Jenseits von Pegida
Die Pegida-Proteste haben die Bundesrepublik einige Wochen lang in Atem gehalten – inzwischen sind sie, bis auf spärliche Reste, in sich zusammengefallen. Kann die Demokratie nach dieser Herausforderung wieder zur Tagesordnung übergehen? In zukünftigen Geschichtsbüchern könnte die rechtspopulistische Protestwelle trotzdem mehr als eine Fußnote verdienen. Denn wie in einem Brennglas bündelte sie, von Dresden aus, nicht nur die Probleme der demokratischen Kultur in Ostdeutschland ein Vierteljahrhundert nach Mauerfall und Wiedervereinigung. Sie zeigte nicht nur die fortbestehende Anfälligkeit deutschen Denkens für Fremdenfeindlichkeit und Rassismus auch drei Generationen nach dem Nationalsozialismus auf, diesmal im Gewand der Angst vor Flüchtlingen und vor dem Islam, bis hin zu Gewaltausbrüchen und schrecklichen Anzeichen eines neu-alten Antisemitismus. Sondern vor allem offenbarte das Aufbrausen der Pegida-Bewegung tiefe Spannungen im Verhältnis zwischen Bürgern und Staat, einen Riss des Vertrauens in die etablierten Institutionen der Demokratie einschließlich der politischen Parteien und der unabhängigen Presse.
»Man wird ja wohl noch sagen dürfen«
Flüchtlingsfrage, Asylpolitik, Islam in Europa: So wichtig diese Themen sind, und so wenig Angst, Hass oder gar Gewalt verharmlost werden dürfen, sind sie doch leicht als Projektionsflächen eines tiefer sitzenden Unbehagens durchschaubar, und als Indikator für Wandlungen in der politischen Kultur der Bundesrepublik. Diese Veränderungen können nach dem Zerfall von Pegida schon bald in neuen Aggregatzuständen wieder auftauchen und sie werden uns in unterschiedlichen Erscheinungsformen konfrontieren. Man sollte sich hüten, dabei in Alarmismus zu verfallen und gleich einen Schwanengesang auf die Demokratie anzustimmen – zumal die Gegenbewegung zu Pegida eindrucksvoll die Mobilisierungsfähigkeit der demokratischen Zivilgesellschaft unter Beweis gestellt hat. Denn der Alarmismus und das Apokalyptische gehören gerade zur Grundausstattung der neuen Demokratieverächter unterschiedlichster Couleur.
Ihr gemeinsamer Nenner ist die Kritik am Establishment, an einem politisch-kulturellen Mainstream, der sich in durchaus bewusster Strategie kleiner Eliten von den wirklichen Stimmungen und Interessen der Bevölkerung abgekoppelt habe und Widerspruch gegen den von ihm gepflegten Konsens nicht mehr zulasse. In dieses Muster ordnet sich der pseudo-heroische Gestus des „Tabubruchs“ ein, wie ihn die Alternative für Deutschland (AfD) in der Europa- und Euro-Frage besonders kultiviert hat: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“, was angeblich durch einen manipulierten Konsens aus dem Raum des Sagbaren verdrängt wurde, mit maßgeblicher Unterstützung eines Pressekartells, das sich auf den gouvernemental etablierten Konsens statt auf die Wahrheit verpflichtet habe.
