Zehn Jahre Zentrismus - und wie weiter?

Auch das "Netzwerk Berlin" wird zehn Jahre alt. Die Vereinigung sozialdemokratischer Abgeordneter galt schnell als "Schröders junge Truppe" - eher zu Unrecht. Im zweiten Jahrzehnt werden die Netzwerker und ihre Zeitschrift neue Fragen zu debattieren haben

Gegründet in der Aufbruchphase nach dem überwältigenden Wahlsieg Gerhard Schröders 1998 konnte das „Netzwerk Berlin“ beinah elf Jahre sozialdemokratischer Regierungsarbeit begleiten. Mehr Geschichte hat es als Fraktions- und Parteiströmung noch nicht. Mit dem Wahldesaster vom 27. September 2009 beginnt eine neue Zeit, Oppositionsarbeit.

Im Netzwerk sammelten sich zunächst vor allem ehemalige undogmatische Jusos aus den achtziger und neunziger Jahren, die sich nun im Parlament keinem der beiden etablierten Lager, Parlamentarische Linke (PL) und Seeheimer Kreis, anschließen wollten. Die neue Gruppe sollte lockerer organisiert sein, zunächst nicht viel mehr als ein Einladungsverteiler für formlose Treffen, keine Vereinsmeierei, keine Hierarchien. Sie sollte offener sein als die exklusiven Abgeordnetenzirkel: Mitarbeiter aus Ministerien, Bundestagsbüros und Landesvertretungen, Journalisten, Verbandsleute und Wissenschaftler kamen zu den Diskussionsabenden, auch hier viele Ehemalige aus der reformistischen Jusoströmung. Die Debatten waren breiter angelegt, auch Ungewöhnliches schien interessant, Kontroversen waren auszuhalten.

Dafür blieb der politische Output zunächst überschaubar. Man musste sich nicht immer einigen; erst nach und nach wuchs die Freude daran, gemeinsame Initiativen in die Fraktion und in die Partei zu tragen. Die Forderung nach einem neuen Grundsatzprogramm kam 1999 als erstes vom Netzwerk – eine Reaktion auf den Holperstart der neuen Regierung, Lafontaines Flucht aus der Verantwortung und das überraschend veröffentlichte Schröder-Blair-Papier. Wir dachten, das sei Anlass genug, um sich noch einmal neu der sozialdemokratischen Grundsätze zu versichern. Dass es dann acht lange Jahre dauerte, bis der inzwischen fünfte Parteivorsitzende seit 1998, Kurt Beck, das Projekt zum Abschluss brachte, mag einer der Gründe für das zunehmende Leiden der SPD an der eigenen Regierungsrolle gewesen sein.

In der Fraktion hatte das Netzwerk, das sich als zentristisch verstand und auch Doppelmitgliedschaften bei der PL oder Seeheim akzeptierte, vermutlich einen gewissen Anteil daran, dass politische Kontroversen über den Kurs der Regierung nicht zu Spaltungen oder existenziellen Zerwürfnissen führten. Die dritte Gruppe milderte gewissermaßen die Konfrontation der beiden klassischen Flügel. Schröders junge Truppe, wie manche glaubten, war das Netzwerk eher nicht. Was der Kanzler von dieser Art Nachwuchs hielt, machte er auf dem fünfjährigen Jubiläum der Berliner Republik im Jahr 2004 unnachahmlich deutlich: „Und dann schaut man sich um, ob da noch was kommt, und dann guckt man und guckt man. Und dann ist da nichts.“ Zu Kanzlers Zeiten war unsere Truppe jedenfalls kaum das, was stets gern unterstellt wurde: ein Karriere-Netzwerk. Spektakulär erschien wohl der Aufstieg des Netzwerk-Mitgründers Kurt Bodewig zum Bundesverkehrsminister, aber sonst?

