Zukunftsfähige Sozialdemokratie?
Die Zukunft der Sozialdemokratie – und besonders die Zukunft der SPD – war das Schwerpunktthema der Berliner Republik in ihrer Ausgabe 6/2013. Die Autorinnen und Autoren schlagen eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen vor, um die Partei zurück zu neuer (und alter) Stärke zu führen. Würden Sozialdemokraten den aufgezeigten Wegen folgen, würde jedoch wahrscheinlicher, dass die SPD im Jahr 2017 ein noch größeres Wahldebakel als 2013 (oder 2009) erlebt. Der Grund ist: Viele der ausgesprochenen Vorschläge ersetzen fehlende politische Weitsicht und Strukturreformen durch kurzfristiges Mehrheitsdenken, das auf rein rechnerischen Strategieüberlegungen basiert.
Zugegeben: Die den Autoren vorgegebene Fragestellung „Wo bitte geht’s zur Mehrheit?“ mag dazu beigetragen haben, dass sich viele von ihnen auf eine „Schnitzeljagd“ nach möglichen Wählergruppen begeben haben. Dennoch verweisen sowohl diese Frage als auch die Argumentation in den Beiträgen auf ein entscheidendes Grundproblem: eine individualisierende Definition des Begriffs „Volk“.
Das „Volk“ wird verstanden als die Summe der ihren individuellen Interessen folgenden Menschen; und die Summe der Menschen, denen es objektiv oder subjektiv nicht so gut geht wie anderen, ergibt die potenzielle Wählerschaft einer sozialdemokratischen Partei wie der SPD. Damit beginnen die Such- und Additionsüberlegungen: Wer könnte zur potenziellen Wählerschaft gehören? Wie groß sind diese Gruppen? Reichen sie für eine Mehrheit?
Colin Crouch zum Beispiel verweist im einleitenden Beitrag des Heftes darauf, dass die traditionelle Wählerschaft der Sozialdemokratie, vor allem die industrielle Arbeiterschaft, weggebrochen ist. Bei den Frauen, die in den mittleren und unteren Segmenten der postindustriellen Dienstleistungsberufe arbeiten und die noch unter Diskriminierung sowie schlechten Arbeitsverhältnissen leiden, sieht er jedoch ein neues potenzielles Wählerreservoir der Sozialdemokratie. Seine Schlussfolgerung: „Der Wiederaufstieg der Sozialdemokratie wird weiblich sein“.
Andere Autoren erweitern die Liste potenzieller Wähler: um arbeitslose Jugendliche, diverse Rentnergruppen, junge Familien, die am Ausbau von Kitaplätzen interessiert sein könnten, Lohn- und Gehaltsempfänger in prekären Arbeitsverhältnissen, und – um zur Mehrheit zu gelangen – die Mittelschicht generell. Es wird vorgeschlagen‚ dass die Partei mehr darüber wissen sollte, wie die Bevölkerung denkt. Ihre „emotionale Botschaft“ sollte „im Einklang mit der Selbstwahrnehmung der Gesellschaft“ stehen (Ernst Hillebrand), um „anschlussfähig“ zu sein (Olaf Scholz). Parteien sollen also dem Beispiel von Privatunternehmen folgen: Umfragen durchführen, herausfinden, was die Leute wollen, und individuelle Interessen bedienen, vornehmlich das verständliche Interesse vieler, ein paar Euro mehr in der Tasche zu haben.
Wichtig ist, was der Gesellschaft insgesamt nutzt
Natürlich sollten Sozialdemokraten dafür kämpfen, dass es den Menschen möglichst bald besser geht. Nur: Die Verabreichung „politischer Heftpflaster“ allein mag Unsicherheit und Armut zwar temporär lindern, um die zugrunde liegenden Ursachen zu bekämpfen, reicht das aber nicht aus. Sie mag der kürzeste Weg zur Mehrheit sein. Aber dabei handelt es sich nicht um Politik, die nachhaltigen Fortschritt erzielen wird.
Dass innovatives, strukturpolitisches Denken in den gegenwärtigen sozialdemokratischen Debatten selten ist, hängt eng mit der Individualisierung des Begriffs „Volk“ zusammen. Sie verstellt den Blick für die öffentlichen Gemeinschaftsgüter und mithin für das, was die Gesellschaft zusammenhält – etwa Frieden, Gerechtigkeit und wohl regulierte Märkte. Die Gemeinschaftsgüter sind wichtig, um Vertrauen haben zu können in Dinge wie die Qualität von Lebensmitteln, in Arbeitsplatz-, Einkommens-, Energie- und Internetsicherheit oder in das Erreichen der gesteckten Klimaziele.
