Bayerische Verhältnisse
Das Wahlergebnis vom 22. September lehrt uns Manches. Vieles ist bereits beschrieben und diskutiert worden. Ja, es gab ein offenkundiges Missverhältnis zwischen dem Kampagnenziel – der Remobilisierung von 2005 und 2009 verlorenen Wählern – und einem Spitzenkandidaten, der die Agenda-SPD wie kaum ein anderer persönlich verkörperte. Und sicherlich war für Peer Steinbrück nach seinem verpeilten Start ein Ausbrechen aus den negativen Stereotypen kaum mehr möglich: dead man walking, zehn Monate lang. Das Verschwinden einer echten rot-grünen Machtperspektive hat ebenso wenig geholfen wie der Versuch der Grünen, in den Wählermilieus der SPD zu wildern. Und auch die Quarantäne-Strategie gegenüber der Linkspartei ist offenkundig an ihr Ende gekommen: Der Plan, den Leuten nur lange genug zu verdeutlichen, dass eine Stimme für „Die Linke“ eine verschenkte, weil machtpolitisch sterile Stimme ist, beginnt sich gegen uns selbst zu wenden. Ohne Bündnisfähigkeit mit der Linkspartei ist auch eine Stimme für die SPD machtpolitisch relativ unwirksam, weil man dafür bestenfalls CDU light in Form einer Großen Koalition bekommen kann.
Aber all dies reicht nicht aus, um die Niederlage und ihr Ausmaß zu erklären. Die Ursachen hierfür liegen auf einer anderen Ebene. Das Hauptproblem des Kampagnensommers 2013 lag darin, dass die SPD völlig an der emotionalen Befindlichkeit des Landes vorbei operiert hat. Dabei war diese nicht schwer zu lesen: Jede Art von demoskopischer Untersuchung deutete darauf hin, dass die Mehrheit der Deutschen mit Land und Leuten im Reinen war (und ist). Das hatte nichts mit dem „Schlafwagenwahlkampf“ der CDU zu tun, sondern mit grundlegenden ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen, anhand derer Menschen ihre Situation bewerten. Die Marktforscher des Kölner Rheingold-Instituts beschrieben kurz vor der Wahl die Stimmung in Deutschland mit dem Begriff eines „bedrohten Paradieses“; es dominiere eine Sehnsucht „nach der permanenten Gegenwart“, weil man Veränderungen potenziell als bedrohlich empfinde: „Der Wunsch, das bedrohte Paradies Deutschland aufrechtzuerhalten, eint derzeit die politischen Lager.“ Eine Vielzahl von Daten – von der Einschätzung der persönlichen ökonomischen Situation bis zum Konsum- und Investitionsklima – zeigten ein Land, das sich ökonomisch und politisch als Insel der Stabilität auf einem krisengeschüttelten Kontinent sah. Gerade einmal acht Prozent der Bevölkerung äußerten sich im September 2013 pessimistisch in Bezug auf ihre persönliche ökonomische Zukunft. Die Gesellschaft für Konjunkturforschung beschrieb die ökonomische Stimmungslage kurz vor der Wahl folgendermaßen: „Trotz des gesunkenen Einkommensoptimismus äußern sich die Verbraucher hinsichtlich ihrer Konsumneigung geradezu euphorisch. Sie halten den Moment für günstig, gerade größere Anschaffungen zu tätigen. Eine stabile Beschäftigungslage sorgt dafür, dass die Angst der Beschäftigten, ihren Job zu verlieren, gering ist.“
Wahlkampf für ein ausgedachtes Land
Haben wir wirklich für dieses Land Wahlkampf gemacht? Oder für ein ganz anderes, imaginiertes? Es ist ja keineswegs so, dass eine positive Grundstimmung für eine sozialdemokratische Wahlkampagne zwingend ein Problem darstellt. Im Gegenteil: Zum moralischen Skandal werden Prekarisierung und Niedriglöhne ja gerade deswegen, weil es der Wirtschaft und den Unternehmen derzeit so hervorragend geht. Noch einmal ein Zitat von den Rheingold-Marktforschern: „Parteiübergreifend geben 81 Prozent der Wähler an, dass soziale Gerechtigkeit das primäre Ziel der Bundesregierung sein sollte. Im linken Lager der Probanden gelten Solidarität, soziales Engagement, Fairness und Chancengleichheit als Kernwerte eines Landes, das ‚guten Gewissens‘ mit sich im Reinen ist. Auch hier ist man stolz darauf, dass Deutschland bislang der Krise trotzen konnte und möchte weiterhin Stabilität.“ Das Grundproblem der Kampagne der SPD war, dass sie diese Stimmung im Lande komplett ignorierte. Ganz selten nur war der Versuch erkennbar, den Stolz der Menschen auf das von ihnen Geleistete und Geschaffene zu adressieren und zur Basis eines sozialdemokratischen Politikentwurfes zu machen.
