In dubio pro homo
Um seine Ostpolitik zu beschreiben, sprach Willy Brandt gern von „Möglichkeitsdenken“. Es ging ihm um die Konzeption einer Politik, die stets von der Realität ausgeht und diese zum Ausgangspunkt nimmt, um neue Möglichkeiten der politischen Gestaltung zu entdecken. In Phasen, in denen die SPD ihrem konzeptionellen Denken in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik diese Prämisse zugrunde legte, gelang der Entwurf einer kohärenten Strategie meist gut.
Nach einigen theoretischen Vorüberlegungen beginnt Michael Herkendell seine Studie zur außen- und sicherheitspolitischen Orientierung der SPD mit einer dokumenten- und literaturgesättigten Darstellung der außenpolitischen Positionen der Partei von 1945 bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Dieser Schnelldurchlauf durch die Parteigeschichte und die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik der Nachkriegszeit ist umfassend und informativ – aber man hat das alles auch schon anderswo gelesen.
Eine genauere Analyse widmet Herkendell der Zeit „zwischen Nato-Doppelbeschluss und Berliner Programm (1982–1989)“. Denn spätestens der Sonderparteitag der SPD im November 1983 nahm eine deutliche Korrektur in der Außen- und Sicherheitspolitik der Partei vor: Nur noch 13 von 400 Delegierten waren bei der Abstimmung über die Stationierung von (neuen) atomar bestückten Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden bereit, der von Helmut Schmidt geführten Regierung zu folgen, die bis September 1982 amtierte. Herkendell kritisiert die sozialdemokratischen außen- und sicherheitspolitischen Positionen hart, die auf diesen Beschluss folgten. Die Kernelemente dieser Politik seien realitätsblind gewesen, etwa die Forderung nach der Schaffung einer chemie- und kernwaffenfreien Zone in Mitteleuropa, die „Sicherheitspartnerschaft“ mit der DDR oder das diese Maßnahmen als Kernpunkte enthaltende Konzept einer europäischen Friedensordnung.
»Friedenspartei« und »Raketenpartei«
Rückblickend mag man das vielleicht so interpretieren. Aber in der ersten Hälfte der achtziger Jahre war dieses Konzept in erster Linie der Versuch, der erneuten Eskalation des Kalten Krieges entgegenzuwirken (und vor allem der amerikanischen Politik nach dem Amtsantritt Ronald Reagans). Denn im Dezember 1979 waren sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschiert und – damit verbunden – sowjetisch-amerikanische Rüstungsabkommen gescheitert. In diesem Kapitel ist die Darstellung Herkendells in gewisser Weise „unhistorisch“. Seine Kritik der SPD erfolgt aus heutiger Sicht und nicht aus einem Verständnis der politischen Anforderungen der Zeit und Situation heraus, in der diese „friedenspolitische“ Konzeption entwickelt wurde.
Innerparteilich war diese Neuformulierung der außen- und sicherheitspolitischen Grundsätze auch eine Reaktion auf die Entwicklung der SPD von der „Friedenspartei“ zur „Raketenpartei“, seitdem die Beschlüsse der vier wichtigsten westlichen Staaten (die Bundesrepublik eingeschlossen) bei ihrem Treffen auf Guadeloupe im Januar 1979 und die Empfehlungen der High Level Group der Nato die „Nachrüstung“ endgültig festlegten. Das bedeutete die Aufstellung von 108 Pershing-II-Raketen und 96 Cruise Missiles in der Bundesrepublik.
Die SPD stellte sich nun dieser einst von Helmut Schmidt vertretenen Politik entgegen. Die weltpolitischen Ereignisse am Ende der achtziger Jahre änderten die Ausgangssituation der deutschen (und westlichen) Politik jedoch bald grundlegend: nicht nur das Ende des Kalten Krieges und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, sondern auch die Kriege im zerfallenden Jugoslawien, der irakische Einfall in Kuwait und ein immer virulenter werdender Terrorismus.
