Wie viel Katastrophe braucht der Mensch?

Der Klimawandel ist eine Tatsache. Aber noch ist die Erde zu retten. Die Frage ist, ob nur der tatsächliche Weltuntergang den Menschen als überzeugende Warnung vor dem Weltuntergang genügt. Wir sollten es besser nicht darauf ankommen lassen

Abschmelzende Polkappen, schrumpfende Gletscher, ansteigende Meeresspiegel, Wirbelstürme, tosende Unwetter, vertrocknende Landschaften: Die Folgen der Erderwärmung sind mittlerweile nicht mehr zu übersehen. Das globale Treibhaus beginnt, seine fatale Wirkung zu entfalten. Geahnt haben wir es immer. Berichte und Warnungen, die eine Veränderung der Welt, wie wir sie kennen, voraussagten, hat es in den vergangenen Jahrzehnten mehr als genug gegeben. Nur, wirklich daran glauben (oder: es tatsächlich begreifen), das konnten oder wollten wir nicht.

Vielleicht müssen absehbare Ereignisse, auch Katastrophen, erst eintreten, fühlbar werden, damit der Mensch sie zur Kenntnis nimmt. Oder zumindest so überzeugend beschworen werden wie im kürzlich veröffentlichten Stern-Report, den der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Nicholas Stern, im Auftrag der britischen Regierung erstellt hat. Er versucht darin, die Kosten des Klimawandels greifbar zu machen. Nach Sterns Berechnungen könnte das sich verändernde Klima zwischen 5 und 20 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufzehren: Mit Kosten in einer Größenordnung von bis zu 5,5 Billionen Euro hätte die Menschheit zu rechnen, wenn sie nichts gegen den Klimawandel unternähme. Bereits heute, sagt Stern, würden jährlich etwa 270 Milliarden Euro (rund ein Prozent des globalen BIP) aufgewandt, um die manifesten Folgen des Klimawandels aufzufangen.

Ein zu Herzen gehendes Bild von unserem Planeten und dessen Zukunft hat auch der Weltklimabericht des von der UNO eingesetzten Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) gezeichnet. Seitdem stehen Klima und Umwelt plötzlich ganz oben auf der Agenda, dort, wo sie schon seit langem ihren Platz hätten haben müssen. Es scheint, als gäbe es in der Öffentlichkeit nun endlich einen Konsens darüber, dass der Klimawandel stattfindet, dass er offensichtlich unser Leben erheblich beeinflussen wird und dass es wohl besser wäre, etwas dagegen zu unternehmen. Umso wichtiger ist es, dass nun alle daran mitwirken, die zentralen Erkenntnisse dieses zwischenstaatlichen Gremiums dauerhaft unters Volk zu bringen – wobei die wichtigste Erkenntnis bleibt, dass es in erster Linie eben doch der Mensch ist, der das globale Umweltdesaster zu verantworten hat. Und dass allein der Mensch diese Entwicklung noch beeinflussen kann. Selbst die größten Abwiegler – wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Staaten oder China – lenken nach und nach zaghaft ein. Doch für Zaghaftigkeit ist die Zeit zu knapp.

Ein beispielloser Vorgang

Das IPCC und die darin vertretenen Experten aus allen Teilen der Welt ziehen in ihrem vierten Weltklimabericht ein deutliches Fazit: Man sei sich sicherer denn je, dass der Mensch das Klima in entscheidendem Maße beeinflusse und es zu weiteren erheblichen Klimaveränderungen kommen werde. So resümiert der Bericht, dass der größte Teil der Erderwärmung seit Mitte des 20. Jahrhunderts „sehr wahrscheinlich“ von der vom Menschen verursachten Freisetzung von Treibhausgasen wie Kohlendioxid oder Methan stamme. Die Formulierung „sehr wahrscheinlich“, so die Sprachregelung des IPCC, darf übrigens nur dann von den Autoren verwandt werden, wenn die berechnete Wahrscheinlichkeit über 90 Prozent liegt.