Die Zwänge, unter denen eine Oppositionskampagne in dieser Hinsicht immer steht, sind klar: Sie muss kritisieren und kann nicht affirmieren. Und dass Habitus und Auftreten des Kandidaten in dieser Hinsicht nicht hilfreich waren, ist ebenfalls unübersehbar. Dennoch: Ein anderes Framing der Kritik wäre möglich gewesen. Aber dazu wäre eine konsequente Rhetorik und Symbolik der „Anerkennung“ (Axel Honneth) für die Leistungsstärke und die geleisteten Konsolidierungsanstrengungen dieses Landes notwendig gewesen. Eine positive Kampagne wäre so unglaublich einfach gewesen, weil es ja tatsächlich die SPD war, die viele der Prozesse, die Deutschland gut durch die Krise haben gehen lassen, politisch konzipiert und organisiert hat: nicht immer optimal, aber immer in bester Absicht für Land und Leute. Und nicht ganz ohne Effekte. Wir hätten sagen können: „Leute, Ihr seid gut, aber Ihr werdet unter Wert regiert. Ihr schafft all die tollen Dinge, die die ganze Welt haben will. Ihr seid Exportweltmeister. Und Ihr habt ein Recht darauf, auch Entlohnungs-, Bildungs- und Lebensqualitätsweltmeister zu sein.“ Aber all dies haben wir liegen lassen und stattdessen eine Wahlkampagne ohne Empathie und positive Symbolik gefahren.
Diesen Fehler hat die Union nicht begangen. Vielmehr hat sie das Land sehr clever in seiner Befindlichkeit abgeholt. Im Grunde hat sie ein anderes Spiel gespielt als wir. Dies gilt auch für das negative Framing der Person Peer Steinbrück oder die skrupellose „Pädophilie“-Kampagne gegen die Grünen: Hier ging es nie um die Sache, sondern ausschließlich darum, die moralische Glaubwürdigkeit der anderen Seite zu beschädigen. Zentral aber war, dass die Kampagne ganz systematisch auf ein positives Grundgefühl und eine „Wir sind Deutschland“-Botschaft ausgerichtet war, bis hin zur „Schland-Kette“ im TV-Duell und den Deutschland-Fahnen auf der Siegesfeier der CDU am Wahlabend. Vor dem Hintergrund des „Mit-sich-im-Reinen-Seins“ des Landes und der verbreiteten Wahrnehmung (des von der SPD und den Grünen als Alternative stilisierten) EU-Europas als Quelle von Problemen und Gefahren war das alles ziemlich vernünftig. Und entsprechend erfolgreich.
Die CDU: Schutzpartei eines bedrohten Paradieses
Die wirklich beunruhigende Perspektive angesichts des Ergebnisses vom 22. September sind „bayerische Verhältnisse“. Die CDU ist dabei, das positive „Wir-Gefühl“, das in Deutschland seit einigen Jahren existiert (man denke an die WM 2006), für sich zu monopolisieren. Die Partei versucht, zur „Deutschland-Partei“ zu werden, zur „natural party of government“ des bedrohten Paradieses. Und die SPD droht zur Nörgler-Partei zu werden, die sich an Land und Leuten nicht erfreuen kann, mehr Brüssel als Berlin will und ständig nur das halb leere Glas sieht. Das Muster für eine solche „Deutschland-CDU“ ist eine CSU, die sozialpolitisch wenig hat anbrennen lassen, in allen Bevölkerungsmilieus (nicht zuletzt der Arbeitnehmerschaft) verankert ist, die ökonomischen Erfolge Bayerns für sich reklamiert und zugleich den identitären Lokalpatriotismus des Landes geradezu für sich allein vereinnahmt hat. Was eine solche Entwicklung für die SPD bedeuten würde, muss man hier nicht ausführen.