Weil selbst im nationalen Kontext der Begriff der öffentlichen Güter weitgehend in Vergessenheit geraten ist, wird in sozialdemokratischen Analysen auch nur höchst selten auf die wachsende Bedeutung der globalen öffentlichen Güter und die zunehmende Verzahnung der nationalen Politikbereiche verwiesen. Allerdings hat die sich aufgrund fortschreitender Globalisierung vertiefende politische Interdependenz zwischen den Staaten zur Folge, dass effektive Politik nicht mehr nur national ausgerichtet sein kann, sondern die Welt mit berücksichtigen muss – also die globalen Zwänge und Möglichkeiten.
Genau das machen jedoch sozialdemokratische Politikvorschläge, einschließlich der in der Berliner Republik 6/2013 offerierten, kaum. Sie bieten Lösungen an, die potenziellen Wählern vornehmlich kurzfristig und persönlich nutzen – statt der Gesellschaft insgesamt. Wähler werden zu Politikkonsumenten. Und das Hauptziel der Partei reduziert sich auf Stimmenmaximierung, auf das „wir wollen regieren“ (Olaf Scholz). Die „Entschuldigung“, die für diesen Ansatz vorgetragen wird, ist, dass – man höre und staune – heute keine großen Konflikte mehr erkennbar seien (Ernst Hillebrand). Aber wie könnte man diesem – man möchte fast sagen, neo-sozialliberalen, weil individualisierenden – Politikansatz entrinnen?
In früheren Jahren basierte sozialdemokratische Politik sehr wohl auf gesamtgesellschaftlichen Analysen. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit wurde zu dieser Zeit als das Grundproblem betrachtet. Dem Staat fiel die Aufgabe zu, zwischen Kapital und Arbeit zu vermitteln. Im gegenwärtigen Zeitalter der Globalisierung sind die Marktakteure allerdings weltweit mobil. Zudem ist der Staat in vielen Fällen verschuldet und abhängig von den Finanzmärkten. Dadurch hat sich die Gestaltungsmacht der Politik reduziert. Dieser Souveränitätsverlust ist allerdings keine zwingende Folge von ökonomischer Offenheit. Wenn die Staaten es wollten, könnten sie international kooperieren, das heißt gemeinsame Sache machen und die globalen Märkte in einen globalen Ordnungsrahmen einbetten. Immerhin waren es ja die Staaten selbst (und vornehmlich die Industrienationen), die jahrelang verhandelt haben, um Liberalisierung und Privatisierung weltweit durchzusetzen. Jetzt aber zögern sie, den zweiten Schritt zu tun: International zusammenzuarbeiten, um eine bessere Balance zwischen privaten und öffentlichen, nationalen und internationalen Interessen herzustellen. Ihr Argument dagegen ist: „Wir wollen nicht noch mehr Souveränität verlieren.“
Aber ihr Kalkül geht nicht auf. Wie der Governance Report 2013 der Hertie School of Governance gezeigt hat, ist die Konsequenz das „Souveränitätsparadox“: Souveränitätsverlust findet gerade da statt, wo am stärksten auf Souveränität gepocht wird. Denn aufgrund mangelnder multilateraler Kooperation werden Probleme verschleppt, spitzen sich Krisen zu, die – wie die Entwicklungen seit 2008 gezeigt haben – dann nach teuren Rettungsoperationen verlangen und den in vielen Fällen sowieso schon limitierten politischen Spielraum der Staaten weiter einengen. Die Heftpflaster-Politik der kleinen Schritte wird dadurch mehr und mehr zum Normalfall; Investitionen werden vernachlässigt – und Visionen eines besseren Lebens für alle verflüchtigen sich in den politischen Hintergrund.
Internationale Kooperation und globale Fairness
Eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Sozialdemokratie muss sich diesem Dilemma stellen: Es sind auch die Staaten beziehungsweise deren Regierungen, einschließlich der sozialdemokratisch-orientierten, die entscheidend zum gegenwärtigen Ungleichgewicht zwischen Markt und Staat und der Krisenanfälligkeit der Welt beigetragen haben – und immer noch beitragen. Ein Herzstück zukünftiger sozialdemokratischer Politik muss deshalb die verstärkte Bereitschaft zu internationaler Kooperation und globaler Fairness sein. Gerechtigkeit und Solidarität können nicht an nationalen Grenzen haltmachen. Nur wenn internationale Zusammenarbeit allen Beteiligten sinnvoll erscheint, funktioniert sie. Und nur wenn Zusammenarbeit funktioniert, lassen sich die derzeit aufgestauten globalen Probleme effektiv und effizient lösen.