7,2 Milliarden Tonnen Kohlendioxid, das wohl grässlichste Treibhausgas, pusten wir weltweit jedes Jahr in die Atmosphäre. Das ist trotz aller Bemühungen um Reduzierung – wie etwa im Klimaschutzabkommen von Kyoto – ein deutlicher und vor allen Dingen rapider Anstieg gegenüber den jährlich 6,4 Milliarden Tonnen in den neunziger Jahren. Infolge von Waldrodungen oder veränderter Landnutzung werden darüber hinaus bis zu 2,7 Milliarden Tonnen als indirekte Emissionen freigesetzt. Die Kohlendioxid-Konzentration hat mit heute 359 ppm (parts per million) das höchste Niveau der letzten 650.000 Jahre erreicht. Zum Vergleich: Anfang des 19. Jahrhunderts – also bevor die Industrialisierung dazu führte, dass Kohle, Öl und Gas in Massen verfeuert wurden – betrug die Konzentration noch 270 ppm. Ein derartiger Anstieg in so kurzer Zeit ist bislang einzigartig in der wissenschaftlich rekonstruierten Klimageschichte, die bisher nur Schwankungen zwischen 180 und 280 ppm verzeichnete. Das IPCC spricht von einem beispiellosen Vorgang. Die steigende Konzentration an Kohlendioxid in der Atmosphäre führt zu einer zunehmenden Absorption von Sonnenstrahlung, in deren Folge sich die Atmosphäre aufheizt. Die kritische Grenze wird dem Bericht zufolge bei 400 bis 420 ppm vermutet; würde diese Schwelle überschritten, sei mit einer Klimakatastrophe zu rechnen.

Wie viel wärmer wird die Welt?

Messungen hätten ergeben, dass sich die Erde in den vergangenen 100 Jahren im Mittel um 0,74 Grad Celsius erwärmt habe. Die Experten prognostizieren einen weiteren Anstieg der Lufttemperatur um einen Wert zwischen 1,1 und 6,4 Grad Celsius bis zum Jahr 2100 – verglichen mit dem Durchschnittswert der letzten zwanzig Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Am wahrscheinlichsten sei ein Anstieg von 1,8 bis 4 Grad Celsius. Diese Spannbreite ergibt sich einerseits aus dem Spektrum der sechs zugrunde gelegten Zukunftsszenarien, die von einer „Vernünftig und klimafreundlich handelnden Welt“ bis zur „Alles-weiter-wie-gehabt-Welt“ reichen, und andererseits aus den unterschiedlichen Computermodellen der beteiligten Forschungsinstitute. Einigkeit besteht jedoch über die nächsten zwanzig Jahre, die einen Anstieg um 0,4 Grad Celsius mit sich bringen dürften. Die vorhergesagte Erwärmung bis zum Jahr 2100 ist folgenschwerer als es im ersten Moment scheinen mag. Ein Anstieg der Temperaturen um bis zu 6 Grad Celsius wäre ein klimatischer Wechsel, der in seiner Wucht dem Wechsel zwischen Eis- und Warmzeit entspräche.

Wie viel höher steigt der Meeresspiegel?

Nicht nur die Lufttemperatur, auch die Temperatur der Weltmeere steigt: Über 80 Prozent der zusätzlichen Wärmeenergie nehme das Meer auf, was laut IPCC eine Meereserwärmung in Tiefen bis zu 3000 Metern zur Folge haben könnte. Das sich erwärmende Wasser bewirke einerseits eine Veränderung des Lebensraumes Meer sowie andererseits einen steigenden Meeresspiegel. Dazu komme das weltweite Abschmelzen der Gebirgsgletscher. Auf Basis der sechs erwähnten Modelle prognostiziert das IPCC einen Anstieg des Meeresspiegels um 18 bis 59 Zentimeter. Einen Unsicherheitsfaktor stellen dabei die polaren Gletscher dar, deren Abschmelzen die Wassermenge der Meere weiter erhöhen würde. Ging das Intergovernmental Panel on Climate Change in seinem Bericht aus dem Jahr 2001 noch von einem Anstieg des Meeresspiegels um jährlich 2 Millimeter aus, werden seit einigen Jahren tatsächliche 3,1 Millimeter gemessen. Dies könnte eine Folge der rascher schrumpfenden Eismassen und Gletscher an den Rändern der Polargebiete sein. Erste Stimmen kritisieren bereits, der aktuelle Bericht unterschätze den Anstieg des Meeresspiegels.

Gleichzeitig verzeichnet das IPCC durch den gesteigerten Kohlendioxid-Eintrag aus der Atmosphäre eine zunehmende Übersäuerung der Ozeane. Das habe beispielsweise negative Auswirkungen auf Korallenriffe, die durch das saure Wasser zersetzt werden. Zudem ist davon auszugehen, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt eine zunehmende Sättigung des Meerwassers mit Kohlendioxid eintritt, so dass es weniger davon aufnehmen könnte. Zusätzlich in der Atmosphäre verbleibendes Kohlendioxid würde dann zu einer noch stärkeren Erhitzung der Luft führen – ein Teufelskreis.

