Wo bleibt die Alternative diesseits von Merkel?
Der Tag, an dem wir uns mit Albrecht von Lucke verabredet haben, ist ein besonderer: Gerade nehmen wir im Café Lenet Platz, da hören wir, dass Helmut Schmidt gestorben ist. Die Nachricht ist natürlich der Einstieg in unser Gespräch mit dem Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik.
Lucke ist sich sicher, dass ein Bundeskanzler Schmidt in der aktuellen Flüchtlingsfrage ganz anders agiert hätte als Angela Merkel. Nach der Ansage „Wir schaffen das!“ hätte die Regierung sofort aus einem Guss operativ anpacken müssen. Weil es daran fehlte, scheint jetzt die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin zu wackeln: „Merkel müsste führen, kann es aber nicht“, sagt von Lucke. Sie habe ein Machtvakuum entstehen lassen, das andere aus der Union nun auszufüllen versuchten, allen voran Thomas de Maizière, Wolfgang Schäuble und Horst Seehofer. „Einem Helmut Schmidt wäre das nicht passiert, der hätte die Initiative ergriffen“, so Lucke. Mittlerweile verfüge Merkel nur noch über eingeschränkte Optionen im eigenen Lager, das zunehmend den Druck der AfD spüre: „Die Flüchtlingsfrage wird zur Zerreißprobe für die Union.“
Albrecht von Lucke ist so etwas wie das öffentliche Gesicht der monatlich erscheinenden Blätter. Er tritt als meinungsfreudiger Kommentator regelmäßig in Funk und Fernsehen auf. Auch für die Berliner Republik hat er schon messerscharfe Analysen geschrieben. Über seine eigene Zeitschrift sagt er: „Die Blätter sind Teil der linksliberalen Öffentlichkeit und versuchen zu einer kritischen linken Debatte beizutragen.“ Während andere Zeitschriften aus diesem Spektrum in den vergangenen Jahrzehnten aufgeben mussten, sind die Blätter zuletzt kontinuierlich gewachsen. Einen beträchtlichen Anteil daran hat Lucke, der die seit 1956 existierende Zeitschrift gemeinsam mit anderen nach der Jahrtausendwende revitalisierte, wozu auch der Umzug der Redaktion von Bonn nach Berlin vor gut zehn Jahren beitrug.
Das Café Lenet liegt in der Torstraße, im gleichen Haus wie die heutigen Redaktionsräume der Zeitschrift. Lucke kommt oft hierher, weil man sich in dem Café „gut und ruhig unterhalten kann, ohne die Redaktion wirklich verlassen zu müssen“. Außerdem liebt er den hausgemachten Kuchen – von Schwedischer Apfeltorte bis Käsekuchen. Jeder von uns probiert ein Stück.
Nachdem wir die Nachricht von Schmidts Tod einigermaßen verarbeitet haben, sprechen wir über die politischen Verwerfungen, die die Flüchtlingsfrage seit Monaten hervorruft. Steuert Deutschland angesichts von AfD, Pegida und täglichen fremdenfeindlichen Angriffen auf „Weimarer Verhältnisse“ zu? Diese Gefahr sieht Lucke derzeit nicht. „Es gibt heute keine vergleichbare Demokratieverachtung – im Gegenteil: Die Zivilgesellschaft stärkt derzeit den Staat und die Demokratie.“
Der Jurist und Politikwissenschaftler warnt allerdings vor einer Situation wie in Österreich, wo mangels politischer Alternativen nur noch eine auf Dauer gestellte Große Koalition zwischen den schrumpfenden Sozial- und Christdemokraten möglich ist, während in der Opposition die rechtspopulistische FPÖ erstarkt. Gefährlich sei auf Dauer zudem die zunehmende Gleichgültigkeit vieler Bürger gegenüber der Demokratie und die Entpolitisierung der Mitte. Sinkende Wahlbeteiligung und allgemeine Parteienverdrossenheit seien besorgniserregende Warnsignale. Als besonders problematisch empfindet Lucke die derzeitige Konstellation der Parteien in Deutschland: Sollte Merkel scheitern, müsste „eigentlich eine linke Alternative bereitstehen“. Doch dies sei momentan nicht der Fall.
Damit kommen wir zu Luckes neuem Buch Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken. Die zentrale These: Es drohe eine „amputierte Demokratie“ ohne die echte Alternative einer Regierung jenseits der Union. Der SPD und den Grünen bleibe dann nur noch die Rolle als Mehrheitsbeschafferinnen für die CDU. Schuld an der fehlenden Machtperspektive trage das gespaltene linke Lager selbst, sagt Lucke. Rot-Rot-Grün ist aus seiner Sicht derzeit kein realistisches Projekt, zum einen wegen der niedrigen Umfragewerte der drei Parteien, zum anderen – und vor allem – aufgrund des „Koalitionsverhinderungskurses“ der Linkspartei unter Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht. Dies sei „eine wunder-bare Steilvorlage für die Union und die Alternativlosigkeit zu Angela Merkel.“
Doch Lucke geht auch mit der SPD hart ins Gericht: Während der Kanzlerschaft Gerhard Schröders habe eine „Politik der Entsolidarisierung“ eingesetzt, von der die Partei immer noch nicht genesen sei. Wir von der Berliner Republik sehen das natürlich etwas anders. Einig sind wir uns mit Lucke aber darin, dass das Land eine gestärkte Sozialdemokratie dringend nötig hat. „Die SPD muss eine couragiertere Partei werden, die sich wieder mehr profiliert“, sagt Lucke. Vonnöten seien „nachhaltige Initiativen“ der Parteiführung anstelle eines Zick-Zack-Kurses.
In der Auseinandersetzung mit der Linkspartei solle die SPD vor allem das Erbe Willy Brandts wahren und gegen eine Vereinnahmung von Linksaußen verteidigen – etwa durch Lafontaine. „Zuerst verlässt Lafontaine seine Partei und inszeniert sich dann noch als Brandts Gralshüter, dabei hat der ihm am Ende nicht mal mehr die Hand gegeben.“ Ebenso sauer stößt Lucke die – teils verschwörungstheoretische – Anti-SPD-Haltung bei vielen in der Linkspartei auf, zum Beispiel unter dem Motto: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten“.
Ist eine Vereinigung von SPD und Linkspartei, wie Lucke sie in seinem Buch erwägt, vor diesem Hintergrund nicht absolut utopisch? Der Autor verweist auf ein denkbares Modell wie bei CDU und CSU, bei dem die pragmatischere Ost-Linke mit der SPD zusammengehen könnte.
Was hätte Helmut Schmidt davon gehalten? Wir ahnen es. Im Übrigen sind wir uns einig: Die Blätter und die Berliner Republik werden – mit jeweils eigenen Akzenten – den Zustand und die Chancen des linken Lagers in Deutschland weiterhin genau vermessen.