Die größten Dummheiten, die wir momentan begehen können, wären zweierlei: uns erstens einzureden, es gäbe eigentlich eine gesellschaftliche Mehrheit für unsere Politik, die wir leider nur nicht aktivieren konnten. Das Wahlergebnis sagt etwas anderes: Es gibt derzeit keine Mehrheit links einer sozial- und gesellschaftspolitisch gewendeten CDU. Das bürgerliche Lager (CDU, FDP, AfD) hat klar mehr Stimmen erhalten, als das linke (SPD, Grüne, Linke, Piraten). Der zweite Fehler wäre uns zu suggerieren – wie es Trittin für die Grünen betrieben hat – der Wähler sei nur zu dämlich gewesen, die Schönheit unserer Positionen zu begreifen. Es war leider andersrum: Das linke Lager war zu dämlich, die Stimmung der Wähler aufzugreifen.
Das Land mag sich. Für die SPD gilt das weniger
Daher müssen wir dringend darüber nachdenken, wie wir wieder zu einer glaubwürdig positiven Grundpositionierung gegenüber der deutschen Wirklichkeit kommen. Arbeitsmarktentwicklung, Weltmarktpositionierung deutscher Unternehmen, demografische Trends: alles deutet darauf hin, dass der relativ gute wirtschaftliche Lauf, den das Land aktuell hat, noch eine ganze Weile andauern wird. Und es ist wichtig, sich klar zu machen, wo Deutschland gesellschaftspolitisch steht. Großkonflikte wie diejenigen, die die Entwicklung nach 1945 immer wieder prägten – die Teilung des Landes und die ideologische Konfrontation des Kalten Krieges, die Aufarbeitung des Faschismus und der Generationenkonflikt der Nachkriegszeit, die Studentenrevolte und die „bleierne Zeit“ des Terrorismus, die Konflikte um Kernenergie, Nachrüstung und ökologische Zukunftsfähigkeit in den achtziger Jahren – sind im Moment nicht erkennbar. Die Wiedervereinigung ist mental, ökonomisch und politisch weitgehend verarbeitet. Symbolisch kommt dies auch darin zum Ausdruck, dass die beiden höchsten Staatsämter mit „Ossis“ besetzt sind, ohne dass dies irgendjemanden besonders bewegen würde. Die Reformen der nuller Jahre sind in ihrer politischen Sprengkraft entschärft, weil sich die Lage am Arbeitsmarkt verbessert hat und die Reallöhne seit 2007 – nach fast zwanzig Jahren der Stagnation – endlich wieder steigen. Die Diskussion um Zuwanderung und ihre Folgen hat sich seit der Sarrazin-Debatte deutlich beruhigt. Gleichzeitig lassen die tiefe Krise in weiten Teilen der Eurozone und die hartnäckigen Erfolge der deutschen Wirtschaft das Land als einen Hafen der ökonomischen und politisch-administrativen Stabilität in einem zunehmend instabilen Kontinent erscheinen.
Die deutsche Linke braucht – so schwer es ihr fallen mag – für diese Stimmung eine positive, nach vorne blickende politische Botschaft. Damit soll keineswegs einer Relativierung der sozioökonomischen Fehlentwicklungen in diesem Lande das Wort geredet werden. Aber wir müssen die Kritik an diesen Fehlentwicklungen mit einer positiven emotionalen Botschaft für eine Bevölkerung verbinden, die mit diesem Land grundsätzlich im Reinen ist. Und die, auch das gehört zum Bild, momentan zumindest von „Europa“ nichts Gutes erwartet. Auf Landes- und Kommunalebene hat die SPD mit diesen Dingen kein Problem, sondern immer nur „NRW im Herzen“. Analoges muss uns auf bundespolitischer Ebene in intelligenter Form ebenfalls gelingen. Sonst werden wir auch in Zukunft nicht wesentlich über die Werte des 22. September hinauskommen. Dann ist Bayern überall.
Dieser Text gibt die persönliche Auffassung seines Autors wieder.