Im Klimabereich beispielsweise ist es selbstverständlich wichtig, dass wir die Energiewende im eigenen Land schaffen und eine führende Rolle auf den „grünen“ Weltmärkten spielen. Aber ohne effektive internationale Kooperation können wir zwar kurzfristig unser Wachstum beflügeln und Arbeitsplätze schaffen, aber wahrscheinlich nicht das Verfehlen des Zwei-Grad-Zieles bei der Erderwärmung verhindern – und somit auch nicht weitere Klimakatastrophen.
Natürlich gilt auch weiterhin, dass alle Politik lokal ist. Aber genau deshalb wird es immer wichtiger, dass Politiker nicht nur die Wünsche der Wähler erfüllen, sondern den Menschen helfen, die heutigen politischen Realitäten zu verstehen. Dazu gehört es unter anderem zu erklären, warum die Bereitstellung öffentlicher Güter, einschließlich der globalen öffentlichen Güter, für das Wohlergehen eines jeden Einzelnen wichtig ist. Denn was nützt ein höheres Einkommen und ein schnelleres Auto, wenn man Opfer eines Terrorangriffs wird, die nächste Finanzkrise das Wirtschaftswachstum zusammenbrechen und die Arbeitslosigkeit steigen lässt, oder die nächste Flutwelle Hab und Gut davonspült?
Statt der Mehrheit passiv zu folgen, sollten Politiker lieber langfristige Perspektiven aufweisen und zur Diskussion stellen, selbst wenn dies manchmal unbequem ist und nicht direkt in die Regierung führt. Eine unbequeme Wahrheit, die mehr öffentlich diskutiert werden sollte, ist beispielsweise, dass sich das globale Reservoir an Arbeitskräften schnell vergrößert, auch das der hoch qualifizierten Kräfte. Die Zahl attraktiver Wirtschaftsstandorte in den emerging markets wächst ebenfalls. Wie stellen wir uns mithin die Handelsströme im Jahre 2020 oder 2030 vor? In welchen Produktionsbereichen werden Deutschland und andere europäische Nationen dann noch aktiv und wettbewerbsfähig sein? Diese und viele andere Fragen müssen beantwortet werden, wenn Kitas nicht nur bis kurz nach der Wahl im Jahr 2017, sondern auch noch für die Kinder und Enkel unserer Kinder bezahlbar bleiben sollen, wenn das Rentensystem stabil bleiben soll und prekäre Arbeitsverhältnisse nicht zu-, sondern abnehmen sollen. Kurzum: Die entscheidende Frage ist nicht „Wo geht’s zur Mehrheit?“, sondern „Wie stärken wir die Zukunftsfähigkeit der Sozialdemokratie?“.
Die Welt befindet sich heute an einem Wendepunkt: Die globale Ära der neoliberalen Politik verlangt immer dringlicher nach einem genuinen sozialdemokratischen Pendant. Das wäre eine Globalisierung der Politik, die die Effizienz der Märkte durch bessere Regulierung und mehr Fairness unterstützt. Die erforderlichen Veränderungen sind nicht revolutionär. Mehr Kooperation ist machbar. Mehr Fairness würde sich auszahlen, weil man die enormen Kosten der Bewältigung von Krisen sparen würde.
»Das gute Leben«? Gute Idee – aber dann bitte für alle!
Wenn die Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert, besonders die SPD, wieder erstarken soll, muss sie primär diese Fragen beantworten: Wie ist der Gegensatz von Kapital und Arbeit im gegenwärtigen Zeitalter der Globalisierung auszubalancieren? Ist er überhaupt noch der entscheidende Gegensatz? Wie werden sich die weiteren, bereits erkennbaren technologischen Erneuerungen auf die Berufswelt und Beschäftigungsstrukturen auswirken? Welche Veränderungen wären im internationalen Handelsregime, im Patentrecht oder in der Finanzarchitektur und anderen zwischenstaatlichen Abkommen vorzunehmen, um bestehende Herausforderungen schneller, effektiver, gerechter und effizienter zu lösen? Wie lässt sich sicherstellen, dass verstärkte Kooperation in von Interdependenz gezeichneten Politikfeldern nationalstaatliche Souveränität tatsächlich stärkt? Wie genau unterscheiden sich traditionelle Außenpolitik, Entwicklungspolitik und die hier angedachte Globalpolitik? Und ganz wichtig: Wie wäre es möglich, dass wir unsere Vorstellungen eines guten Lebens realisieren können – aber andere Nationen und Menschen ebenso?
Die Liste der aus sozialdemokratischer Perspektive noch nicht beantworteten Fragen ist lang. Um Antworten darauf zu finden, wäre ein nächster möglicher Schritt eine Ausgabe der Berliner Republik mit dem Schwerpunktthema „Wie stärken wir die langfristige Zukunftsfähigkeit der Sozialdemokratie?“.