Wer kochte Adam Smiths Abendessen?
Wie kommt Ihr Abendbrot auf den Tisch? So lautet die Grundfrage der Ökonomie. Sie mag einfach klingen, ist aber überaus knifflig. Die meisten von uns produzieren nur einen Bruchteil dessen, was wir tagtäglich konsumieren. Den Rest kaufen wir ein. Unser Brot kommt aus den Supermarktregalen, und wenn wir eine Lampe anknipsen, versorgt uns die Steckdose prompt mit Strom. Doch nur zwei Brotlaibe oder ein Kilowatt Strom erfordern die koordinierte Aktivität Tausender Menschen auf der Welt.
Da wäre der Bauer, der Weizen anbaut, um ihn an die Brotfabrik zu verkaufen. Die Firma, die die Plastiktüten produziert, in denen das Brot abgepackt wird. Und natürlich die Brotfabrik, die das Brot an Ihren Supermarkt ausliefert. Jeder einzelne Schritt ist eine unabdingliche Voraussetzung dafür, dass an einem gewöhnlichen Dienstagmorgen Brot in Ihrem Supermarktregal liegt – nicht zu vergessen die Menschen, die Werkzeuge herstellen, Lebensmittel transportieren, Autos reparieren, Supermärkte reinigen und die Regale einräumen.
Der gesamte Prozess muss zu einer gewissen Zeit, in einer gewissen Reihenfolge und mit einer gewissen Regelmäßigkeit erfolgen, damit die Regale stets reichlich gefüllt sind. Selbstredend gilt dies nicht nur für jedes Brot, sondern auch für Bücher, Luftballons und überhaupt alles, was wir kaufen oder verkaufen wollen. Moderne Ökonomien sind eine ziemlich verzwickte Angelegenheit. Und aus genau diesem Grund stellen Ökonomen sich die Frage: Was hält alles zusammen?
Die Ökonomie wurde häufig als eine Wissenschaft beschrieben, in der es um die Frage geht, wie sich Liebe konservieren lässt. Die Grundidee lautet: Liebe ist ein knapp bemessenes Gut. Seinen Nächsten zu lieben kostet Energie, vom Übernächsten einmal ganz zu schweigen. Folglich gilt es, achtsam mit der Liebe umzugehen und sie nicht zu vergeuden. Verwenden wir sie als Treibstoff für unsere Gesellschaft, bleibt fürs Privatleben nichts mehr übrig. Liebe zu finden ist schwer – sie zu bewahren umso schwerer. Darum, dachten sich die Ökonomen, musste die Gesellschaft auf ein anderes Fundament gestellt werden. Warum nicht auf unseren Egoismus? An dem schien es nun wahrlich nicht zu mangeln. Adam Smith, der Begründer der klassischen Nationalökonomie, brachte im Jahr 1776 jene Worte zu Papier, die unsere moderne Sichtweise auf die ökonomische Welt prägen sollten: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.“
Smith ging davon aus, dass ein Metzger schlachtet, um seine Kunden zufriedenzustellen und Geld zu verdienen. Nicht, weil er nett sein möchte. Der Bäcker und der Brauer verrichten ihre Arbeit nicht aus Nächstenliebe, sondern um ihre Kassen zum Klingeln zu bringen. Wenn Brot und Bier gut munden, werden sie auch in Zukunft gekauft werden. Und genau das sei, so Smith, der einzige Grund, warum der Bäcker und der Brauer ihre Waren produzieren. Was sie antreibt, sei ihr Eigeninteresse. Auf unser Eigeninteresse ist stets Verlass, da es in Hülle und Fülle vorhanden ist. Im Gegensatz zur Liebe, denn die ist Mangelware. Sie reicht nicht für die Gesellschaft und sollte am besten in einer Konservendose für den Privatgebrauch aufbewahrt werden. Sonst verdirbt alles.