Einzigartig ist der Diskussionsbetrieb


Erst die Episode der Großen Koalition nach dem Ende von Rot-Grün brachte viele Netzwerker in zentrale politische Funktionen. Auch manche prominente Sozialdemokraten wie Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und Wolfgang Tiefensee schlossen sich an. Versuche, ein Dauerbündnis Netzwerk/Seeheim als machtvolles „pragmatisches“ Gegengewicht zur Parteilinken zu schmieden, fanden, wann immer darüber diskutiert wurde, im Netzwerk keine Mehrheit. Selbständigkeit und Unabhängigkeit bleiben den meisten sehr wichtig. Weniger als PL und Seeheim ist das Netzwerk „Fraktion“, gewiss mehr als zu Anfang, aber eben weniger als die anderen beiden Gruppen, die nicht nur als Konkurrenz gesehen werden, sondern die selbst in das – politisch ziemlich breite – Netzwerk mit etlichen Mitgliedern hineinragen.

Im Berliner Parlamentarismus einzigartig ist wohl der Diskussionsbetrieb, der rund um die Abgeordnetengruppe herum – zu besten Zeiten 48, heute 35 sozialdemokratische MdBs – organisiert ist. Da gibt es die „eigene“ Kneipe, den „Wahlkreis“, wenn auch gelegentlich ohne festen Standort, aber von Anfang an ein konstitutiver sozialer Beitrag zum Netzwerk als geistiger Lebensform. Da sind die Netzwerk-Jahrestagungen, vielleicht keine mehr so rustikal und uneitel wie die allererste im Jahr 2000 im Schwarzwald. Da sind die „Innovationsdialoge“, die Abende der Berliner Republik auf den Parteitagen, das Sommerfest und die Kurzfilmnacht im Advent.

Und da ist eben die Berliner Republik, unsere eigene Zeitschrift, die im Herbst 1999 zum ersten Mal erschien und deren zehnjähriges Jubiläum wir nun Anfang 2010 nachfeiern, weil im vergangenen Herbst niemandem zum Feiern zumute war. Zunächst in Abgeordnetenhandarbeit zusammengebastelt hat die Zeitschrift längst einen professionellen Standard erreicht, der für solche kleinen Special-Interest-Projekte überhaupt nicht selbstverständlich ist. Ohne Frank Suplie, den – später auf einer Brandenburger Allee mit dem Motorrad tödlich verunglückten – damaligen Geschäftsführer des Vorwärts-Verlages wäre die Gründung nicht möglich gewesen. Mit dem Politikwissenschaftler und Journalisten Tobias Dürr fand sich nach der Startphase ein Chefredakteur, der unzählige gute Kontakte in Wissenschaft und Politik knüpfte, Autoren pflegte, manche wie den US-Star Jedediah Purdy (Berliner Republik 6/2001: „Die universelle Nation“; 6/2002: „Was war Neoliberalismus?“; 2/2008: „Wie sich Aufbruch anhört“) überhaupt erst nach Deutschland holte, und der international vernetzt ist wie wenige Intellektuelle in der Sozialdemokratie. Legendär im Heft sind die Dauerkolumnen der geheimnisvollen Thea Tucher und von Jürgen Neumeyer, dem inzwischen der Verbürgerlichung entgegeneilenden guten Geist des ersten Netzwerk-Jahrzehnts, Geschäftsführer, Kneipier, Organisationsgenie, Zusammenschwatzer. „Neumeyers Nachtleben“ gibt es wohl bald auch als Buch. Zudem die kämpferischen Lieder, die zu vorgerückter Stunde zum Beispiel im „Wahlkreis“ zur Gitarre gesungen werden, hat der Vorwärts-Verlag jetzt als Sammlung veröffentlicht.

In der Berliner Republik haben wir schon über fast alles geschrieben und über vieles gestritten. Das soll so bleiben, mit immer neuen Themen. Woran zu arbeiten wäre, das ist vielleicht die politische Sprache, eine Sprache, die Floskeln und Phrasen vermeidet, die Klischees erkennt, die dem Leser die Neugier des Autors vermittelt, die von den Bedingungen und Regeln der demokratischen Praxis weiß, weniger Vermerk, mehr Feuilleton, weniger Parteitagshaudrauf, mehr lebensnahe Erzählung. Lassen wir uns überraschen! «      

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