Ankunft in der Wirklichkeit: Der neue Ernst der Berliner Republik



"Berliner Republik" – vor etlichen Jahren, vor der Gründung einer gleichnamigen Zeitschrift, klang das dröhnend und vielleicht sogar drohend. Wollte da jemand die gesicherten Fundamente, die stabilen Verhältnisse der erst westdeutschen, dann gesamtdeutschen Demokratie leichtfertig aufs Spiel setzen? Artikulierte sich da nicht eine nassforsche "Generation Berlin", die einen Mangel an Erfahrung wie an politisch-kultureller Sensibilität durch ein Hoppla-jetzt-komm-ich der New Economy zu ersetzen trachtete? Diese Berliner Republik klang nach hohlem Nationalismus, nach gegeltem Parvenügehabe. Und es wusste ja wirklich noch niemand, was aus Berlin als Hauptstadt werden würde. Zwei gleichermaßen jämmerliche Optionen schienen sich zu eröffnen: einerseits die der ballonartig aufgepumpten Bräsigkeit, andererseits die der selbstgeißelnden Verzagtheit und neurotischen Verunsicherung – eine Berliner Republik à la "Plenarbereich Reichstagsgebäude".

All das ist nicht eingetreten, und das ist durchaus ein kleines Wunder. Innerhalb weniger Jahre ist Berlin selbstverständlich geworden, und die Erinnerung an Bonn als Hauptstadt und Regierungssitz verblasst. "Bericht aus Bonn", das klingt nicht mehr nach einem aktuellen Magazin, sondern nach einem historischen Feature. Aber diese Selbstverständlichkeit ist gerade nicht jene "Normalität der Berliner Republik", von der Jürgen Habermas gesprochen hatte. Und in Berlin wird mehr als nur Politik gemacht. Die Stadt – immer schon schroffer, heterogener und provokativer als die rheinische Residenz alter Bürgerlichkeit – hat sich zugleich zu einem bemerkenswerten Ort des Diskurses entwickelt. Berlin ist der Brennpunkt politischer und intellektueller Debatten geworden, ein neues Forum des produktiven Austauschs im Schnittfeld von Politik und geistigem Leben, von "Machen" und "Denken". Eigentlich müsste man dort leben, wenn man nicht dauernd dorthin unterwegs sein will.

Worum geht es in diesen Debatten? Die New Economy ist ebenso Vergangenheit wie es die naiven Utopien von blühenden Landschaften im Osten und Spaßgesellschaften im Westen sind. Locker vom Hocker ist vorbei, aber auch Steif auf dem Stuhl. In die Berliner Republik ist neue Substanz eingezogen und neue Ernsthaftigkeit. Aus der amorphen Generation Berlin ist eine Generation Reform geworden. Eine rot-grüne Bundesregierung hat unter unerträglichen Schmerzen das Projekt radikal umdefinieren müssen, für das sie 1998 angetreten war und gewählt worden ist. Nach dem Marsch durch die Institutionen ganz an der Spitze angekommen, durften die Achtundsechziger nur kurz glauben, den noch offenen Versprechen von damals jetzt offiziellen Status und Gesetzeskraft zu verleihen. Die Agenda 2010 spricht eine andere Sprache. Es gibt nichts mehr großzügig zu verteilen; nicht jeder individuelle Freiheitsgewinn führt in eine dynamischere und solidarischere Gesellschaft; eine inselhaft betriebe betriebene Politik der Schonung und Risikovermeidung führt uns, so bitter das sein mag, ins internationale Abseits. Darüber kann man in der jüngeren und mittleren Generation inzwischen ziemlich undogmatisch einen Konsens herstellen.

An mutigen Konsequenzen fehlt es noch

In der Wissenschaft, im engeren akademischen Diskurs zeichnete sich schon etwas länger ab: Die Übermacht des Kulturalismus ist gebrochen. Harte soziale Realitäten lösen sich nicht in Sprache auf und politisch-ökonomische Imperative nicht in ein relativistisches Geflecht subjektiver Wahrnehmungen. Jetzt hat die Rückkehr der Gesellschaft auch den Kernbereich der politischen Steuerung erreicht. Auf neue und erfrischende Weise, ganz frei von dem gequälten neomarxistischen Jargon der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrunderts, diskutieren wir "links" ebenso wie "rechts" Verteilungsfragen und Gerechtigkeit, die Ökonomie des Wohlfahrtsstaates und die Spannungslinien einer vielfach zerklüfteten Gesellschaft. Langjährige Tabuwörter wie "Armut", "Mittelschichten" oder "Bürgertum" gehen auch Politikern wieder problemlos von der Zunge, weil wir uns der damit ausgedrückten Wirklichkeit nicht länger verweigern können. In der SPD redet man vom Wert der Familie und in der CDU von den Gefahren neuer Marginalität und sozialer Ghettoisierung. Die Aufgabe freilich, aus den neuen Erkenntnissen auch mutige Konsequenzen zu ziehen, ist bisher nur zum geringeren Teil erfüllt worden.

An dieser Wandlung, an dieser bewusst unharmonischen Selbstfindung der Berliner Republik und damit der deutschen Gesellschaft hat die Berliner Republik einen erkennbaren Anteil. Sie hat sich für einen neuen intellektuellen Gestus stark gemacht, sie ist das Risiko eingegangen, sich von einer vermeintlich schöngeistigen Haltung der blasierten Ironie zu verabschieden – und ist dafür nicht verspottet, sondern belohnt worden. Sie hat die Realität wieder auf die Tagesordnung gesetzt und mitgeholfen, vermeintliche Langweilerthemen spannend zu machen, über die mindestens zwei Generationen von Intellektuellen die Nase gerümpft hatten: Wohlfahrtsstaat und Gesundheitspolitik; demografische Entwicklung, Kinder und Familie; das Verhältnis von Ökonomie und gesellschaftlichen Wertsystemen. Sie hat sich konsequent, gerade in der sozialpolitischen Debatte, einer Nabelschau des "Rheinischen Kapitalismus" verweigert und einen internationalen Blick gepflegt. Denn Deutschland ist weder länger Pioniernation noch Insel der Glückseligkeit, sondern ein in vieler Hinsicht rückständiges Land geworden. Diesen Befund nicht larmoyant, sondern konstruktiv zu diskutieren, stellt gleichfalls eine beachtliche Leistung der Zeitschrift dar. Vielleicht ist das höchste Lob ja die Anerkennung im anderen politischen Lager, wo Jüngere häufig seufzen: "Wir bräuchten auch eine Berliner Republik!" Aber das Denken in Lagern, andererseits, ist den Machern der Berliner Republik zum Glück fremd. Glückwunsch und weiter so!

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