In der Ökonomie geht es um ein Menschenbild
Frage: „Was ist hundert Meter lang, langsam wie eine Schnecke und ernährt sich ausschließlich von Kohl?“ Antwort: „Die Schlange vor einer Bäckerei in der Sowjetunion.“ Wie in der Sowjetunion wollen wir es nicht haben. Adam Smith erklärte, warum freie Märkte der beste Weg zu einer effektiven Wirtschaft seien. Smiths Ideen von Freiheit und Autonomie waren revolutionär und radikal. Weg mit den Zollgebühren und Preisregulierungen! Ließe man dem Markt einfach nur freien Lauf, behauptete Smith, würde die Wirtschaft, angetrieben vom menschlichen Eigeninteresse, laufen wie ein Uhrwerk. Weil jeder um sein eigenes Wohl besorgt ist, erhält die Allgemeinheit die Waren, die sie benötigt. Das Brot liegt im Brotregal, der Strom surrt durch die Leitungen – und Sie bekommen Ihr Abendbrot. Das Eigeninteresse des Einzelnen hält die Gesamtheit zusammen, ohne dass jemand daran denken müsste. Wie durch Zauberhand. Und genau diese Theorie wurde zu einer der größten Erzählungen unserer Zeit. Die frühe Ökonomie war überzeugt, das Getriebe der Welt werde von unserem Eigeninteresse zum Laufen gebracht. „Das erste Prinzip der Wirtschaftslehre besagt, dass jeder Akteur allein durch sein Eigeninteresse angetrieben wird“, stellten Ökonomen gegen Ende des 19. Jahrhunderts fest. Die moderne Ökonomie wurde auf dem „Granit des Eigeninteresses“ errichtet, und wir durften sie bestaunen.
In der Ökonomie ging es nicht um Geld, sondern von Beginn an um ein Menschenbild, eine Geschichte. Die Geschichte davon, dass wir unser Handeln darauf ausrichten, aus einer Situation, pardon, jeder Situation als Gewinner hervorzugehen. Und von allen Annahmen, die daraus folgten. Und das ist noch immer der Ansatzpunkt der ökonomischen Standardtheorien. Wenn wir im Alltag davon sprechen, „wie ein Ökonom zu denken“, haben wir folgendes Bild vor Augen: Menschen handeln, wie sie handeln, um Profit daraus zu schlagen. Kein sonderlich schmeichelhaftes Bild, aber das wahrhaftigste. Und will man irgendwann am Ziel ankommen, beginnt man am besten mit der Wahrheit. Die Moral führt uns vor Augen, wie wir die Welt gern hätten, Ökonomen dagegen sprechen aus, wie sie wirklich aussieht. Zumindest behaupten sie das. Viel mehr müssen wir nicht wissen. So bestreiten wir unser Leben, und so wird die Gesellschaft zusammengehalten. Wie von einer unsichtbaren Hand. Das ist das große Paradox. Und wie wir alle wissen, spricht Gott gern in Paradoxa zu uns.
Die „unsichtbare Hand“ ist die wahrscheinlich bekannteste Metapher der Ökonomie. Formuliert hat sie Adam Smith, doch es waren die Ökonomen nach ihm, die sie in einem weiteren Sinne gebrauchten. Die unsichtbare Hand berührt alles, steuert alles, sie ist in allem und bestimmt alles – und dennoch ist sie weder sicht- noch spürbar. Sie greift nicht von oben oder unten in etwas ein, stochert herum und verrückt die Dinge. Sie entsteht aus und zwischen den Handlungen und Entscheidungen der Individuen. Sie ist es, die das System ankurbelt – aus seinem Innern heraus. Dieser Gedanke war für die Ökonomen jüngerer Zeit sehr viel zentraler, als er für Adam Smith selbst war. Wenngleich der Vater der Nationalökonomie den Ausdruck in seinem Werk Der Wohlstand der Nationen nur ein einziges Mal gebraucht, dient er der modernen Ökonomie und ihrem eigentümlichen Universum heute als Fundament.
Die Naturgesetze der Gesellschaft
Ein Jahrhundert ehe Adam Smith von der unsichtbaren Hand berichtete, hatte Isaac Newton seine Philosophiae Naturalis Pricipia Mathematica (Mathematische Prinzipien der Naturlehre) veröffentlicht. Darin erklärte der Astronom, Mathematiker, Naturwissenschaftler und Alchemist, welche Kraft den Mond auf seiner Bahn hält. Er berechnete die Bewegungen der Planeten, die Anziehungskraft der Erde, erörterte, warum Äpfel zu Boden fallen – und konnte all das auf dieselbe Schwerkraft zurückführen, die auch die Himmelskörper in ihren Armen wiegt.