Die deutschen Kontinuitäten in Unworten wie der „Lügenpresse“ sind zwar erschreckend, aufschlussreicher sind aber die Parallelen zu gegenwärtigen Populismen in anderen westlichen Ländern, hier besonders in den Vereinigten Staaten, wo die Verachtung der lamestream media zum Kernbestand der Tea Party-Ideologie gehört. Und die Vorstellung, dass ein Konsens der funktionalen Sachzwänge der politischen Auseinandersetzung, dem „richtigen“ Streit um Alternativen die Luft abschnüre, findet sich nicht nur in populären Stimmungen und in rechten oder gar rechtsextremen Milieus, sondern auch in linksintellektuellen Diagnosen einer neoliberalen „Entpolitisierung“. Diese Vorstellung sickert darüber hinaus auf ganz unterschiedlichen Kanälen in das allgemeine Bewusstsein der Gesellschaft ein – auch in Institutionen und Diskursräume, die fraglos zum Zentrum klassischer politischer Kultur der Bundesrepublik gehören. So lud die Volkswagenstiftung im Dezember 2014 Experten und ein breites Publikum zu ihrem „Herrenhäuser Forum“ nach Hannover ein, um über das Thema „Wie viel Streit braucht die Demokratie? Über das Verschwinden des Politischen“ zu diskutieren. Natürlich bleiben die Antworten auf diese Frage vielschichtig. Aber die Formulierung des Themas suggerierte, dass „das Politische“ tatsächlich gefährdet sei, weil man ein Defizit an Streitkultur und Dissens konstatieren müsse.
Auch die politischen Eliten sind verunsichert
Wie lässt sich dieses eigenartige Syndrom erklären, und wie sollte ihm begegnet werden? Ist die Orientierung auf elitengestützten Konsens tatsächlich ein allgemeines Merkmal demokratischer Gesellschaften im frühen 21. Jahrhundert, oder ein Spezifikum der politischen Kultur Deutschlands mit weit zurückreichenden Wurzeln? Liegen die Fehler „im System“, oder in der Verselbständigung eines Diskurses, in der ungehemmten Proliferation von Einstellungen und Sprechweisen, denen aus der Mitte der Demokratie (oder von Intellektuellen) schärfer widersprochen werden müsste, so wie in der jüngst lebhaft geführten Debatte über Umgangsformen und Respekt im Internet und in den sozialen Medien? Die differenzierte Reaktion des SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel auf die Pegida-Proteste und der heftige Streit, der darüber entbrannte, signalisiert Unsicherheit auch bei den politischen Eliten, wie der republikanischen Entfremdung eines Teils der Bevölkerung zu begegnen sei.
Jedenfalls muss man genauer hinschauen, um das Geflecht von Ohnmachtsgefühlen, Entpolitisierungsängsten und Konsensunterstellungen in seinen Verästelungen zu entwirren. Stimmt es nicht tatsächlich – die Großen Koalitionen der Volksparteien seit 2005 sind ja ein wichtiges Indiz dafür –, dass Streitfähigkeit und Dissens auf dem Rückzug sind und Gegenreaktionen provozieren müssen? Aber warum ist das so, wenn man die Antwort nicht in Manipulationsvorwürfen oder Verschwörungs-theorien suchen mag? Und wie lässt sich der Entfremdung, der wachsenden Distanz zwischen Regierung und Volk, zwischen Establishment und Wutbürgern beikommen, ohne Populismus und Extremismus zu legitimieren? Paradoxerweise, so scheint es, brauchen wir zugleich mehr Streit und mehr Common Sense – einen scharfen inhaltlichen Wettstreit um Visionen für die Zukunft auf der Basis eines republikanischen Konsenses, der verloren zu gehen droht.
