Alle wissen schon Bescheid
Selten ist ein politisches Thema derart aus dem Nichts aufgetaucht wie die Frage der Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen. Ein Landgericht hatte entschieden, dass sich ein Arzt der Körperverletzung schuldig machen könnte, wenn er eine nicht medizinisch begründete Beschneidung vornimmt. Erst sechs Wochen später berichtete der Amerika-Korrespondent der Financial Times Deutschland darüber. Andere Medien folgten – das Sommerloch hatte begonnen.
In der deutschen Öffentlichkeit war über Beschneidungen bisher noch nie diskutiert worden. Zwar wandern seit rund fünfzig Jahren Menschen aus muslimischen Ländern ein, jedoch scheint die religiös-kulturelle Praxis der Muslime der Mehrheitsgesellschaft immer noch ein Rätsel zu sein. In der Debatte wurde häufiger auf den jüdischen Ritus Bezug genommen. Seit 4.000 Jahren wird ein jüdischer Säugling am achten Tag nach der Geburt beschnitten. Und auch wenn das kaum jemand weiß: Christen feiern an Neujahr den „Tag der Beschneidung“.
Noch in den Parlamentsferien beschäftigte sich der Bundestag mit dem Thema. Per Beschluss machte der Bundestag seinen guten Willen und das Wissen um die Dringlichkeit des Problems deutlich. Zu mehr reichte es nicht, denn wie sich die Situation per Gesetz klären lässt, ist ungewiss. Ob ein von der schwarz-gelben Bundesregierung vorgelegter Lösungsvorschlag tragfähig sein wird, entscheidet am Ende das Bundesverfassungsgericht.
Klar ist: Der Kinderschutz ist höherrangig als die Religionsfreiheit. Das wird kein Gesetz ändern können. Man könnte bestenfalls gesetzlich klarstellen, wie sich das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Rechtsgütern darstellt.
Wir finden es erstaunlich, wie viele Politiker, Publizisten und Nutzer sozialer Medien in kürzester Zeit Antworten parat hatten – Anhänger jüdischen oder muslimischen Glaubens ausgenommen. Alle vertraten eine klare Position zur Beschneidung. Die Ablehnungsfront machte geltend, dass die „Verstümmelung“ alle Kinder und wahrscheinlich auch die Mütter traumatisiere. Die Kirchen hingegen vermuteten, im Falle des Verbots wäre das Erziehungsrecht der Eltern endgültig ausgehebelt. Aber wo waren diejenigen, die einfach mal sagten: „Ich weiß noch nicht, wie ich dazu stehe. Darüber habe ich mich mit meinen muslimischen Nachbarn noch nie unterhalten!“
Und was ist mit dem Ohrenstechen?
Gibt es eigentlich Vorgänge, die mit einer Beschneidung vergleichbar sind und für Orientierung sorgen? Ist die Beschneidung so ähnlich wie das Stechen eines Ohrlochs beim Baby? Wie eine Schönheitsoperation beim Kind, um dessen abstehende Ohren zu korrigieren? Wie eine Impfung? Wie die Taufe?
Die Taufe ist für manche ein treffender Vergleich. Wer dafür eintritt, dass unser Staat in weltanschaulichen Fragen nicht neutral sein, sondern mit einem laizistischen Auftrag für Nichtreligiosität Partei ergreifen soll, der lehnt religiöse Riten im Kindesalter per se ab. Als einem Diskutanten in der SPD-Bundestagsfraktion, der sich vehement für ein Beschneidungsverbot aussprach, vorgehalten wurde, er würde wohl auch die Taufe verbieten wollen, antwortete er freimütig: „Ja, am liebsten.“ Er meinte die Kindstaufe – und trifft damit die Stimmung von Vielen, auch weniger Radikalen. Dahinter steckt die Auffassung, dass sich ein Jugendlicher möglichst frei und von kindlichen Prägungen unbeeinflusst für seine religiöse Orientierung entscheiden soll. Evangelisch, katholisch, muslimisch, jüdisch, buddhistisch, atheistisch? Freie Auswahl.
Eine absurde Vorstellung! Religiöse Prägung entsteht nicht aus dem Nichts, sondern stellt eine kulturelle und werteorientierte Einbettung der Kindheit dar. Und die wünschen wir jedem Kind: eine Botschaft der Liebe. Die muss übrigens nicht zwangsläufig religiös begründet sein, sie kann auch humanistisch fundiert werden. Auch das ist eine Prägung – und keine Neutralität. In Deutschland entscheiden sich viele Jugendliche im Alter von 14 Jahren, den Religionsunterricht abzuwählen. Unsere Gesellschaft lässt es zu, dass man sich trotz religiöser Prägung dagegen entscheidet.
Unsere offene Gesellschaft erschwert es übrigens auch, sich in die Situation muslimischer Eltern hineinzuversetzen. Hierzulande haben sich in den vergangenen Jahrzehnten große Teile der Bevölkerung längst von dieser Art kulturell-religösen Drucks emanzipiert, der etwa von der Familie oder dem Bekanntenkreis ausgeht. Dennoch sollte man nicht hochnäsig von allen anderen verlangen, genauso zu handeln – schon gar nicht, wenn sie aus einem anderen Kulturkreis kommen.
