Wie freiheitlich ist der Fortschritt?
Wie liberal ist der Fortschritt? Man muss weit ins 19. Jahrhundert zurückgehen, noch vor den Aufstieg der Sozialdemokratie, um das für eine bloß rhetorische Frage zu halten: Damals waren Liberalismus und Fortschritt nahezu gleichbedeutend. Heute jedoch ist ihr Verhältnis so kompliziert, so widersprüchlich und kulturell missverständlich wie nie zuvor. In den Vereinigten Staaten steht „liberal“ für eine linke, aus europäischer Sicht sozialdemokratische Orientierung, und ist ein Schimpfwort der Rechten, der Republikaner – obwohl deren ideologisches Profil selber aus einer Variante des Marktliberalismus in der Reagan-Ära hervorging. In Deutschland dagegen reagieren Linke zunehmend erschrocken und abwehrend auf das L-Wort, das in der Variante des „Neoliberalen“ zum großflächigen Feindbild schlechthin geworden ist. Der drohende Untergang der FDP ist Anlass zur Häme, bestenfalls zum Achselzucken. Da waschechte Konservative, die es mit englischen Tories, französischen Post-Gaullisten und amerikanischen Republikanern aufnehmen könnten, hierzulande rar geworden sind, ist „liberal“ das neue „konservativ“ geworden.
Vor fünfzehn Jahren, am Anfang der Berliner Republik, also auch am Anfang der Zeitschrift Berliner Republik und der rot-grünen Bundesregierung, sah das noch anders aus. Im Rückblick lassen sich diese Jahre als ein großes liberales Reformprojekt beschreiben, mit den zwei Polen der gesellschaftspolitischen Modernisierung einerseits – dafür steht etwa die Reform der Staatsbürgerschaft – und des wirtschaftlich-sozialen Umbaus andererseits – dafür stehen die Hartz-Gesetze. Auch wenn sich viele Sozialdemokraten heute schwer damit tun, waren das zwei Seiten derselben Medaille, und nicht das eine ein Verrat am anderen. Beides zusammen hat die Bonner Republik erst zur Berliner Republik gemacht, und damit Deutschland aus der Erstarrung geholt – ebenso übrigens Westdeutschland aus der selbstzufriedenen Illusion, es brauche sich nach der Wiedervereinigung nicht zu verändern. Beides hat Deutschland liberaler, fortschrittlicher, moderner, erfolgreicher gemacht.
Die Agenda 2010 hat die SPD einer Zerreißprobe ausgesetzt, und die spätere Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise hat liberale Positionen in der europäischen Sozialdemokratie und darüber hinaus diskreditiert. Gilt überhaupt noch der berühmte Leitsatz des Godesberger Programms „Soviel Markt wie möglich, soviel Staat wie nötig“? Jedenfalls geht Differenzierungsvermögen verloren, wenn sich die progressive Mitte ganz der intellektuellen Hegemonie des „Neoliberalismus“-Diskurses ergibt, der von der radikalen Linken aus bemerkenswert erfolgreich auf die Sozialdemokratie abgestrahlt hat.
Der Liberalismus hat sich für die europäische Linke nicht erledigt und darf für die deutsche Sozialdemokratie nicht endgültig zum Watschenmann verkommen. Warum nicht? Erstens deshalb, weil – allen Herausforderungen der Globalisierung und allen Exzessen des neuen Finanzkapitalismus zum Trotz – die individuelle Freiheit in möglichst vielen Arenen, von Ferdinand Lassalle und August Bebel bis Willy Brandt, zum Grundbestand ihrer Traditionen gehört. Nicht die Freiheit des ungezügelten Profits. Aber die Freiheit des Eigentums, des Gewerbes; die Freiheit, morgen irgendwo in Berlin oder anderswo einen Laden zu eröffnen, der selbstverständlich profitabel sein soll. Soviel Markt wie möglich, soviel Staat wie nötig.
Der wirtschaftliche und der soziale Liberalismus stehen seit zweihundert Jahren in Spannung zueinander, und gewiss ist diese Spannung im vergangenen Jahrzehnt nicht kleiner geworden. Aber ihre gemeinsame Wurzel in einem Menschenbild der Freiheit und Selbstverwirklichung haben sie nicht verloren. Wer für Frauenemanzipation eintritt oder für die Gleichberechtigung Homosexueller, kann der wirtschaftlichen Aktivität keine Fesseln anlegen.
Zweitens aber handelt es sich, wie immer man grundsätzlich zum Liberalismus stehen mag, auch politikpraktisch und strategisch um eine wichtige Frage für die Zukunft der SPD. Wollen die Partei und ihr Milieu sich, im Lichte eines möglichen Verschwindens der FDP, damit abfinden, dass immer nur die Grünen als Erben eines zeitgemäßen Liberalismus apostrophiert werden? Die „Neue Mitte“, von der Ende der neunziger Jahre so viel die Rede war, steht nicht mehr hoch im Kurs. Aber mit dieser ist die Sozialdemokratie nach langen Durststrecken sowohl in Großbritannien mit Tony Blair als auch in der Bundesrepublik mit Gerhard Schröder wieder zum Wahlsieger geworden. Ohne ein liberales Angebot an beiden „Polen“, dem gesellschaftspolitischen und dem wirtschaftlichen, wird die SPD es schwer haben, die strategisch wichtige Klientel der Mittelschichten, der Fachkräfte, der Akademiker wieder für sich zu gewinnen und Meinungsführerschaft zu erreichen. Das gilt in der Perspektive auf Rot-Rot-Grün nicht weniger, im Gegenteil: Gerade in einer solchen Regierung müssten Sozialdemokraten ihr liberales Profil schärfen: einerseits zur Unterscheidbarkeit von der Linkspartei, andererseits um dieses Feld nicht vollends den Grünen zu überlassen.
„Progressiv“ sein zu wollen genügt nicht. Woran soll sich der Fortschritt messen? Gewiss an mehr Gerechtigkeit, Solidarität, Inklusion, Nachhaltigkeit, an möglichst gutem und gelingendem Leben für möglichst viele. Aber eben auch an liberalen Werten und Zielen.