"Freiheit stirbt mit Sicherheit"
Im Dezember 2009 rügte der Europäische Menschengerichtshof in Straßburg die deutsche Praxis der so genannten Sicherungsverwahrung. Im Besonderen beanstandeten die Richter die nachträglich angeordnete, zeitlich nicht befristete Sicherungsverwahrung – im Jahr 2004 dem Strafgesetzbuch hinzugefügt. In der vorausgegangenen Debatte hatte sich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder für eine Regelung ausgesprochen, wonach Sexual- und Gewaltstraftäter bis an ihr Lebensende „weggesperrt“ werden sollten. Nun ist eine solche nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung folgenreich: Nach Verbüßung der Strafe werden oft vor mehr als einem Jahrzehnt Verurteilte auf Grundlage einer Prognose über zukünftiges Verhalten in Haft gehalten. Laut dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ist diese Regelung nicht vereinbar mit der schon 1950 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten und zwei Jahre später auch ratifizierten Europäischen Menschenrechtskonvention. Eine nachträgliche Sicherungsverwahrung betrachtet das Gericht als eine Doppelbestrafung (Haftstrafe und anschließende Sicherungsverwahrung) mit Rückwirkungscharakter (die Regelung findet in vielen Fällen aus den Jahren vor 2004 nachträglich Anwendung).
In der Debatte um die Sicherungsverwahrung stellt sich die Frage nach dem Stellenwert der Sicherheit bei der Ausgestaltung des Rechts. Denn die Freiheit des Bürgers steht immer in einem Spannungsverhältnis zu seiner Sicherheit. Diese Balance ist nicht immer einfach zu halten. Dieses Thema steht im Mittelpunkt der Arbeiten des Frankfurter Strafrechtlers Peter-Alexis Albrecht. In einem mehr als Tausend Seiten umfassenden Buch hat der Rechtsgelehrte nun eine Bilanz seines jahrzehntelangen Nachdenkens über Gesellschaft, Recht und Strafe vorgelegt. Sein Fazit – so viel vorweg – ist pessimistisch: „Freiheit stirbt mit Sicherheit.“ Die doppelte Bedeutung dieses Satzes spricht für sich. Albrecht beklagt seit langem den Niedergang eines politischen Handelns, das rechtsstaatlichem Denken verpflichtet ist. Er sieht dies als eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte: Aus dem „sozial-integrativen Strafrecht des Wohlfahrtsstaates“ (so seine Kennzeichnung des Strafrechts), wie er sich seit Ende der sechziger Jahre und vor allem in den siebziger Jahren durchgesetzt hatte, wird eine Rechtsordnung der „Sicherheitsgesellschaft“.
Bereits der Kampf gegen die RAF veränderte die politische Kultur
Die Debatte um die Reform der Sicherungsverwahrung hat dies in den vergangenen Monaten noch einmal vor Augen geführt: Im Vordergrund des Denkens steht der Primat der Sicherheit – nicht die Verteidigung der Freiheits- oder Beteiligungsrechte des Einzelnen. Die (meist diffuse) Angst vor in den Medien immer drastischer und detaillierter geschilderten Gefahren, die jeden Bürger bedrohen können, werden zur Grundlage (rechtspolitischen) Handelns.
Die Folge: Albrecht konstatiert einen schon länger andauernden, schleichenden Auflösungsprozess des Rechts. Dieser Prozess ist gekennzeichnet von zahlreichen neuen Gesetzen oder Novellierungen bestehenden Rechts und stellt die (rechts)politische Reaktion dar auf die Bedrohungsszenarien der vergangenen Jahrzehnte. Dabei lassen sich zwei einschneidende Ereigniszusammenhänge benennen: In den siebziger Jahren stand die bundesrepublikanische Politik vor der Frage, wie auf den bewaffneten Kampf der RAF gegen die politische Ordnung des Staates geantwortet werden konnte. Albrecht vertritt die Auffassung, dass die Anti-Terrorismus-Gesetzgebung jener Jahre „einen Beitrag zu der Vorstellung geleistet hat, die Bundesrepublik befinde sich quasi in einem Krieg mit dem politischen Terrorismus, der mit den Mitteln der Repression gewonnen werden könne“. Unterstellt, diese Annahme wäre richtig, erforderte dies in der Tat eine umfassende Änderung bestehender Straf- und Strafprozessrechte.
Die Auseinandersetzung zwischen RAF und Staat, so Albrecht, veränderte in der Folge unsere politische Kultur, mithin auch die Rechtskultur. Sicherheit – wie auch immer definiert – bekam einen Stellenwert, der konträr zur Freiheit des einzelnen Bürgers stand. Zwar gelang es der Politik, nicht zuletzt durch die besonnene Führung von Bundeskanzler Helmut Schmidt und Justizminister Hans-Jochen Vogel, in der Auseinandersetzung mit der RAF und anderen politisch ähnlich organisierten und entsprechend handelnden Gruppen die Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen (eine Leistung, die Albrecht nicht ausreichend würdigt). Jedoch schuf man einen Präzedenzfall. In der Hierarchie der Ziele staatlichen Handelns stieg die Sicherheit empor.
Die Sicherheitsverwahrung ist nur das jüngste Glied in der Kette
Die Anschläge des 11. September 2001 führten schließlich zur Wirkmächtigkeit eines neuen Bedrohungsszenarios – nämlich des globalen islamistischen Terrorismus – das nicht mehr in gleicher Weise wie die Ereignisse der siebziger Jahre beherrschbar war. Aus Albrechts Sicht waren die Anschläge auf das World Trade Center auch „für das rechtsstaatliche Strafrecht weltweit ein schwarzer Tag“.
Das führte zu einer verhängnisvollen Erweiterung: Das Sicherheitsdenken, das sich nun durchsetzte, beschränkte sich nicht auf eine Bekämpfung des Terrorismus. Sicherheit wurde zu einer politischen Prärogative, die alle Lebensbereiche erfasste. Gesetze wurden verändert, Überwachungsmechanismen gestärkt. Auch alte, gegenüber Etatismus oder umfassenden Sicherheitskonzepten eher skeptische Gesellschaften veränderten sich, an erster Stelle die Vereinigten Staaten und Großbritannien. In Deutschland erfasste das neue Sicherheitsdenken vor allem das Strafrecht und die mit seiner Durchsetzung betrauten Institutionen. Die Auseinandersetzung um die Sicherungsverwahrung ist lediglich das letzte Beispiel.
Albrechts Buch ist das Fazit eines langen Gelehrtenlebens. Die darin enthaltenen Texte und in das Buch eingefügte frühere Publikationen sind ein Vademekum der jüngsten deutschen Rechtsgeschichte. Sie sind eingebunden in den biografischen Kontext des wissenschaftlichen Werkes des Autors – ein ungewöhnliches und mutiges Verfahren für ein juristisches Buch. Auf Albrecht trifft zu, was der große Rechtsgelehrte Gustav Radbruch von jedem guten Juristen verlangt hat: ein gehöriges Maß an Sensibilität und Skepsis. Radbruch drückte diesen Anspruch in einer berühmten Sentenz aus: „Ein guter Jurist kann nur der werden, der mit einem schlechten Gewissen Jurist ist.“ Radbruch wie Albrecht wussten (und wissen), dass Strafrecht „immer Herrschaftsinstrument der Macht“ ist. Dies ist nicht zu ändern, aber es bedarf des Korrektivs der Menschen-, Bürger- und Freiheitsrechte. «