Das Spektrum der Unzufriedenheit ist breit, und ohne den Rechtspopulismus von Pegida, ohne Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Islamophobie zusammen mit sehr ernsthafter Kritik an gegenwärtigen demokratischen Zuständen in einen Topf zu werfen, kann man doch gemeinsame Muster erkennen, die weiter blicken lassen als eine erste Reaktion gerechter Empörung, so verständlich und politisch notwendig diese auch ist. Gemeinsamkeiten zwischen den Dresdner Pegida-Bürgern und den „Wutbürgern“ Stuttgarts im Kampf gegen das Projekt „Stuttgart 21“ liegen auf der Hand: Der Aufstand der Basis gegen das Establishment, gegen den vermeintlich verschworenen Konsens der staatlichen Institutionen, zumal der repräsentativen Demokratie, ist allgegenwärtig geworden – und übrigens nicht mehr ohne weiteres, weder in Dresden und erst recht nicht in Stuttgart, auf sozialökonomische Marginalität zurückzuführen: Mit Aufständen des Prekariats, der „Abgehängten“, der „Überflüssigen“ im ökonomischen Sinne haben wir es hier nicht zu tun. Das Ohnmachtsgefühl, die Angst vor Übermächtigung ist zwar ähnlich, heftet sich aber an ganz unterschiedliche Themen, an „rechte“ wie Fremdenfeindlichkeit ebenso wie an ökologische Fortschrittsskepsis, die traditionell „links“ angesiedelt war, was sich für die jüngeren Infrastrukturproteste aber nicht mehr ohne weiteres sagen lässt.
Aufseiten der intellektuellen Linken hat sich in den vergangenen Jahren eine spezifische Entkopplungsdiagnose, eine sehr grundsätzliche Variante des gouvernemental-populären Trennungsdenkens durchgesetzt, die besonders in Deutschland sehr breit in die allgemeine Zeitdiagnose und in mediale Beschreibungsmuster diffundiert ist. In Teilen der Politikwissenschaft wird die Überlebensfähigkeit des liberal-repräsentativen Demokratiemodells überhaupt infrage gestellt. Die „Postdemokratie“ droht nicht erst in der Zukunft, sondern hat sich für Colin Crouch, um nur einen einflussreichen Namen zu nennen, bereits seit den siebziger Jahren in die politischen Strukturen hineingefressen, ihr Inneres weithin zerstört und – im Gegensatz zu den offen diktatorischen Übergriffen, wie wir sie aus früheren Zeiten kannten – nur noch (und insofern besonders perfide) die institutionellen Hüllen der Demokratie stehen lassen. Sicher gibt es noch ein Parlament und wir dürfen wählen, nur habe das im Grunde keine Bedeutung mehr, sei bloße Spielwiese oder Blendwerk der Mächtigen. In solchen Narrativen, die oft einer marxistischen Theoriespur folgen, ist die Entpolitisierung weiter Teile der Bevölkerung Ausdruck einer neoliberalen Entmündigung, einer globalkapitalistischen Neo-Autokratisierung im Verbund ökonomischer und politischer Eliten, gegen die derzeit kein Kraut gewachsen scheint.
Der schmale Grat zwischen Postdemokratie-Diskurs und Verschwörungstheorien
Gewiss lässt sich der zugespitzte Begriff der Postdemokratie auch pragmatischer interpretieren (und schnell würde man Crouch, der im Herzen ein klassischer Sozialdemokrat ist, dafür gewinnen können). Erst recht ist unbestreitbar, dass damit der Finger in Wunden der ökonomischen und politischen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte gelegt wird wie die wachsende Ungleichheit oder die prekäre Governance der Globalisierung. Und doch ist der Grat, der Theorien der Postdemokratie und der neoliberalen Entpolitisierung von Manipulations- und Verschwörungstheorien trennt, manchmal arg schmal, und bei einem Teil von ihnen ist ein linkspopulistischer Appeal mit Wirkung auf soziale Bewegungen wie „Occupy“ unübersehbar und ja auch – man denke etwa an Antonio Negri und Michael Hardt, oder an David Graeber – sehr bewusst intendiert. Gewiss, scharfe Kritik der Macht ist der Beruf des Intellektuellen. Und doch stimmt es bedenklich, wenn die radikale Krisendiagnose linker Politikwissenschaftler, ihr Befund einer weit fortgeschrittenen Erosion der Demokratie, auch bei nachdenklichen sozialdemokratischen Politikern bloß noch auf völliges Unverständnis trifft (wie es der Autor dieses Artikels mehrfach bei Podiumsdiskussionen erlebt hat).