Newton schenkte uns die moderne Wissenschaft und einen völlig neuen Blick auf die Welt. Zu jener Zeit galt die Mathematik als eine Sprache Gottes. Durch sie, so hieß es, habe Gott uns das „Buch der Natur“ zugänglich gemacht, und durch sie würden wir seine Schöpfung erfassen können. Isaac Newtons Entdeckungen versetzten die Welt in einen Rausch. Auch und vielleicht am meisten Adam Smith und die aufkeimende Politische Ökonomie. Die Gesetze des Sonnensystems, die bislang Gott allein offenkundig gewesen waren, waren mit einem Mal wissenschaftlich lesbar. Das Weltbild wandelte sich. Der Gott, der sich einmischte und Standpunkte vertrat, der strafte, Meere teilte, Berge versetzte und alltäglich Abermillionen Blumen zum Erblühen brachte – höchstpersönlich versteht sich –, war plötzlich ein abwesender Gott, das Universum ein Uhrwerk, das er zwar erschaffen und aufgezogen hatte, das aber nun ganz von allein weitertickte. Die Welt wurde ein Apparat, ein Theaterstück, eine gigantische Inszenierung, dessen einzelne Rädchen surrten wie in einer Maschine.
Zunehmend waren Intellektuelle dem Glauben erlegen, sie könnten fortan einfach alles erklären. So wie Newton die Planetenbewegungen erklärt hatte. Newton war es gelungen, die Gesetze der Natur aufzudecken – und damit Gottes wahren Plan. Auf diese Weise, dachte sich Adam Smith, mussten sich auch die Naturgesetze der Gesellschaft erklären lassen und damit Gottes wahrer Plan für die Menschheit. Denn wenn es eine Mechanik der Natur gab, musste es doch ebenfalls eine Mechanik der Gesellschaft geben. Oder nicht? Wenn es Gesetze gab, nach denen sich die Himmelskörper bewegten, musste es doch ebenso Gesetze geben, nach denen sich menschliche Körper bewegten. Gesetze, die sich wissenschaftlich formulieren ließen. Man dachte sich: Verstünden wir diese Gesetze, könnten wir die Gesellschaft in Einklang mit ihnen formen. Im Einklang mit dem wahren Plan leben. Mit den Kräften schwimmen, anstatt gegen sie anzuschwimmen. Alles verstehen und die Gesellschaft in ein gut geöltes Uhrwerk verwandeln, das so tickt, wie es uns am dienlichsten ist.
Also nahmen sich Adam Smith und die Wirtschaftswissenschaften dieser Fragen an. Kein leichtes Unterfangen. Wie erlangt man natürliche Harmonie? Die Kraft, von der angenommen wurde, sie erfülle dieselbe Funktion wie die Schwerkraft für das Sonnensystem, war das menschliche Eigeninteresse. „Ich kann die Bewegungen der Himmelskörper berechnen, aber nicht die Verrücktheit der Menschen“, befand Newton bekanntlich, aber darum scherte sich niemand. Adam Smith schien Gottes wahren Plan für die Welt dechiffriert zu haben: ein System natürlicher Freiheit, das gestochen scharfe Spiegelbild der Newtonschen Physik. Wenn man etwas verstehen möchte, sollte man es in seine Einzelteile zerlegen. Das war in aller Kürze die Methode, der Newton sich bediente. Und steht man danach noch immer auf dem Schlauch – zerlegt man auch die Einzelteile in ihre Einzelteile. Und so weiter und so fort. Bis man sich zum kleinstmöglichen Teilchen vorgearbeitet hat, jenem basalen Legosteinchen, das dem Ganzen zugrunde liegt. Das Elementarteilchen. Das Atom. Die kleinste Einheit. Und die gilt es dann zu erforschen. Wer die kleinste Einheit versteht, versteht alles. Eine Veränderung des Ganzen muss nicht bedeuten, dass sich seine Partikel verändert hätten, denn diese sind unveränderlich, ganz gleich, was ihnen widerfahren mag. Eine Veränderung ist lediglich ein neues Muster, in dem die Partikel sich organisiert haben. Ihre Bewegungen werden von Naturgesetzen verursacht. Und die Welt ist so logisch wie ein Uhrwerk.
»There is no alternative« – genau das war die Pointe
Zu diesem Schluss kamen die Ökonomen und versuchten, den Trick umzukehren. Wolle man die Ökonomie verstehen, müsse man sie in ihre Einzelteile zerlegen, um zu jenen komplexen, koordinierten Prozessen vorzustoßen, die dazu führen, dass an einem ganz normalen Dienstag Ihr Steak beim Metzger Ihres Vertrauens in der Kühltheke liegt. Und sei man dann noch immer nicht schlauer, gelte es, auch diese Prozesse zu zerlegen, in noch kleinere Teile. Und siehe da, schließlich gelang es den Ökonomen, bis zu jenem kleinstmöglichen Teilchen vorzudringen, in das sich das Ganze, vermeintlich, zerteilen ließ. Und dieses Teilchen nannten sie Individuum. Verstünde man das Individuum, überlegten die Ökonomen, verstünde man alles.