Ist die Medizin eine Entscheidungshilfe? Eher nicht. Der Verband der Kinderärzte in Deutschland ist strikt gegen die Beschneidung. Die Kinderärzte in den Vereinigten Staaten, wo ein erheblicher Teil der Männer aus nicht-religiösen Gründen beschnitten ist, erneuern dagegen ihre Empfehlung, die Beschneidung durchzuführen, weil damit Gesundheitskosten gesenkt würden. Allerdings wäre es Unfug zu behaupten, dass Länder mit vielen Beschnittenen volksgesundheitlich besser dastehen oder darunter leiden, weil ganze Generationen beschnittener Männer traumatisiert sind. Nur eines scheint aus medizinischer Sicht festzustehen: Die These, dass die Beschneidung bei Säuglingen ohne größere Schmerzen geschieht, ist nicht haltbar.
Damit scheint auch die schwedische Regelung nicht sachgerecht zu sein. Dort ist die religiös motivierte Beschneidung lediglich in den ersten zwei Lebensmonaten straffrei. Der jüdische Ritus ist also erlaubt, nicht jedoch der islamische: Muslime beschneiden die Jungen im Alter von sechs bis acht Jahren. Man könnte argumentieren, im Judentum sei die Beschneidung eine gesetzliche Pflicht, im Islam hingegen eher eine kulturelle Tradition. Aber dürfen Außenstehende solche Beurteilungen vornehmen? Wohl kaum. Zum Kernbestand religiösen Glaubens gehört nun einmal, dass er sich mit objektiven Kriterien von außen niemals vollständig erfassen lässt. Unter Juden ist die Beschneidung immer noch Konsens, auch unter liberalen und säkularen Juden. Allerdings gibt es Berichte aus Israel, dass einige Eltern bereits Zweifel äußern.
Eines fehlte in den Medienberichten fast völlig: Stellungnahmen von Jugendlichen oder Männern, die ihre eigene Beschneidung als Trauma oder „Brandmarkung“ verstehen. Auch war die Anzahl der Berichte und Erklärungen aus der muslimischen Community vergleichsweise gering. Das ist schade. Es zeigt: Die Integration ist immer noch lückenhaft.
Dürfen wir uns überhaupt einmischen?
Dürfen wir als Angehörige der teils christlich, teils säkular geprägten Mehrheitsgesellschaft uns überhaupt in andere Religionen einmischen? Selbstverständlich gehört der interreligiöse Dialog zu einer gelungenen Integration; Kritik ist auszuhalten. Selbstverständlich dürfen evangelische Christen die Sexualethik der katholischen Kirche kritisieren. Wir dürfen Zweifel am Frauenbild vieler Moscheevereine anmelden. Auch müssen wir nicht jede Glaubenspraxis der jüdischen Orthodoxie begrüßen. Und wir dürfen unsere protestantische Überzeugung deutlich vertreten, dass Gott alle Kinder liebt, unabhängig von den religiösen Riten, die sie durchlaufen haben. Aber: Reformen in Bezug auf die Tradition anderer Glaubensgemeinschaften wird es nur geben, wenn sie in den eigenen Reihen gewollt sind.
Selbstverständlich gelten für alle Religionen die Prinzipien des Grundgesetzes. Außerdem muss man sich vergegenwärtigen, dass keine der bei uns bekannten Religionsgemeinschaften Zwangsverheiratungen, Genitalverstümmelungen bei Mädchen oder Witwenverbrennungen praktizieren. Leider wird in der aufgeheizten Diskussion vieles vermischt.
Für uns ist klar, dass das Wohl des Kindes an erster Stelle steht. Und wir unterstellen weder Juden noch Muslimen pauschal, das Wohl ihrer Kinder zu missachten. Wir sind dagegen, dass die Beschneidung deutscher jüdischer oder muslimischer Jungen im Ausland stattfinden muss oder in die Hinterhöfe gedrängt wird.
Die Diskussion ergibt ein äußerst komplexes Bild. Wie soll da ein Mitglied des Bundestages zu einer abgewogenen und präzisen Entscheidung finden? Gerade bei ethischen Themen ist derjenige fehl am Platz, der anderen seine eigene Position vorschreiben möchte. Stattdessen tut ein Parlament gut daran, sich über Grenzen, Leitplanken, bessere Beratungsangebote und gegebenenfalls Strafbefreiung Gedanken zu machen, damit der Einzelne eine für sich ethisch vertretbare Antwort findet. Auch für die aktuelle Debatte kann das ein Maßstab sein.
Welche Leitplanken zu ziehen sind, haben der Bundestag und der Ethikrat deutlich gemacht: die bestmögliche medizinische Betreuung der Jungen, die Schmerzbetäubung plus eine Beratung. Einige Gläubige werden auch das als Zumutung empfinden. Sie feiern die Zeremonie lieber an einem festlichen Ort statt in einer Arztpraxis. Sie vertrauen eher einem theologischen Fachmann als einem Mediziner. Und es gibt sogar ultraorthodoxe Stimmen, die das Erleben des Schmerzes als Bestandteil der Zeremonie ansehen. Es lohnt sich, mit den muslimischen und jüdischen Bürgern über die Grenzen der Beschneidung in einen Dialog zu treten – und nicht nur über sie zu reden.