Daneben stehen pragmatischere Varianten der Kritik, zum Beispiel als Frage an die soziale Ausgewogenheit von politischem Interesse und Engagement angesichts von sinkender Wahlbeteiligung und dem Aufstieg neuer Partizipationsformen, in denen zunehmend ein Übergewicht der gebildeten Mittelklassen zum Ausdruck kommt. Oder, ganz klassisch, als Frage an die Mechaniken der Mehrheits- und Regierungsbildung, die – wie zuletzt wieder nach der Bundestagswahl 2013 – dem übergreifenden Konsens einer Großen Koalition den Vorzug vor einer klaren Profilierung von Alternativen geben. Denn die Opposition soll nach klassischem Westminster-Verständnis ja „Regierung im Wartestand“ sein. Wenn das von den parlamentarischen Proportionen her nicht mehr gewährleistet ist, darf man sich über außerparlamentarische Opposition, wie schon zwischen 1966 und 1969, nicht allzu sehr wundern.
Die Konsens- und großkoalitionäre Sehnsucht bezieht dabei immer wieder auch Parteien ein, die formal in der Opposition sind, etwa die Grünen. Der Stern-Journalist Hans-Ulrich Jörges hat Ende letzten Jahres mehrfach von einer „Monsterkoalition“ gesprochen und war damit in aller Munde – der Begriff wurde aber schon von Rudolf Augstein im April 1967 verwendet. Jörges zielte auf den vermeintlichen Konsens der Steuereintreiber, die sich einig seien, dem Bürger das Geld aus der Tasche zu ziehen – das ist nun freilich ein uralter Topos, der zumal in der amerikanischen Demokratie bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, und im übrigen Ausdruck einer in Deutschland eher seltenen Variante „libertärer“ Regierungs- und Institutionenkritik.
Der Warnung vor allzu viel Konsens, vor der Verdrängung von Streit mit der Folge eines Verschwindens des Politischen begegnet man auch in einer anderen, wieder mehr intellektuellen Variante. Sie ist durchaus in der liberalen Mitte angesiedelt, liebäugelt aber gelegentlich mit markanten Denktraditionen der deutschen Rechten. Ein Beispiel: Die Bundesregierung bemüht sich im Fahrwasser größerer Debatten über neue Maßstäbe von Wohlstand jenseits von quantitativem Wachstum und Bruttoinlandsprodukt um normative Maßstäbe für die Gestaltung eines „guten Lebens“. Könnte man diesem Anspruch nicht, bei allem Streit um die Bewertung und Ausgestaltung solcher Kriterien, nicht prinzipiell zustimmen? Das Feuilleton der FAZ jedoch attackierte solche Anstrengungen am 2. Dezember 2014 mit größtmöglichem Kaliber als einen „netten Versuch, die Politik nach und nach abzuschaffen“. Geht es auch etwas kleiner, möchte man da fragen? Das erwähnte Paradox von Streit und Common Sense, von Dissens und Konsens, wird hier deutlich greifbar: Im Namen normativer Ideale, so die berechtigte Warnung, soll der politische Streit nicht ausgehebelt werden. Der Vorwurf, die Politik abzuschaffen, stellt sich aber selbst ins Abseits jeder vernünftigen Streitkultur.
Im Paralleluniversum der diffusen Verschwörungstheorie
Jedenfalls sollten wir uns über die zunehmend aggressive, anti-elitäre und anti-institutionelle Haltung rechter (und manchmal auch linker) Populisten weniger wundern, wenn Katastrophismus, Manipulations- und Verschwörungstheorien an vielen Stellen der politischen Kultur Blüten treiben, ohne dass ihnen entschieden genug widersprochen wird. Frustrierte Bürgerinnen und Bürger wenden sich in demonstrativem Ekel von der demokratischen Politik ab; in Internetforen und Kommentarfunktionen selbst seriöser Medien scheint die Mehrheit in einem diffus-verschwörungstheoretischen Paralleluniversum zu leben, in dem Politiker und andere Eliten nichts anderes tun, als die Menschen gehörig übers Ohr zu hauen, zu lügen und zu betrügen. Über die „Lügenpresse“ muss man sich aufregen – aber warum dann nicht auch über jemand wie Thilo Bode, einstmals verdienstvoller Verbraucherschutz- und NGO-Pionier, in dessen Buchtiteln genau dieses Weltbild in hetzerischer Manier verbreitet wird: „fälschen“, „lügen“, „betrügen“ in allen Variationen, und immer ist das populistische „wir“ das bemitleidenswerte Opfer. Das Weltbild eines vermeintlich hermetischen Elitenkonsenses zum Schaden der Bevölkerung treibt seltsame Blüten.