So wie sich die Physik den unteilbaren Atomen widmete, befasste sich die aufkeimende Nationalökonomie mit unabhängigen Individuen, weil man davon ausging, dass die Gesellschaft nichts anderes als die Summe dieser Individuen sei. Eine Veränderung in der Ökonomie rührt folglich nicht daher, dass sich das Individuum verändert hat – denn seine Persönlichkeit ist von anderen unabhängig. Allerdings trifft das Individuum Entscheidungen. Jede Veränderung ist ein neues Muster, in dem es sich arrangiert. Entscheidungen, die es getroffen hat, im Verhältnis zu anderen potenziellen Entscheidungen. Sie begegnen sich nie, doch sie interagieren. Wie Billardkugeln. Das individuelle Bewusstsein, über das niemand eine eindeutige Aussage machen kann als das Individuum selbst, bleibt stets unverändert. Und der Rest ist Schweigen.
Adam Smiths größte Leistung bestand darin, dass es ihm von Beginn an glückte, die sich herausbildende Politische Ökonomie in das Weltbild der Physik einzupassen. Logisch, rational und vorhersehbar – so sah die Physik jener Zeit aus. Das war, ehe Raum und Zeit zu einer unteilbaren Raumzeit verschmolzen und das Universum sich bei jeder Messung in so viele Welten teilte, wie zum Zeitpunkt der Messung vorstellbar waren. Doch für die moderne Physik haben sich Ökonomen noch nie besonders erwärmen können. Noch immer starren sie himmelwärts und bestaunen Newtons Firmament. „Was mich eigentlich interessiert, ist, ob Gott die Welt hätte anders machen können“, sinnierte Albert Einstein, der Begründer der modernen Physik, Anfang des 20. Jahrhunderts. Existierte womöglich eine bis dato unbekannte Alternative zu den Gesetzen der Physik? Eine andere Methode? Über derartige Dinge zerbrachen die Ökonomen sich eher selten den Kopf. Sie waren sich ihrer Sache vollkommen sicher. Ökonomische Theorie sei „eine Ansammlung von Generalisierungen, deren substanzielle Korrektheit und Gewicht nur von den Unkundigen und Abweichenden infrage gestellt werden kann“, schrieb der britische Ökonom Lionel Robbins 1945.
Und genau das war die Pointe: Es gab keine Alternative. Der Markt war ein Teil der menschlichen Natur, das heißt, wenn die Ökonomie den Markt erforschte, erforschte sie zugleich den Menschen. Es war einmal, da zogen Könige Seher zurate, die in den Eingeweiden toter Tiere lasen. Sie studierten Farbe und Form, um vorherzusagen, wie die Götter auf den einen oder anderen politischen Schachzug reagieren würden. Im antiken Italien zerteilten die Etrusker allein die äußere Schicht einer Schafsleber in sechzehn Teile.
Marktwirtschaft und Marktgesellschaft
Doch seitdem hat sich die Welt verändert, und die Aufgabe der Seher ist von den Ökonomen übernommen worden. Diese versuchen zu prophezeien, wie der Markt auf den einen oder anderen politischen Schachzug reagieren wird – mehr oder weniger erfolgreich. Viele von uns möchten zwar in einer Marktwirtschaft leben, aber nicht in einer Marktgesellschaft. Allerdings haben wir einsehen müssen, dass es diese nur im Doppelpack gibt. Fidel Castro sagte einmal, das Einzige, was schlimmer sei, als vom multinationalen Kapital ausgenommen zu werden, sei, nicht vom multinationalen Kapital ausgenommen zu werden. Vielleicht hatte er recht. „There is no alternative“, konstatierte Margaret Thatcher.
Der Kapitalismus schien (zumindest bis zur Finanzkrise von 2008) dort Erfolg gehabt zu haben, wo die großen Weltreligionen gescheitert waren: die Menschheit in einer Gemeinschaft zu vereinen, nämlich auf dem globalen Markt. Der Markt setzt die Preise für Eisen und Silber fest, entscheidet, welche Bedürfnisse die Menschen haben und wie viel ein Kindermädchen, ein Pilot oder ein Geschäftsführer verdient. Er bestimmt, was ein Lippenstift, ein Rasenmäher und eine Gebärmutterentfernung kosten. Er schreibt vor, was es wert ist, mit dem Absturz einer Investmentbank den Steuerzahlern auf der Tasche zu liegen (70 Millionen Dollar im Jahr). Und den Wert dafür, in einem skandinavischen Wohlfahrtsstaat die zitternde Hand einer 87-Jährigen Frau während ihrer letzten siebenhundert Atemzüge zu halten (96 Schwedische Kronen in der Stunde).
