Diesmal ist es wirklich ernst

Der Niedergang der USA ist schon oft vorausgesagt worden. Josef Braml erläutert, warum es in Amerikas gegenwärtiger Krise ans Eingemachte geht

Die hegemoniale Stellung Amerikas in der Weltpolitik ist in Gefahr. Die Regierung Barack Obama hat die anhaltende wirtschaftliche Rezession noch immer nicht unter Kontrolle gebracht. Hinzu kommen die Abhängigkeit vom importierten Öl, die Krisen in der Automobilindustrie und in der Immobilienbranche, die Arbeitslosigkeit und der Zerfall des Sozialsystems.

Allerdings wird die Rolle der Vereinigten Staaten als Hegemon in periodischen Abständen infrage gestellt. Eine Begleiterscheinung der These vom Verlust der hegemonialen Stellung ist die Prognose einer Erschütterung des internationalen Systems. Kein anderer Staat wäre derzeit in der Lage, die Aufgaben einer „wohlwollenden“ Hegemonialmacht wahrzunehmen: für einen weitgehend freien Welthandel zu sorgen; eine allgemein akzeptierte und stabile Leitwährung zu Verfügung zu stellen; Sicherheit zu schaffen sowie Institutionen zu etablieren und zu führen, die diese Ordnung gestalten.

Hegemon im Niedergang

Auch die meisten Kritiker der hegemonialen Ordnung bestreiten nicht, dass die Vereinigten Staaten diese öffentlichen Güter für lange Perioden der Nachkriegszeit bereitgestellt und die politische und wirtschaftliche Ordnung der westlichen Welt bestimmt haben. Aber diese Funktion war keine gleichbleibende Konstante der amerikanischen Politik: Mit dem Zerfall der Bretton-Woods-Struktur änderte sich das Weltwirtschaftssystem bereits zwischen 1971 und 1973 tiefgreifend – und schon damals wurde die Hegemonie der USA zur Disposition gestellt. Ende der achtziger Jahre, als das Handelsbilanz- und Haushaltsdefizit bedrohliche Formen annahm, beschworen viele Publikationen sogar den Niedergang, und deren Autoren fragten besorgt nach den Folgen für die internationale Politik. Gegenwärtig erleben wir eine weitere Episode dieser Diskussion. Ist Josef Bramls Buch Der amerikanische Patient also nichts Neues unter der Sonne?

Die Frage nach der Bedeutung Amerikas für die Ordnung der Weltpolitik entspringt oft der Sorge über die Folgen, die ein amerikanischer „Rückzug“ für die Stabilität des internationalen Systems hätte. Oder der Befürchtung, die USA würden den Wert der transatlantischen Beziehungen in Zukunft geringer einschätzen als die Bedeutung des pazifischen Raumes. Zudem ist die Sorge um den Niedergang tief in der amerikanischen Geistesgeschichte verwurzelt. Seit der Gründung der Republik wird immer wieder über den drohenden Zerfall der Vereinigten Staaten und ihrer republikanisch-demokratischen Ordnung gesprochen. Die Jeremiade ist ein Genre der amerikanischen politischen Literatur. Josef Bramls Buch ist ein Blick von außen – und dieser Tradition deshalb streng genommen nicht zuzuordnen. Seine Analyse weist aber viele Topoi auf, die auch in den „Niedergangsdebatten“ vergangener Zeiten zu lesen waren.

Bramls Analyse ist in den zentralen Punkten zuzustimmen. Die wirtschaftliche, soziale und politische Ordnung der USA ist von Problemen gekennzeichnet, die – zusammengenommen – durchaus Anlass zu einer düsteren Prognose geben können. Das zentrale Problem ist die wachsende soziale Spaltung. Das Einkommensgefälle zwischen den wenigen Reichen und den Haushalten mit mittleren oder geringen Einkommen hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten signifikant vergrößert. Laut Gini-Index ist Schweden das Land mit der geringsten Ungleichheit, während in Singapur die größte Ungleichheit herrscht. Die USA liegen mit dem zweitschlechtesten Wert direkt über Singapur.

Droht nach Obama der Dammbruch?