Noch ein Beispiel: Meinhard Miegels Denkwerk Zukunft, sicher nicht des politischen Extremismus verdächtig, annoncierte jüngst seinen Jahresbericht 2014 und wirbt für seine Aktivitäten, „damit der derzeit programmierte Kollaps wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen vermieden wird.“ Welcher Kollaps, und wer hat ihn „programmiert“? Die Probleme sind groß genug, aber streiten wir nicht seit langem sehr ernsthaft und produktiv über Energieeffizienz und nachhaltige Alters-sicherung im demografischen Wandel, über die Zukunftsfähigkeit von Industrien und über die Bildungschancen für morgen?
Gegen die Große Koalition der Politik hat sich so etwas wie eine Große Koalition der Arroganz gebildet, die politische Auseinandersetzungen nicht mehr ernst nehmen will und diffuse Radikalalternativen beschwört, sei es in der Eurokrise oder angesichts von steigenden Flüchtlingszahlen. Erst in diesen Radikalalternativen, so die Suggestion, werde die verlorene Autonomie der Politik wiederhergestellt. Man möchte dem mit Max Weber entgegnen: „Die Politik bedeutet ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“
Inseln der Entpolitisierung liegen neben Inseln der Beteiligung
Gleichwohl ist kaum zu übersehen, dass Konsensorientierung, lagerübergreifende Politikstile und manchmal auch die gefährliche Stilisierung von „Alternativlosigkeit“ im frühen 21. Jahrhundert eine größere Rolle spielen als zuvor. Man kann diese Diagnose auf sehr grundsätzliche Füße stellen, wie es die postmarxistische Politikwissenschaft tut, und stößt dann auf Einschränkungen der souveränen demokratischen Handlungsspielräume des Nationalstaats in einer neuen Phase von Globalisierung und Kapitalismus.
Aber es ist auch kein Zufall, dass solche Erklärungen in Deutschland einen besonders tiefen Resonanzraum gefunden haben, denn die politischen Kulturen westlicher Demokratien haben sich in den vergangenen drei bis vier Jahrzehnten keineswegs einander angenähert, sondern in sehr unterschiedliche Richtungen bewegt. Im Parteiensystem der Vereinigten Staaten hat sich das genaue Gegenteil der deutschen Entwicklung vollzogen: Die Volksparteien haben sich nicht in die Mitte bewegt, wo sie sich programmatisch zunehmend überlappen, sondern es hat eine Polarisierung und Entdifferenzierung stattgefunden. Die Republikaner sind „rechter“ geworden, zu einer genuin konservativen Partei, die Demokraten hingegen „linker“ und durchaus sozialdemokratisch im (klassischen) europäischen Sinne. Die politischen Optionen stehen sich scharf gegenüber, und man sorgt sich um das, wovon wir in Deutschland oft ein Übermaß verspüren: Konsens und Kompromiss, die – wenn überhaupt – nur noch prozedural aber nicht inhaltlich wiedergewonnen werden können.