Es war die Mutter, die das Abendessen servierte
Adam Smith ging davon aus, dass sein gedeckter Abendbrottisch nichts mit der Sympathie des Metzgers oder des Bäckers zu tun habe – sondern damit, dass sie durch einen Tauschhandel ihre Interessen verfolgten. Es war ihr Eigeninteresse, das ihm seine Mahlzeit servierte. Aber lief es wirklich so ab? Wer bereitete Smiths Steak tatsächlich zu? Adam Smith war nie verheiratet. Den Großteil seines Lebens verbrachte der Vater der Nationalökonomie bei seiner Mutter. Sie besorgte den Haushalt, und ein Cousin kümmerte sich um seine Finanzen. Als Smith Zollkommissar in Edinburgh wurde, begleitete ihn seine Mutter. Ihr Leben lang opferte sie sich für ihren Sohn auf. Damit war sie derjenige Teil der Frage, wie wir an unser Abendbrot kommen, über den Smith sich ausschwieg. Damit der Metzger, der Bäcker und der Brauer ihrer Arbeit überhaupt nachgehen konnten, mussten ihre Frauen, Mütter und Schwestern tagein, tagaus jede ihrer Stunden dafür opfern, die Kinder zu hüten, die Hausarbeit zu verrichten, Kleider zu waschen, Tränen zu trocknen und sich mit den Nachbarn herumzuzanken.
Ganz gleich, aus welchem Blickwinkel heraus man den Markt betrachtet, er gründet sich auf eine andere Ökonomie. Eine Ökonomie, über die kaum ein Wort verloren wird. Das elfjährige Mädchen, das jeden Morgen fünfzehn Kilometer zurücklegt, um Holz für seine Familie zu holen, trägt einen großen Teil dazu bei, dass die Ökonomie seines Landes sich entfalten kann. Trotzdem wird ihre Arbeit ignoriert. In den ökonomischen Statistiken taucht das Mädchen nicht auf. Für das Bruttoinlandsprodukt, das den Wert aller in einem Land hergestellten Güter angibt, ist sie unsichtbar. Ihr Tun scheint für die Ökonomie und für wirtschaftliches Wachstum irrelevant zu sein. Kinder zu gebären, sie großzuziehen, den Garten zu bestellen, Essen für die Geschwister zuzubereiten, die Kuh der Familie zu melken, Kleidung für die Verwandtschaft zu nähen oder Adam Smith den Rücken frei zu halten, damit er über den Wohlstand der Nationen schreiben kann – all das erachten die ökonomischen Standardmodelle nicht als „produktive Arbeit“. Außer Reichweite der unsichtbaren Hand befindet sich das unsichtbare Geschlecht.
Die französische Schriftstellerin und Feministin Simone de Beauvoir beschrieb die Frau als „das andere Geschlecht“. An erster Stelle stehe in unserer Gesellschaft der Mann. Er sei es, der wirklich zählt. Der die Welt definiert. Die Frau sei „das Andere“, all das, was er selbst nicht ist, aber benötigt, um der sein zu können, der er ist. Um das sein zu können, was zählt. So wie es ein „anderes Geschlecht“ gibt, gibt es auch eine „andere Ökonomie“. Es ist die Arbeit, die traditionell von Männern verrichtet wird, die zählt. Sie definiert das ökonomische Weltbild. Die Arbeit der Frau ist „das Andere“. Das, was er nicht tut, doch worauf er angewiesen ist, um tun zu können, was er tut. Um das tun zu können, was zählt.
Adam Smith vermochte die der Ökonomie zugrunde liegende Frage nur halb zu beantworten. Sein Abendessen bekam er nicht nur deshalb, weil die Händler mittels Tauschhandel ihre Eigeninteressen verfolgten, sondern vor allem, weil seine Mutter es ihm allabendlich servierte. Heute wird bisweilen darauf hingewiesen, die Ökonomie gründe nicht nur auf einer „unsichtbaren Hand“, sondern auch auf einem „unsichtbaren Herz“. Eine reichlich idealisierende Metapher für diejenigen Aufgaben, die historisch der Frau zugeteilt wurden. Wir wissen nicht, warum Adam Smiths Mutter sich um ihren Sohn kümmerte. Aber wir wissen, dass sie es tat.
Dieser Text ist ein Auszug aus Katrine Marçals Buch „Machonomics: Die Ökonomie und die Frauen“, das bei C.H. Beck erschienen ist. Es hat 206 Seiten und kostet 16,95 Euro.