Wo ist vorne?
Zum 15-jährigen Geburtstag möchte ich die alten Überlegungen beiseite lassen (siehe Berliner Republik 1 /2010) und einen kurzen, frischen Blick auf die alte Frage vom Fortschritt werfen. Es ist in unseren Zeiten – auch im linken Spektrum – keineswegs selbstverständlich, den Gedanken vom Fortschritt zu einem politischen Orientierungspunkt zu machen. Im Gegenteil scheint die Fortschrittsidee in den vergangenen Jahren aus verschiedenen Gründen weiter an Orientierungskraft zu verlieren: In der gesellschaftlichen Psychologie der Dauerkrise, in einer Gesellschaft der Angst, ist die Versuchung groß, den Fortschrittsgedanken zu verabschieden und die ganze Energie auf die (konservative) Bewahrung des Status quo oder auf die (restaurative) Haltung des Rückbaus und Rückzugs zu legen.
Dieser gesellschaftliche Konservatismus, der in Teilen dabei ist, in Restauration umzuschlagen, folgt historisch größeren Linien, hat aber aktuell verschiedene Treiber. Innenpolitisch bestärkt die Verunsicherung der nach wie vor lauernden Wirtschafts- und Finanzkrise wie auch das soziale Auseinanderfallen der Gesellschaft trotz vergleichsweise guter Konjunkturdaten eher eine Psychologie der Besitzstandwahrung und der sozialen Zementierung (der die Große Koalition gerne nachzukommen scheint).
Hinzu kommt mit Blick auf die ökologische Krise aus der saturierten Mittelschicht ein ökonomischer Postwachstumsreflex, der in Teilen den Fortschrittsgedanken gleich mit entsorgt. „Warum denn Fortschritt, wir haben doch mehr als genug“, so die verführerische Ansprache an die Wohlstandsgesättigten und Zivilisationsüberdrüssigen, die gerade selbst – von Harald Welzer bis Nico Paech – zum Verkaufsschlager geworden ist. Eine der Volten dieses Zeitgeists besteht darin, dass vermeintlich private Angelegenheiten nicht mehr zum Gegenstand strukturellen politischen Nachdenkens gemacht werden, sondern dass umgekehrt das Politische privatisiert wird, teilweise in aggressiver Abwendung von den demokratischen Institutionen inklusive der Parteien. Politik- und Parteienverdruss hat ja in Deutschland eine lange (auch intellektuelle) Tradition.
Schließlich hat 2014 das internationale Krisengefühl mit der Eskalation zahlreicher Konflikte – Ukraine, ISIS, Nahost – eine neue Dimension erreicht. Auch hier ist eine restaurative Reaktion zu beobachten, von der abzuwarten bleibt, wie tief sie in der „Mitte“ der Gesellschaft greift. Der lange Weg Deutschlands in den „Westen“ scheint plötzlich nicht mehr ganz so befestigt, wie wir glaubten, und rechts wie links geistert wieder die Idee von Deutschland als neutraler, vermeintlich friedensstiftender Mittelmacht, die die Welt im vergangenen Jahrhundert zweimal mit an den Abgrund geführt hat. An Pegida und AfD zeigt sich nur, was seit den Bestsellern von Thilo Sarrazin und Akif Pirinçci längst klar ist: Auch in Teilen der bundesrepublikanischen Gesellschaft gibt es ein tiefes Unbehagen an der Moderne, an ihrer Pluralität und ihrer demokratischen Verfasstheit.
So weit, so schlecht. Doch all dies sollte uns ein Aufruf sein, den Fortschrittsgedanken neu aufzunehmen, ihn zu verteidigen, und das heißt auch: ihm neue Kontur zu geben. Wir kommen aus der restaurativen Psychologie der Angst nur heraus, wenn wir ihr einen politischen Optimismus der Veränderung zum Besseren entgegensetzen. (Es ist dabei eine spannende Frage, inwieweit die Idee vom Fortschritt auch individuell-biografisch trägt, denn auch wenn im Leben Entwicklung gefragt ist, so muss es doch bei guter Lebenssituation nicht auf ein immer noch Besseres angelegt sein. Mit Blick auf die schreienden Nöte und Sorgen der Welt ist diese Frage für den politisch-gesellschaftlichen Raum jedoch obsolet.)
Der Verweis auf die Notwendigkeit und Möglichkeit einer politischen Veränderung zum Besseren mag trivial erscheinen. Aber er ist es mit Blick auf obige Zeitdiagnose nicht. Mit Bezug auf die globale soziale Situation gilt nach wie vor für Milliarden Menschen: Weniger ist leer. Und niemand in den Schwellenländern wird sich die sozialen Fortschritte bei Wohnung, Heizung, Kühlschrank, Mobilität und Kommunikation wieder abnehmen lassen. Deshalb zählt die Ökologisierung der Industriegesellschaft zum Kern eines substantiierten Fortschrittsgedankens.
Mit Blick auf die kriegerischen Konflikte muss sich Fortschritt an Menschenrechten, Demokratie (als entscheidendem Menschenrecht) und individuellen Freiheitsrechten messen lassen. Das ersetzt nicht eine außenpolitische Realpolitik mit all ihren Abwägungen, Kompromissen und Grenzen, aber es gibt ihr Orientierung und eine Richtung mit Blick auf Vorgehen und Sprache.
Diese beiden Beispiele zeigen, dass Fortschritt schnell zum leeren Begriff werden kann, wenn er sich nicht mit einem konkreten Programm verbindet. Mit dem Optimismus einer Veränderung zum Besseren ist ja noch nicht gesagt, worin dieses Bessere liegen soll. Auch die alte grüne Formel „Nicht links, nicht rechts, sondern vorne“ beruht auf einem kapitalen Kurzschluss. Falsch ist nicht das „Vorne“, sondern die seltsame Idee, man könne das „Vorne“ ohne normativen Kompass, sozusagen freihändig bestimmen.
Daher ist ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Begriff „progressiv“ geboten, wo es sich eher um eine eloquente Plastikvokabel aus dem Politikbetrieb handelt, um Konturlosigkeit und Unterschiede zuzukleistern, anstatt sie produktiv für eine Klärung der eigenen Fortschrittsidee zu nutzen. Gesellschaftspolitisch mag es bei seinen Usern eine gemeinsame Grundintuition geben, mit Blick auf Strategien der sozialen Teilhabe, der ökonomischen Dynamik, erst Recht in der internationalen Politik ist oft sehr vage, was drin ist, wenn „progressiv“ drauf steht.
Die notwendigen Konturen einer reflexiven Fortschrittsidee können nur im lauten Nachdenken entstehen, in der offenen Auseinandersetzung. Die Berliner Republik ist inzwischen ein unverzichtbarer Ort dieser Auseinandersetzung. Dafür Danke und Happy Birthday!
„Der unverrückbare Glaube an Veränderung. Veränderung hin zum Besseren. Es war lange her, dass Scrooge so gedacht hatte. Er hatte sich weitgehend damit abgefunden, dass das Leben ein endloser Kampf war. Die Trostlosigkeit der Welt hatte ihn in den Schatten getrieben. Ungeheuer konnte nur besiegen, wer selbst zu einem Ungeheuer geworden war.“ (Lee Bermejo „Batman: Noël“)