Zukunftsfester Standort Deutschland?
Auf den ersten Blick geht es Deutschland prächtig. Die wichtigsten Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren für 2017 ein solides Wachstum von rund 1,5 Prozent. Das sollte genügen, um die Arbeitslosenzahl niedrig zu halten und die Steuereinnahmen weiter sprudeln zu lassen. Die Bundesrepublik, so die gängige Lesart in Regierungskoalition und Wirtschaftspresse, kann nun den Lohn für die Reformbemühungen der Nullerjahre einstreichen. Das Land ist wettbewerbsfähiger geworden, und das zahlt sich aus in Form von Exporterfolgen, Rekordbeschäftigung und Haushaltsüberschüssen. Wenn sich jetzt endlich auch noch unsere europäischen Partner am deutschen Wesen ein Beispiel nehmen würden, wäre alles gut.
So möchten wir Deutschen uns selbst gerne sehen. Doch diese Selbstgerechtigkeit ist längst zum Problem geworden. Sie ist nämlich nur zu einem gewissen Teil berechtigt. Ja, die Hartz-Reformen haben ihren Teil dazu beigetragen, dass Deutschland innerhalb von nur zehn Jahren vom kranken Mann Europas zur Konjunkturlokomotive des Kontinents geworden ist. Gerade Sozialdemokraten sollten nicht aufhören, auf diese Reformen stolz zu sein. Doch dass es Deutschland so gut geht, haben wir nur etwa zur Hälfte unserer eigenen Leistung zu verdanken. Zur anderen Hälfte verdanken wir die deutsche Sonderkonjunktur einer Institution, die viele Deutsche am liebsten für alles Elend in der Welt verantwortlich machen würden: der Währungsunion und der Europäischen Zentralbank (EZB) unter Mario Draghi.
Deutschlands Stärke ist nicht nur hausgemacht
Hätte Deutschland noch die D-Mark, wie es sich so viele Nostalgiker weiterhin erträumen, hätte der gewaltige Exportüberschuss Deutschlands längst zu einem steilen Anstieg der deutschen Währung geführt. Unser Wettbewerbsvorteil bei den Arbeitskosten wäre durch diesen Wechselkurseffekt zunichte gemacht worden und die deutsche Sonderkonjunktur längst zum Erliegen gekommen. Umgekehrt hätten Euro-Staaten wie Griechenland oder Italien, deren angebliche Reformunfähigkeit wir heute so gerne beklagen, durch eine Abwertung ihrer nationalen Währung automatisch an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen. Auch die in Deutschland so verteufelte Niedrigzinspolitik von Mario Draghi trägt zum kleinen deutschen Wirtschaftswunder bei. Völlig zu Recht richtet Draghi seine Geldpolitik an den Bedürfnissen der gesamten Eurozone aus. Würde die EZB ihre Geldpolitik nur für Deutschland machen, hätten wir längst wieder höhere Zinsen, was die deutsche Sonderkonjunktur ebenfalls bremsen würde.
Dass es Deutschland so gut geht, hat also längst nicht so viel mit unserer eigenen Leistung zu tun, wie wir es uns gerne suggerieren. Es liegt eben auch an der wirtschaftlichen Schwäche im Rest Europas. Je länger dieses Ungleichgewicht andauert, desto größer ist die Gefahr, dass es zu politischen Erschütterungen führt, die dann auch die deutsche Sonderkonjunktur beenden.
Der Chor der Unzufriedenen schwillt weiter an
Denn die größten Konjunkturrisiken sind derzeit politischer Natur. Alle paar Monate zittern wir, weil irgendwo in der Welt eine Parlamentsabstimmung, ein Referendum oder eine Präsidentschaftswahl anstehen, deren Ergebnisse ökonomische Schocks auslösen könnten. Großbritannien will aus der EU austreten und dafür notfalls sogar den Zugang zum Binnenmarkt riskieren – die wirtschaftlichen Folgen werden wir spätestens dann spüren, wenn der Euro-Staat Irland zurück in die Rezession fällt, weil er plötzlich von seinem wichtigsten Handelspartner Großbritannien abgeschnitten ist. In den Vereinigten Staaten wurde überraschend Donald Trump ins Weiße Haus gewählt. Dass die Börsen seine Kür gelassen aufnahmen, zeigt nicht etwa, wie harmlos Trump für die Weltwirtschaft ist, sondern wie sehr sie an der Droge von immer neuen Schulden und immer weiterem Raubbau an der Umwelt hängt: Trump verspricht Steuersenkungen und will gleichzeitig mehr Geld ausgeben, vor allem für die Bauindustrie. Und er verspricht, Schluss zu machen mit dem Internationalen Klimaschutzabkommen. Langfristig ist das ein Selbstmordprogramm, kurzfristig handelt es sich um einen weiteren Schuss von der Schuldendroge für die schwerstabhängige Weltwirtschaft.