Auch zwischen europäischen Nachbarn existieren solche Unterschiede. In Frankreich, in Italien oder in Griechenland kann von einer „Monsterkoalition“ keine Rede sein. Zumal in Frankreich haben sich in jüngster Zeit die klassischen ideologisch-politischen Lager der Linken und der Rechten, der Arbeiterschaft und des Bürgertums, des Keynesianismus und der Austerität noch einmal aktualisiert, als wären wir in der Bundesrepublik der frühen achtziger Jahre. Der fundamentale Dissens über die Wirtschaftsordnungspolitik – Staatsintervention oder Markt, Deficit-Spending oder Austerität – prägte in den vergangenen fünf Jahren auch die europäische Politik angesichts von Banken- und Staatsschuldenkrise.
Man muss also zunächst einmal, nicht nur in geografischer Hinsicht, von einem komplizierteren Bild ausgehen. Politische Räume des Konflikts stehen neben solchen des Konsenses; Inseln der Entpolitisierung und Abkopplung von Partizipation liegen neben Inseln einer Beteiligung, die intensiver und vielfältiger ist als in vorangegangen Jahrzehnten.
Insgesamt hat sich die politische Kultur der Bundesrepublik in Richtung Konsens und „Zentrismus“ entwickelt, und zwar im Vergleich mit anderen Demokratien ebenso wie gegenüber ihrer eigenen Vergangenheit. Zwar etablierte sich die Neigung zum Konsens – von einer noch älteren Konfliktscheu einmal abgesehen, die Intellektuelle wie Ralf Dahrendorf scharf kritisierten – schon in Grundentscheidungen der Nachkriegszeit, zumal am Ende der fünfziger Jahre zwischen der Rentenreform von 1957 und dem Einschwenken der SPD auf die Verwestlichung, den das Godesberger Programm von 1959 und Herbert Wehners Bundestagsrede vom 30. Juni 1960 markierten. Später hat Helmut Kohl die Brandtsche Ostpolitik akzeptiert und die Grünen sind ebenfalls auf den Gründungskonsens der Bundesrepublik – Parlamentarismus, Soziale Marktwirtschaft, Nato-Mitgliedschaft – eingeschwenkt. (Auch die Linke wird dies tun müssen, sonst bleibt Rot-Rot-Grün eine Chimäre.) Insofern setzt sich in den lagerübergreifenden Grundentscheidungen der vergangenen zwölf Jahre – von der Agenda 2010 bis zum Atomausstieg – nur das Muster früherer Jahrzehnte fort. Aber früher wurde scharf gestritten und erst rückwirkend ein Konsens hergestellt, der heute oft von Anfang an gilt und manche Klage über vermeintliche politische Tabuzonen (darf man noch gegen den Euro sein, oder für Atomkraftwerke?) nährt.
Schöders Agenda 2010 markiert den Übergang in die »Berliner Republik«
Deshalb bleibt die Schrödersche Agenda 2010 ein Angelpunkt für Veränderungen der politischen Kultur in Deutschland und markiert, weit über die Sozialreformen hinaus, den Übergang in die „Berliner Republik“. Hinter der Agendapolitik sammelte sich bereits jene „Monsterkoalition“ von den Unionsparteien bis zu den Grünen, und der zugrunde liegende neue Konsens reichte weit über die Hartz-Reformen hinaus. Er gründete in einem Paradigmenwechsel zu einer Politik der „generationellen Nachhaltigkeit“ und Verantwortung, über die sich grüne, christlich-konservative und sozialdemokratische Politikideale neu definieren und ein Stück weit angleichen konnten. Dabei war die konkrete Politik (etwa die Hartz-Gesetze) nicht Ursache, sondern Ausdruck einer größeren Kultur- und Mentalitätsverschiebung. Das Nachhaltigkeitsparadigma verknüpfte sich – auf eine Weise, die man außerhalb Deutschlands kaum irgendwo findet – mit einer spezifischen governmentality (Michel Foucault), auf die sich wiederum (natürlich mit Varianten und nicht ohne Konflikte) die drei großen Parteilager einigen konnten: nämlich auf das Paradigma einer markt- und effizienzorientierten Staatsintervention. Das ist die besondere deutsche Form des „Neoliberalismus“ geworden, auf ganz unterschiedlichen Politikfeldern: im Sozialstaat von Hartz IV ebenso wie in der Bildungs- und Hochschulpolitik. Staatsaktivität, Regulierung, Planung – alles im Namen von Wettbewerb und Effizienzoptimierung.