Die Einkommensunterschiede sind nicht nur der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Ordnung geschuldet, sondern Ergebnis einer gezielten Politik. Zu Beginn der achtziger Jahre führte die „Reagan Revolution“ zu einem planmäßigen Rückbau des Sozialstaates und einer Steuerpolitik, die die Reichen begünstigte. Reagan sprach explizit davon, „vor“ die Sozialmaßnahmen des New Deal zurückgehen zu wollen. Damit wurde die Umverteilung von unten nach oben eingeleitet: Wie Andrew Hacker jüngst in der Zeitschrift New York Review of Books vorrechnete, verloren seit 1985 die unteren 60 Prozent der amerikanischen Haushalte 4 Trillionen Dollar, während das Einkommen der obersten 5 Prozent der Haushalte um die gleiche Summe stieg.

Zum anderen wurde in der Ära Reagan die Idee von Regierung und Regulierung grundlegend diskreditiert. Motto: „Government is not the solution, it is the problem.“ Selbst Bill Clinton sprach später davon, die Zeit umfassenden Regierungshandelns sei vorbei. Der Rückzug des Staates führte nicht nur zu einem Verfall der Infrastruktur und zu weniger Umweltschutz, sondern auch zu einer Krise des staatlichen Bildungssystems. Von diesen Entwicklungen waren die wirtschaftlich schlechter gestellten Gruppen – häufig hispanische Einwohner und Afroamerikaner – in besonderer Weise betroffen. Erstmals seit Jahrzehnten wurde Armut wieder ein amerikanisches Problem.

Gegenwärtig verstärken sich diese Schwierigkeiten. Die Wirtschaftskrise und die hohe Arbeitslosigkeit führen dazu, dass soziale Abstiege häufiger geworden sind als soziale Aufstiege. Und erstmals in der jüngeren amerikanischen Geschichte sind großen Teilen der Bevölkerung Aufstiegsmöglichkeiten gänzlich verwehrt. Braml beschreibt diese Zusammenhänge nüchtern und genau. Wünschenswert gewesen wäre allenfalls eine stärkere politische Verortung der gegenwärtigen Probleme.

Bereits in seiner Inaugurationsrede wies Präsident Obama auf die politischen Gründe der aktuellen Krise hin. Seine Politik ist der Versuch, die „Reagan Revolution“ rückgängig zu machen – was seine konservativen und marktliberalen Gegner sehr wohl erkannt haben. Dies erklärt zum Teil den Hass, den Obama auf sich zieht. Und es erklärt die Blockadepolitik der Republikaner, die eben nicht nur das Ergebnis eines wachsenden Einflusses radikaler Gruppen und Figuren aus dem Umfeld der Tea Party ist. Die Republikaner haben den politischen Konsens der amerikanischen Gesellschaft aufgekündigt. Ihr Bruch mit der amerikanischen Politik seit den Reformen am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie mit dem New Deal ist das Ergebnis eines langen Prozesses; an dessen Ende steht die irreversible Neuformierung einer politischen Kraft.

Mit Blick auf die amerikanische Außenpolitik betont Braml zu sehr die Kontinuitäten als das Neue. Natürlich konnte die Regierung Obama nicht mit allen Facetten der „Post-9/11-Politik“ brechen. Doch immerhin führte Obama die USA in einen multilateralen Kontext zurück, reaktivierte die Beziehungen zu Russland und versuchte eine Annäherung an die islamische Welt. Die Außen- und Sicherheitspolitik passte sich den amerikanischen Möglichkeiten an.

Dennoch ist Bramls Buch ein gelungenes Unterfangen. Seine Beobachtungen sind nüchtern, und der Autor geht mit vielen Bereichen der amerikanischen Politik kritisch um. Trotz der sachlichen Sprache des Autors spürt man die Sympathie für ein Land, das mit seiner größten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise seit der Depression der dreißiger Jahre kämpft.

Josef Braml, Der amerikanische Patient: Was der drohende Kollaps der USA für die Welt bedeutet, München: Siedler Verlag 2012, 224 Seiten, 19,90 Euro


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