Amerikas Geschichte birgt viel Stoff für die Zukunft
Seit der Ermordung von John F. Kennedy hat sich das Bild der Vereinigten Staaten in Europa verdüstert. Die Präsidentschaft seines Nachfolgers Lyndon B. Johnson stand im Zeichen des eskalierenden Vietnamkrieges; die Studentenbewegung in Europa sah in der Johnson- oder später der Nixon-Regierung sowie im politischen System der USA überhaupt ihre Antipoden. Ein enttäuschter Max Frisch notierte im April 1968: „Da die amerikanische Invasion in Vietnam nicht ein persönlicher Fehler von Kennedy oder Johnson gewesen ist, sondern die Konsequenz eines Herrschaftssystems, das die Unterdrückung anderer Völker braucht, um zu bestehen, ändert der Rücktritt von Johnson wenig, ein System hat sich entlarvt, und die Revolutionen gegen dieses System werden wachsen.“
Die Innen- und Außenpolitik Richard Nixons vergrößerte die Distanz zwischen einer kritischen europäischen Öffentlichkeit und den Vereinigten Staaten zusätzlich. Dass die Regierungen von Gerald Ford und Jimmy Carter die amerikanische Politik zu korrigieren versuchten, wurde kaum wahrgenommen. Jedenfalls veränderte sich das Amerikabild nicht, allenfalls nahm man später die vermeintliche Naivität des „Erdnussfarmers“ spöttisch zur Kenntnis. Und es kam noch schlimmer: Ronald Reagan wurde schon während des Präsidentschaftswahlkampfes 1980 zu einem Feindbild, wobei seine martialische Rhetorik (jedenfalls in der ersten Amtszeit) ihr Übriges tat. George W. Bush und sein War on Terror waren der Tiefpunkt. An der wachsenden Entfremdung konnten auch die Präsidenten George H. W. Bush und Bill Clinton wenig ändern, die in dieser Reihe ein Intervall europäisch-amerikanischer Verständigung darstellen: gemäßigt konservativ im Fall der Zusammenarbeit zwischen Bush Senior und Helmut Kohl; gemeinsam der „Neuen Mitte“ verpflichtet im Fall von Bill Clinton und Gerhard Schröder. Selbst die anfängliche Verehrung Barack Obamas schlug erst in Enttäuschung und zuletzt in heftige Kritik um.
Willy Brandts Amerikabild
Die Vereinigten Staaten sind Europa und den sozialistischen und sozialdemokratischen Kräften allemal heute fremder als je zuvor. Vor diesem Hintergrund ist die vorliegende Bestandsaufnahme der Beziehungen zwischen der Sozialdemokratie und den Vereinigten Staaten zu lesen. Dieser Befund gilt für die deutsche und europäische Gesellschaft insgesamt, aber in besonderer Weise für die Sozialdemokratie. Höchste Zeit also, das „sozialdemokratische Bild“ der Vereinigten Staaten von Amerika genauer auszuleuchten. Dies wurde mit großer Detailgenauigkeit bisher nur für die Person und die Politik Willy Brandts geleistet, der auch in dem Sammelband einen wichtigen Platz einnimmt. Der erste sozialdemokratische Bundeskanzler steht im Mittelpunkt der drei Beiträge von Judith Michel, Daniela Münkel und Bernd Schäfer. Allerdings: Vieles von dem, was hier zu lesen ist, konnte man schon in Judith Michels vorzüglicher Studie Willy Brandts Amerikabild und –politik 1933-1982 aus dem Jahr 2010 lesen. Die Aufsätze des Buches bieten wenig Neues: Willy Brandt sah in den Vereinigten Staaten nicht nur die Schutzmacht im Kalten Krieg, sondern er erkannte im dortigen politischen System auch ein Vorbild für demokratische Veränderungen.
Interessanter ist der Versuch der Autoren, einen großen historischen Bogen zu schlagen. Dies macht die Lektüre jedoch nicht unbedingt einfach. Eine Vielzahl von Themen über einen langen historischen Zeitraum hinweg wird erörtert. Am Anfang stehen wie selbstverständlich Karl Marx und Friedrich Engels. Schon die Begründer und Vordenker der sozialistischen Bewegung haben sich mit der amerikanischen Gesellschaft und Politik, und vor allem mit dem amerikanischen Bürgerkrieg auseinandergesetzt.