Zugleich folgt Politik in der Bundesrepublik nicht mehr überwiegend – wie noch in Frankreich – der Logik von Klassengegensätzen und Verteilungskämpfen, sondern einem moralischen Paradigma. Die fundamentale Ethisierung der deutschen Politik hat viel mit dem besonderen Erfolg der Grünen in diesem Land zu tun – oder ist dieser Erfolg schon Ausdruck einer tieferen Sehnsucht nach einer Politik, die nicht von Eigeninteressen, sondern von „höheren“ moralischen Maßstäben geleitet ist? Wenn Politik das Zusammenstoßen von Interessen ist (Arbeiter gegen Unternehmer, Stadt gegen Land, Beamte gegen Angestellte), dann ist Konflikt statt Konsens das Ergebnis. Die moralische Codierung dagegen verheißt Eindeutigkeit – den Konsens dessen, was manchmal polemisch das Gutmenschentum genannt wird: Wie sollte man gegen ein Naturschutzgebiet, gegen Inklusion, oder für „Klimakiller“ sein? Wie können sich Konflikt und Pluralismus noch artikulieren, wenn es nicht mehr um „meine gegen deine“ Interessen geht, sondern um vermeintlich ethisch objektivierte Ziele des gemeinsamen Eintretens für die Belange Dritter? Vielleicht kehrt, im moralischen Gewande, eine ältere deutsche Präferenz für ein übergeordnetes Gemeinwohl zurück. Jedenfalls ist auffällig, dass Interessenpolitik inzwischen häufig unter prinzipiellen Verdacht steht, egal ob es sich um Wirtschaftsverbände oder um kraftvoll auftretende Arbeitnehmergruppen und Gewerkschaften handelt.
Die politische Kultur der Bundesrepublik bevorzugt Befriedung vor Antagonismus. Wo ist das ein Vorzug, wo wird es zum Nachteil, ja zur Gefahr für die Demokratie? Diese Frage ist jedenfalls schwieriger zu beantworten, als manche es im Streit um Konsenskultur und vermeintliche Entpolitisierung wahrhaben wollen. Ausgerechnet unter einer CDU-geführten Regierung hat sich Deutschland mit der „Energiewende“ an die Spitze einer gewaltigen Transformationsanstrengung gestellt; um Atom und Kohle führen wir nur noch Nachhutgefechte – im Unterschied zu den Vereinigten Staaten, Frankreich, England, Japan oder China. „Darf“ man noch argumentieren, dass Deutschland gerade im Abschied von den fossilen Energieträgern an der nuklearen Option bis in die Mitte des 21. Jahrhunderts hätte festhalten sollen? Was für die einen ein Tabu darstellt, ist für andere Ausdruck einer gelungenen Befriedung. Das gilt erst recht für gesellschaftspolitische Themen, bei denen in Deutschland seit längerem (wie bei der Abtreibungsregelung nach der Wiedervereinigung) oder seit jüngster Zeit (wie bei der Ehe für Homosexuelle) ein de facto-Konsens etabliert ist, während darüber in den Vereinigten Staaten oder in Frankreich schärfste Konflikte über ideologische Gräben hinweg ausgetragen werden.