Die nächsten politischen Stolperscheine sind bereits in Sicht: In Italien muss Ministerpräsident Matteo Renzi am 4. Dezember ein Referendum bestehen, das bei einer Niederlage zu einem Rücktritt seiner Reformregierung führen wird, wie Renzi angekündigt hat. Womöglich reicht das bereits als Auslöser, um die Zinsen italienischer Staatsanleihen so weit ansteigen zu lassen, dass Italien seine Schulden nicht mehr bedienen kann. In den Niederlanden könnte im März 2017 die Partei für die Freiheit von Geert Wilders zur stärksten Fraktion im Parlament aufsteigen. In Frankreich dürfte es die Rechtsradikale Marine Le Pen im Frühjahr in die Finalrunde der Präsidentschaftswahlen schaffen, eine erklärte Gegnerin von Euro und EU. Kommt sie an die Macht, dürfte die Achse Berlin-Paris endgültig zerbrechen, die trotz aller Differenzen in den vergangenen Jahren die Währungsunion zusammengehalten hat.
Es kann auch sein, dass all diese Ereignisse glimpflich ausgehen. Aber wir sollten uns doch fragen, warum in letzter Zeit so häufig solche Wahlausgänge drohen: In immer mehr Staaten scheint ein immer größerer Teil der Bevölkerung mit den herrschenden Eliten unzufrieden zu sein. Immer häufiger sind die Wähler bereit, für Positionen, Parteien oder Personen zu stimmen, die wir im gehobenen politischen Diskurs gerne als „populistisch“ abtun.
Hier schließt sich der Kreis: Politische Krisen haben derzeit das größte Potenzial, um die wirtschaftliche Entwicklung zu stören. Doch diese politischen Krisen haben wiederum ökonomische Ursachen. Menschen sind unzufrieden mit dem, was ihnen zum Leben bleibt. Sie haben das Gefühl, dass andere das System ausnutzen – dieser Zorn kann Flüchtlinge, Investmentbanker oder „Pleitegriechen“ treffen. Es herrscht die Ansicht, dass man den hart arbeitenden Bürgern Jobunsicherheit und bestenfalls stagnierende Reallöhne zumutet, während sich andere die Taschen vollmachen. In der Mittelschicht wiederum nähren die Niedrigzinsen den Eindruck, dass deutsche Ersparnisse schleichend entwertet werden, damit andere Staaten ihre Schuldenmacherei fortsetzen können. Jeden einzelnen dieser Vorwürfe kann man als unfundiert, unsolidarisch oder gar weinerlich abtun. In seiner Gesamtheit jedoch bildet dieser anschwellende Chor der Unzufriedenen auch wirtschaftlich ein Alarmsignal.
Mütterrente und Herdprämie zum Frühstück
Wenn nur eine der vielen politischen Disruptionen, die sich da abzeichnen, die Konjunktur einbrechen lässt, dann hat Europa kaum noch Instrumente zum Gegensteuern. Die Zinsen liegen bereits bei Null oder sogar darunter. Die offizielle Schuldenobergrenze von 60 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung ist in fast allen EU-Staaten überschritten – auch in Deutschland.
Irgendwann wird man allen, die in den wechselnden Koalitionen Merkels mitregiert haben, die Frage stellen: Wie habt ihr eigentlich diese Jahre genutzt, in denen es Deutschland so gut ging, als die Steuereinnahmen sprudelten und die Regierung eine satte Mehrheit hatte? Habt ihr Deutschland zukunftsfest gemacht und das langfristige Wachstumspotenzial des Landes durch Investitionen gestärkt? Die Chancengerechtigkeit verbessert? Oder habt ihr das Geld verfrühstückt für Mütterrente, Herdprämie und Elbphilharmonie?
Derzeit wird in Deutschland eindeutig zu viel Geld für Wahlgeschenke und Prestigeprojekte ausgegeben. Demgegenüber sind die viel zu niedrigen Investitionen die Schwachstelle des deutschen Wirtschaftswunders. Und mit Investitionen meine ich nicht das, was sich Politiker häufig darunter vorstellen: ein paar Milliarden hernehmen und davon neue Straßen bauen. Die wohlfeile Verwandlung von Steuern in Beton löst nicht das deutsche Problem. Die Baukonjunktur dreht derzeit ohnehin auf Hochtouren, weil es die billigen Zinsen Bauherren leicht machen, sich Geld zu leihen.