Neue regionale Klimamuster

Der Klimawandel wird laut IPCC weltweit zu gravierenden Veränderungen führen. Je nach Region würden die Folgen jedoch sehr unterschiedlich ausfallen. Es sei mit neuen regionalen Klimamustern zu rechnen, die sich anhand veränderter Temperaturen, abweichender Niederschläge oder veränderter Meersalzgehalte bereits heute beobachten ließen.

Besonders hart wird es die ärmeren Erdteile treffen. Bereits heute haben sich die Dürreperioden in den tropischen und subtropischen Breiten verlängert und intensiviert. Für Afrika und den Mittelmeerraum sowie Südasien prognostiziert der Weltklimabericht vermehrte Trocken- und Dürreperioden und eine erhebliche Beeinträchtigung der Trinkwasserversorgung. Im Gegensatz dazu sagen die Wissenschaftler voraus, dass die Niederschläge an den Ostküsten des amerikanischen Kontinents, in Nord- und Zentralasien, der Antarktis und in Nordeuropa zum Teil erheblich zunehmen werden.

Einen besonders starken Temperaturanstieg verzeichnet die Arktisregion. Schon in den letzten 100 Jahren stieg die Temperatur dort doppelt so schnell wie im globalen Durchschnitt; seit 1980 um drei Grad Celsius. Setzt sich dieser Prozess fort, würde sich der Treibhauseffekt selbst noch verstärken, denn ein Auftauen der arktischen Permafrostböden ließe enorme Mengen an Kohlendioxid und Methan frei werden, die jetzt noch im Boden gebunden sind.

Das IPCC sieht deshalb nur noch begrenzte Möglichkeiten, um dem globalen Klimawandel Einhalt zu gebieten. Um das Schlimmste abzuwenden, dürfte die weltweite Durchschnittstemperatur um nicht mehr als zwei Grad Celsius steigen, so heißt es in einem noch unveröffentlichten Teil des Berichts, der an die Medien durchsickerte. Um das zu erreichen, müsste der Kohlendioxid-Ausstoß bis 2020 stabilisiert werden, um ihn anschließend um 80 bis 90 Prozent abzusenken, sagt Ottmar Edenhofer, Chefökonom des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung.

Selbst bei einem sofortigen Stopp aller klimaschädlichen Emissionen wäre der Klimawandel nicht mehr aufzuhalten, sondern lediglich abzumildern. Das Klimasystem reagiert sehr langsam auf Veränderungen, so dass selbst ein radikales Umdenken der Menschheit erst in einigen Jahrzehnten seine Wirkung entfalten würde.

Laut IPCC sind die nächsten fünfzehn Jahre entscheidend, wenn wir die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels noch verhindern wollen. Die westliche Welt, die Industrieländer, die den Löwenanteil der globalen Verschmutzung zu verantworten haben, müssen beim Klimaschutz die Vorreiterrolle übernehmen. Anders wird es kaum gelingen, die Entwicklungs- und Schwellenländer von diesem Weg zu überzeugen, die – völlig verständlich – mit allen Mitteln und möglichst schnell Wachstum und Wohlstand anstreben, wie sie für uns schon selbstverständlich geworden sind.

Kyoto muss für alle gelten

Das Kyoto-Protokoll, in dem sich die internationale Staatengemeinschaft erstmals auf verbindliche Handlungsziele und Instrumente für den Klimaschutz geeinigt hat, muss fortgeführt und endlich von allen Staaten unterstützt werden. Es kann nicht sein, dass sich die Vereinigten Staaten als Hauptemittent von Treibhausgasen vor dieser Verpflichtung davonstehlen. Gleiches gilt für China, das, gemessen an seinen Emissionswerten, an zweiter Stelle liegt. Das Land hat das Protokoll zwar unterzeichnet, sich aber noch nicht zu einer Reduzierung verpflichtet. Praktisch für China, aber extrem schlecht für das globale Klima.

Auch die Europäische Union, und hier besonders Deutschland, muss ihr Bemühen um eine weitere Reduzierung vorantreiben. Die Einigung der EU-Staaten, den Ausstoß von Kohlendioxid bis zum Jahr 2020 um 20 Prozent gegenüber dem Niveau der neunziger Jahre zu drosseln, weist in die richtige Richtung. Das jüngst von der Bundesregierung erklärte Ziel der Kohlendioxid-Reduzierung von 60 bis 80 Prozent bis 2050 muss jedoch gegebenenfalls auch alleine erreicht werden – unabhängig davon, ob die Vereinigten Staaten und die EU-Mitgliedsländer diesen Weg mitgehen.

