Demokratie ist nicht nur eine Beteiligungsform im nationalen Kontext. Heute haben etwa 60 bis 70 Prozent der nationalen Gesetze direkt oder indirekt ihren Ursprung in Brüssel. In dem Maße, wie politische Entscheidungen aus innerstaatlichen Entscheidungszusammenhängen auswandern und auf die europäische Ebene verlagert werden, muss auch das demokratische Arrangement für die supranationale Ebene neu bestimmt werden. Darauf reagiert derzeit der Konvent, indem er eine eigene europäische Verfassung ausarbeitet.
Ob und wie das europäische Demokratiedefizit behoben werden könnte, darüber gehen die Auffassungen jedoch weit auseinander. Manche vertreten die Ansicht, das Demokratiedefizit der Europäischen Union sei schlechterdings nicht zu beheben. Die Bedingungen für Demokratie im supranationalen Raum bestünden nun einmal nicht. Es fehlten die substantiellen Voraussetzungen, nämlich ein einheitlicher Demos und eine europäische Öffentlichkeit. Deshalb seien alle Reformschritte von vornherein vergeblich; der europäische Raum müsse als nicht demokratietauglich begriffen werden.
Gegen diese pessimistische Position verfechten vor allem deutsche Vertreter die These, das europäische Demokratiedefizit lasse sich durch strikte Parlamentarisierung überwinden. Allen voran zu nennen ist dabei Joseph Fischer, der mit seinem Vorschlag für ein Zweikammersystem große Resonanz hervorrief. Nachdem Fischer nun selbst Mitglied des Konvents ist, dürfen wir gespannt sein, was aus der Sache wird.
Eine weitere Gruppe von Autoren bestreitet, dass überhaupt ein Demokratiedefizit existiert. Sie sehen bereits in der gegebenen Realität der europäischen Verfahren, Gremien und Institutionen sowie bei dem dabei erreichten Output die Anforderungen erfüllt, die man an demokratische Herrschaft anlegen könne. Da Europa "anders" sei, benötige man spezielle Kriterien, die einige Autoren bereits erfüllt sehen - oder man sei jedenfalls auf dem Weg dorthin, so dass Europa bereits jetzt die Weihe der Demokratietauglichkeit verliehen werden könne.
Die Schweiz als Vorbild
Wer mit diesen Positionen nicht zufrieden ist und sich zugleich an einer klugen Auseinandersetzung mit den Widersprüchen der Thesen zum europäischen Demokratiedefizit erfreuen möchte, der findet im neuen Buch der Darmstädter Politologin Heidrun Abromeit nicht nur genau dies, sondern zudem auch eigene praktische Vorschläge, wie das europäische Projekt nachhaltig demokratisiert werden könnte. Abromeits eigener Befund lautet: Europa hat ein Legitimations-, ein Repräsentations- und ein Partizipationsdefizit. Dabei sieht sie das Kernproblem darin, dass Entscheidungsbetroffene und Entscheidungsbeteiligte nicht in Übereinstimmung gebracht würden. Deshalb sei das Partizipationsdefizit das entscheidende Problem für das demokratische Projekt Europa. Abromeits eigene konkrete Antwort heißt: Europa benötigt Instrumente der direkten Demokra-tie, so wie sie in der Schweiz angewandt werden.
Abromeit entwickelt ihre Vorschläge, indem sie sich mit den Argumenten der empirischen und der deliberativen Demokratietheorie auseinandersetzt. An den auf Europa bezogenen Argumenten der empirischen Demokratietheoretiker kritisiert sie, dass sich diese vor allem auf das Gegebene konzentrierten und damit bereits die Ergebnisse von Prozessen als Demo-kratie deklarierten. Das aber sei die Kapitulation vor dem Status quo. Deshalb etikettiert Abromeit diese vorrangig funktionalistisch-outputorientierte und an Systemstabilität interessierte Richtung als "Dogmatismus des Gegebenen".
Auf der anderen Seite sieht sie deliberative Den-ker, die im Sinne eines nicht interessebezogenen, gesamtgesellschaftlichen Optimums argumentieren und die demokratischen Grundprinzipien in der gegenwärtigen EU bereits hinreichend akzeptiert sähen. Schließlich hätten die vernunftorientierten Diskurse europäischer Experten im Rahmen der EU-Entscheidungsprozesse in den Gremien und Verfahren ihren Raum zugewiesen bekommen, was die Basis einer hohen Responsivität gegenüber den Präferenzen der Bürger bedeute.