Marx erkannte, dass sich im Laufe des Bürgerkrieges die Kriegsziele veränderten: vom Erhalt der Union zur Sklavenbefreiung und Neubegründung der Republik. Konnte diese Politik „revolutionär“ sein? Diese Frage stellen Beatrix Bouvier und Andrew Zimmerman in zwei Beiträgen, allerdings ohne sie letztlich zu beantworten. Marx verkannte die Bedeutung Abraham Lincolns für die Fortentwicklung der Republik, er versäumte aber auch, die grundlegend anderen gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen in den USA gerade im Vergleich zum viktorianischen England zu analysieren. Seine Überlegungen zum Bürgerkrieg hingegen sind bis heute lesenswert.
Als Wilhelm Liebknecht auf den Spuren von Alexis de Tocqueville wandelte
In den Vereinigten Staaten entwickelte sich im 19. Jahrhundert keine sozialistische oder sozialdemokratische Partei. Die seit den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstandenen Gewerkschaften hatten somit keinen politischen Arm. Kleine Parteien waren oft anarchistisch geprägt und konnten über längere Zeit keinen Einfluss erlangen. Dennoch war die amerikanische Republik für deutsche Sozialisten von besonderer Bedeutung. Dies gilt gerade für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Jürgen Schmidt ordnet Wilhelm Liebknechts Reise in die Vereinigten Staaten in einen transnationalen Kontext ein und liefert damit einen der interessantesten und erhellenden Beiträge des Buches. Liebknecht und später auch sein Sohn interessierten sich für die amerikanische Gesellschaft, die sie auf ausgedehnten Reisen kennenlernten. Die Beschreibungen dieser Erfahrungen erinnern an die berühmte Reise von Alexis de Tocqueville durch die Vereinigten Staaten und an den Besuch Max Webers in wichtigen amerikanischen Städten. Die übrigen Beiträge sind fast wie eine Materialsammlung zu verstehen. In ihnen geht es um die Bedeutung der Vereinigten Staaten für die gegenwärtige Sozialdemokratie und ihre wichtigsten Vertreter.
Inklusion als amerikanische Erzählung
Einige wichtige Punkte kommen in dem Sammelband zu kurz. Denn: Die Vereinigten Staaten sind ihrem Selbstverständnis nach eine egalitäre Gesellschaft. Mithin lässt sich ihre Vergangenheit auch als eine Geschichte sich ständig erweiternder Inklusion und Emanzipation beschreiben. Oft sprechen amerikanische Historiker und Politiker von einer Abfolge von Revolutionen. Am Anfang steht die große Revolution des späten 18. Jahrhunderts, der daraus resultierende Unabhängigkeitskrieg und die bis heute gültige Verfassung von 1787/88. Die Politik Thomas Jeffersons, der seinen Wahlsieg im Jahr 1800 selbst als „Revolution of 1800“ bezeichnete, und die Demokratisierung des Landes während der Präsidentschaft Andrew Jacksons (Jacksonian Revolution) setzten die ursprüngliche Revolution in den Augen ihrer Protagonisten fort. Der Bürgerkrieg vor allem die Emanzipationserklärung und der 13. Verfassungszusatz war ein weiterer Schritt auf diesem Weg der Revolutionen. Die Sozial- und Wirtschaftspolitik Theodore Roosevelts und Woodrow Wilsons, vor allem aber der New Deal stehen für die Entwicklung des amerikanischen Sozialstaates. Und gerade diese „Revolutionsgeschichte“ lässt sich auch als eine Geschichte der Inklusion von ethnischen Gruppen wie der Iren, der Italiener, der Afroamerikaner oder der Hispanics erzählen, ebenso wie von religiösen Gruppen wie Katholiken oder Juden. Diese Themen sind sozialdemokratischem Denken sehr nahe. Wenn es um die Formulierung sozialdemokratischer Politik geht, ist die intellektuelle Geschichte der Vereinigten Staaten reich an fruchtbaren Themen. Hier bleiben die Beiträge des Sammelbandes vage; die Detailuntersuchungen bedürften einer Synthese. Die Leitfragen wären dann wohl: Wie ist das amerikanische Freiheits- und Gleichheitsverständnis zu verstehen? Wo muss Kritik ansetzen? Und was ist daraus zu lernen? Diese Geschichte ist noch nicht erzählt.
Werner Kremp, Michael Schneider (Hrsg.), Am Sternenbanner das Geschick der Arbeiterklasse: 150 Jahre Beziehungen zwischen deutscher Sozialdemokratie und den USA, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2013, 308 Seiten, 28,50 Euro
(Diese Rezension ist am 4. September 2014 als Online-Spezial-Beitrag der Berliner Republik erschienen.)