In seinen theoretischen Vorüberlegungen erläutert der Autor jüngere Konzepte zur Beschreibung von Typen außen- und sicherheitspolitischer Orientierung. Wichtig für Herkendells Argumentation ist die Diskussion um die Definition einer zivilmachtsorientierten Politik, die sich Schritt um Schritt zu einer friedensmachtorientierten Politik verändert. Sie bietet ein konzeptionelles Gerüst für seine Überlegungen zu einer sozialdemokratischen Außen- und Sicherheitspolitik und schließlich zu einer Beschreibung der Außenpolitik der Regierung Schröder / Fischer nach 1998.
In der grundlegenden Ausrichtung der Politik ähneln sich beide Konzeptionen. Der Ausgangspunkt ist die Definition der Zivilmacht. Herkendell übernimmt im Wesentlichen die definitorische Beschreibung von Hanns W. Maull und Knut Kirste (1997): „Eine Zivilmacht ist ein Staat, dessen außenpolitisches Rollenkonzept und Rollenverhalten gebunden sind an Zielsetzungen, Werte, Prinzipien sowie Formen der Einflussnahme und Instrumente der Machtausübung, die einer Zivilisierung der internationalen Beziehungen dienen.“
Das Konzept der Friedensmacht ergänzt diese Aufgabenbeschreibung der Außen- und Sicherheitspolitik um eine militärische Komponente. Die Vertreter der Friedensmacht-Konzeption betonen die Notwendigkeit von Konfliktprävention durch die Vertiefung internationaler Organisationen und Kooperationsformen. Dabei wird dem Militärischen eine im Regelfall ergänzende Rolle, in bestimmten Konfliktsituationen jedoch durchaus die entscheidende Rolle zugewiesen.
Von der Zivil- zur Friedensmacht
Der Übergang von der Zivil- zur Friedensmachtkonzeption beschreibt die konzeptionelle Entwicklung der sozialdemokratischen Außenpolitik seit 1990/91 recht gut. Hatte die SPD im Zuge der Weiterentwicklung ihrer friedensorientierten Sicherheitspolitik auf dem Bremer Parteitag 1991 als ultima ratio außenpolitischen Handelns lediglich Blauhelmeinsätze der Bundeswehr im Rahmen eines Mandats der Vereinten Nationen akzeptiert, so wurde bereits 1995 dem Einsatz deutscher Tornados im Bosnien-Krieg zugestimmt. Vorangegangen war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 1994 zur Verfassungsmäßigkeit militärischer Einsätze.
Die rot-grüne Regierung setzte diese Politik fort und sprach sich im Spätherbst 1998 für einen Nato-Einsatz mit deutscher Beteiligung im Kosovokrieg aus. Ein Einsatz, der durch kein UN-Mandat legitimiert war. Diese Politik entwickelte sich schnell fort: Dieselbe Regierung beteiligte sich an der Operation Enduring Freedom und war zu einem langfristigen, auch militärischen Engagement in Afghanistan bereit. Rot-Grün ging aber noch einen Schritt weiter. Im Vorfeld des Irak-Kriegs trat die Regierung Schröder dem Unilateralismus der USA entgegen und stellte sich gegen den amerikanischen Führungsanspruch. Dass diese politischen Schritte zusammen und als Einheit einer friedensmachtorientierten Politik zu sehen sind, ist eine Stärke der Studie. In einer solchen Detailgenauigkeit und in dem notwendigen Zusammenhang war dies noch nicht zu lesen.
In seinem Resümee stellt Herkendell noch einmal die Grundlage dieser Politik vor, erweitert um moralische Grundsätze: „Nicht mehr ‚in dubio pro securitate‘, sondern ‚in dubio pro homo‘ könnte ein Ansatz sein, mit dem die SPD wieder zur außenpolitischen Avantgarde werden könnte.“ Dem ist zuzustimmen, aber ein schlüssiges Konzept für eine sozialdemokratische Außenpolitik in den Jahren nach 2013 liegt damit noch nicht vor.
Michael Herkendell, Deutschland: Zivil- oder Friedensmacht? Außen- und sicherheitspolitische Orientierung der SPD im Wandel (1982–2007), Bonn: J. H. W. Dietz 2012, 301 Seiten, 39,90 Euro