Dogmatismus der Vernunft ist auch nicht gut
Abromeits Kritik an diesem Ansatz universalistischer Vernunft konzentriert sich auf dessen Konkretisierungsproblem sowie auf die Absolutheit des Diskursprinzips, weshalb sie auch von einem "Dogmatismus der Vernunft" spricht. Gleichwohl wird deutlich, dass die Autorin viele Elemente dieses Ansatzes teilt, besonders die Idee, die Volkssouveränität auch unter supranationalen Verhältnissen zu verankern.
Wie begründet Abromeit nun aber ihre eigene Position zugunsten einer direktdemokratischen Weiterentwicklung der EU? Sie sucht nach dem eigentlichen Zweck und damit einem Maß für Demokratie. Ausgehend von der Hypothese, dass die Idee der Demokratie Jahrhunderte lang überfrachtet worden sei, geht es ihr darum, den Kern des demokratischen Projektes freizulegen und ihn im Sinne eines "neuen Minimalismus" zu profilieren. Sie begibt sich deshalb auf eine archäologische Reise, um den Zweck von Demokratie freizuschaufeln. Sie gräbt sich durch die Tiefen der klassischen Demokratietheorie, um eine Rückbesinnung auf ihren historisch und systematisch neu zu ergründenden Kern von Demokratie zu erreichen.
Dieser Kern der Demokratie sei der Bezug auf das Individuum: "Beteiligung der Individuen an den Entscheidungen, von denen sie betroffen, denen sie unterworfen sind". Zweck der Demokratie sei "die Ermöglichung individueller Selbstbestimmung auch dann, wenn das Individuum nicht für sich alleine steht". Gerade weil es um das Individuum geht und nicht alleine um das systemische Ergebnis, besteht Abromeit darauf, dass Demokratie auch auf der europäischen Ebene nicht nur eine outputorientierte Dimension, sondern auch eine beteiligungsorientierte Dimension besitzen müsse.
Um Beteiligung und Widerspruch der Individuen unter den Bedingungen der Europäischen Union zu ermöglichen, bedürfe es direkt-demokratischer Elemente. Inspiriert durch das Schweizer Beispiel plädiert Abromeit für eine Mischung von Wahlen, fakultativen Referenden und deliberativen Gremien. Ohne eine europäische Öffentlichkeit sei dabei keine demokratische Beteiligung möglich. Sie bilde sich langsam über "negative Teilöffentlichkeiten" heraus: Gemeint sind politische Skandale, durch deren Erlebnis ein europäischer Demos sich seiner selbst bewusst werde. Hingegen sei ein identitär geeinter Demos keineswegs eine Voraussetzung für Demokratie.
Dass im europäischen Raum die Ansprüche auf direkte Beteiligung nicht im gleichen Maße realisiert werden können wie in überschaubaren regionalen Räumen, spricht nicht gegen Abromeits Vorschläge. Im Umkehrschluss könnte man sogar sagen, dass eine Verwesentlichung des Prinzips der direkten Demo-kratie, also der sparsame Umgang mit diesem Instrument im Sinne einer beschränkten Anwendung auf nur wenige zentrale Projekte, also primär als Vetorecht, auch zu dessen Stärkung in kleinräumigeren politischen Zusammenhängen beitragen könnte.
Die Pointe besteht im Minimalismus
Klar ist, dass eine Anwendung dieser Prinzipien in der Vergangenheit bedeutet hätte, das die EU kaum das Licht der Welt erblickt hätte. Vielleicht ist aber gerade ihre Weiterentwicklung darauf angewiesen, dass ein höheres Maß an Beteiligung möglich wird. Die Pointe des ambitionierten Vorgehens von Heidrun Abromeit besteht darin, dass sie einen demokratischen Minimalismus fordert, der zugleich ein kontextuelles, demokratisches Optimum ist. Auch wenn man den Optionen der Parlamentarisierung Europas einiges abgewinnen kann, ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Option begrenzter direktdemokratischer Vetomöglichkeiten dazu beitragen könnte, das politische Beteiligungsinteresse zu stärken, nachdem sich die EU konsolidiert hat.
Abromeits Arbeit besticht durch ihren systematischen und zugleich inspirierenden Stil. Mit diesem Buch liegt ein Wurf vor, der die theoretisch fundierte und intellektuelle Kraft der Zuspitzung mit dem Engagement für praktische Vorschläge verbindet - eine in der Politikwissenschaft leider immer seltenere Kombination.