Aus Sicht des Umweltbundesamtes ist dies tatsächlich möglich. Hierfür wäre unter anderem eine Verdoppelung des derzeitigen Anteils von erneuerbaren Energien aus Biomasse, Wind und Sonne nötig; in Deutschland machen diese mittlerweile zwölf Prozent des gesamten Stromverbrauchs aus. Die Stromproduktion verursacht 40 Prozent der deutschen Kohlendioxid-Emission – hier ließe sich also einiges an Ausstoß sparen. Mit einem Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen würden sich, so die Berechnungen des Umweltbundesamts, zwischen 10 und 30 Prozent Kohlendioxidausstoß vermeiden lassen. 60 Prozent der eingesetzten Energie ließen sich beispielsweise einsparen, wenn heute alle Gebäude – Privatwohnungen und Gewerbebetriebe – nach modernen Standards wärmeisoliert würden. Und auch im privaten Bereich ließe sich ohne weiteres einiges einsparen: durch vernünftiges Heizen, Drosselung des Sprit-Verbrauchs, Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs, Reduzierung des Stromverbrauchs, den Einsatz energieeffizienter Elektrogeräte und Bezug von Ökostrom, Veränderung des Konsumverhaltens, und so weiter. All dies wäre ohne eine technische Revolution möglich.

Die globale Erwärmung schreitet voran

Der Weltklimabericht sollte als Richtschnur für die globale Umweltpolitik begriffen werden. An seinen Belegen und Prognosen kommt kein rationaler Mensch mehr vorbei – sollte man zumindest meinen. Dass es immer noch renitente Leugner des Klimawandels gibt, macht die unseriöse und verantwortungslose 10.000-Dollar-für-jedes-Gegengutachten-Ausschreibung des konservativen American Enterprise Institutes deutlich, das übrigens unter anderem von dem Ölkonzern ExxonMobil gesponsert wird. Mit allen Mitteln soll versucht werden, die Ergebnisse des Weltklimaberichts zu widerlegen.

Das IPCC hat mit seinem ersten Teil des Berichts (zwei weitere Teile folgen im Laufe des Jahres) deutlich gemacht, dass die Menschheit auf dem besten Wege ist, die ökologische Belastbarkeit der Erde zu über-, zumindest aber auszureizen. Es gilt als sicher, dass die globale Erwärmung begonnen hat, dass sie voranschreitet und dass wir – mit sehr großer Anstrengung – maximal in der Lage sein werden, diesen Prozess bei zwei, vielleicht drei Grad Celsius Erwärmung zu stoppen.

Damit stehen nun alle Staaten dieser Welt vor einer gigantischen Herausforderung. Die massive Veränderung und die teilweise Zerstörung unseres Lebensraumes verschieben die Koordinaten für das Miteinander von Mensch, Tier und Natur.

Sind wir zur radikalen Trendwende bereit?

Jenseits dieser ohnehin existenziellen Fragen ist mit sozial-, wirtschafts- und sicherheitspolitischen Problemen zu rechnen, wenn wir unser Verhalten nicht radikal ändern. Wirtschaftliche Schieflagen, Verteilungskonflikte um Ressourcen und Energie, ein wachsendes Gefälle zwischen wohlhabenden und armen Regionen, Flüchtlingsströme, Konflikte und Bürgerkriege um Land und Wasser wären mögliche Folgen.

Die Aussichten sind also alles andere als rosig. Dennoch: Die Erde ist noch zu retten. Wir müssen dem Klimawandel nur endlich wirksam entgegentreten. Die Frage ist, ob die Menschheit zu einer radikalen Trendwende bereit ist. Angesichts der dramatischen Prognosen, die der Weltklimabericht liefert, dürfen wir nicht länger zögern, zu handeln. Werden wir uns dazu aufraffen? Reicht uns dieser eigentlich unüberhörbare Paukenschlag? Wie viel Katastrophe braucht der Mensch, um zu begreifen? Der Philosoph Peter Sloterdijk formulierte einmal sinngemäß, dass nur der real geschehene Weltuntergang eine überzeugende Warnung vor dem Weltuntergang sein werde. Somit wäre die einzige Katastrophe, die allen einleuchtet, die Katastrophe, die keiner überlebt.

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