Was in Deutschland fehlt, sind echte Investitionen von Unternehmen in neue Anlagen, Geschäftsmodelle und Arbeitsplätze. Solche Investitionen können nicht aus Steuergeldern kommen, sie müssen aus privatem Kapital finanziert werden. Und das macht sich derzeit rar. Der Präsident des Sachverständigenrats der Bundesregierung, der Ökonomieprofessor Christoph Schmid, hat in diesen Tagen wieder darauf hingewiesen: Privates deutsches Kapital strömt zu oft ins Ausland. Dies ist die Kehrseite des Exportüberschusses: Jeder Euro, für den Deutschland mehr Waren aus- als einführt, führt auf der anderen Seite der Leistungsbilanz zwangsläufig dazu, dass die entsprechende Menge Geld ins Ausland abfließt, anstatt im Inland investiert zu werden. Das Gemeine an diesen privaten Investitionen ist, dass sie sich nicht einfach per politischem Federstrich umleiten lassen. Sie fließen dorthin, wo private Investoren die größten Wachstumschancen vermuten. Und das ist offenbar nicht in der Bundesrepublik.
Die Exportüberschüsse der deutschen Wirtschaft sind also nichts, worauf wir stolz sein sollten. Sie sind ein permanentes Misstrauensvotum der Kapitalmärkte gegen die Zukunftsperspektiven am Standort Deutschland. Die restliche Welt findet uns offenbar nicht so super wie wir uns selbst.
Für die Investitionszurückhaltung sieht Schmid vor allem zwei Gründe: zum einen die hohen Energiekosten am Standort Deutschland infolge der Energiewende. Sie machen in vielen Branchen Investitionen unrentabel. Neue Aluminium- und Kupferhütten etwa entstehen nun einmal eher dort, wo Strom billig ist. Zum anderen nennt Schmid die sinkende Zahl an jungen Fachkräften. Wer nicht weiß, mit welchen qualifizierten Arbeitskräften er seine neue Büroetage oder seine Fabrik in Deutschland füllen soll, der baut lieber anderswo.
Bei den Fachkräften fällt die Politikempfehlung leicht. Deutschland braucht endlich ein Einwanderungsgesetz mit Punktesystem nach Qualifikation und Alter, wie es die Sozialdemokraten nun fordern. Zum anderen muss Deutschland endlich ernstmachen mit seinem immer wieder erklärten Vorsatz, niemanden im Bildungssystem zurückzulassen. Das muss für neu angekommene Flüchtlinge ebenso gelten wie für jene, die hier geboren wurden oder schon lange in unserem Land leben. Es mangelt in diesem Bereich nicht an guten Ideen, eher schon an der politischen Ausdauer zu ihrer Verwirklichung.
Macht das investieren in Deutschland attraktiv!
Schwerer fällt die Antwort bei den Energiekosten aus. Hier kann es sicher nicht progressive Politik sein, die Energiewende einfach zurückzudrehen, wie es Donald Trump vorschwebt. Wahrscheinlich gehört zu einer ehrlichen Antwort, dass besonders energieintensive Branchen am Standort Deutschland tatsächlich keine optimalen Wachstumschancen mehr haben werden. Doch ein viel zu großer Anteil an den gestiegenen Energiekosten ist auch dadurch zustande gekommen, dass wechselnde Bundesregierungen nicht immer den effizientesten Weg gewählt haben, um den Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid zu verringern. Unter dem Einfluss mächtiger Lobbygruppen floss zum Beispiel zu viel Geld in Solar- und Windkraftwerke und zu wenig in Anreize fürs Energiesparen. Zugleich machten willkürlich anmutende Ausnahmeregelungen für vermeintlich energieintensive Unternehmen (zu denen bisweilen auch Golfplätze zählten) den Strom für all jene teurer, die nicht unter diese Sonderklauseln fallen. Die meisten Unternehmen sind ja gar nicht darauf angewiesen, dass die Energiepreise in Deutschland konkurrenzlos niedrig sind. Sie wollen für ihre Investitionen vor allem Planungssicherheit.
Es gibt noch weitere Möglichkeiten, um Deutschland für private Unternehmen attraktiver zu machen: weniger Bürokratie für Firmengründer, weniger Wettbewerbsbeschränkungen, bessere Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen in Forschung und Entwicklung. Um einem gerne gepflegten linken Vorurteil zuvorzukommen: Keine dieser Maßnahmen hat etwas mit der Einschränkung von Arbeitnehmerrechten zu tun. Im Gegenteil, nur eine Politik, die privaten Investitionen Vorfahrt einräumt, schafft nachhaltig Arbeitsplätze und stärkt so die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer. Sie ist progressiv im besten Sinne – und das beste Rezept gegen den anschwellenden Populismus.