Die diffuse Sehnsucht nach großem Kampf und klarem Feindbild
Soll dieser Konsens aufgebrochen werden, um der Sache willen, oder sogar wegen eines höheren Prinzips, das Politik als antagonistischen Kampf präferiert? Tatsächlich wurzeln einflussreiche Strömungen der Entpolitisierungs-Diagnose weniger in empirischen Befunden über Partizipation oder Entscheidungsfindung als in politiktheoretischen und philosophischen Prämissen. Auch in der postmarxistischen Linken steht dabei nicht selten, wie in den Arbeiten von Chantal Mouffe, der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt Pate, zum Beispiel mit seiner konstitutiven Verankerung des Politikbegriffs in einem Freund-Feind-Schema. Dass dieses Denken in der Weimarer Republik wiederum nicht zufällig auf eine Diskreditierung der liberal-parlamentarischen Demokratie gerichtet war, einschließlich ihres mühsamen Alltagsgeschäfts der Kompromissfindung, gerät dabei leicht aus dem Blick. Jedenfalls ist in manche Klage über das vermeintliche Verschwinden des Politischen ein elegischer Trivial-Schmittianismus eingesickert – als diffuse Sehnsucht nach dem großen Kampf und dem klaren Feindbild. Dabei finden sich intellektuelle Gegenpositionen, sofern man eine solche Zuordnung wissenschaftlicher und politischer Grundhaltungen überhaupt vornehmen kann, ebenfalls in linken oder linksliberalen Traditionen. Dazu zählt der progressive Neo-Aristotelismus Martha Nussbaums ebenso wie die Kommunikations- und Demokratietheorie von Jürgen Habermas. Die Frage nach den politischen Bedingungen eines „guten Lebens“ ist nur dann unpolitisch oder gar entpolitisierend, wenn man normative Ansätze grundsätzlich für verfehlt hält und ihnen, sei es im Carl Schmittschen oder im marxistischen Sinne, eine bewusste Verschleierung von Machtverhältnissen vorwirft. Jürgen Habermas’ Idee einer deliberativen Demokratie und eines vernünftigen demokratischen Konsenses hat in Deutschland nicht nur intellektuell, sondern auch praktisch stark gewirkt. Sie ist in den sozialen Bewegungen aufgegriffen worden und spielt in der Erneuerung von direkter und lokaler Demokratie eine wichtige Rolle. Zugespitzt kann man sagen: Sie hat demokratiefördernd gewirkt, aber zugleich den Konsens prämiiert (statt den antagonistischen Konflikt).
Praktisch gesehen, ist die Klage über einen allzu großen (Eliten-) Konsens der Ausdruck einer neuen Konstellation der Demokratie, die sich weltweit herausbildet. Im klassischen Modell der Demokratie, vom späten 19. bis in das späte 20. Jahrhundert, standen sich soziale Klassen, Parteien, Ideologien horizontal gegenüber. Politische Führung in der Partei oder im Parlament repräsentierte und exekutierte diese Gegensätze – die Arbeiter waren stolz darauf, wenn „ihr“ sozialdemokratischer Abgeordneter im Parlament oder als Minister ihre Interessen vertrat. Im neuen Modell, das man in Anlehnung an Partha Chatterjee „postkoloniale Demokratie“ nennen kann, haben wir es mit einer vertikalen Konfliktachse zu tun: Die politische Klasse und ihre Institutionen, auch wenn sie demokratisch gewählt und legitimiert sind, stehen gegen das Volk, das seine Interessen in der Politik der Eliten nicht mehr hinreichend repräsentiert sieht. Die Bürgerinnen und Bürger sind misstrauisch gegenüber den politischen Eliten geworden. Und das störrische und aufmüpfige Volk schweißt die Amts- und Mandatsträger umso mehr in dem zusammen, was sie für vernünftige, gemeinwohlorientierte, sich dem Populismus verweigernde Politik halten müssen.
Mehr Konflikt, weniger Getöse. Was jetzt zu tun wäre
Das beschreibt eine fundamental verschobene Konstellation, die uns auf absehbare Zeit nicht nur in der Bundesrepublik beschäftigen wird. Hoffnungen auf eine schnelle Änderung, gar eine Rückkehr in bessere Zeiten, müssen enttäuscht werden, weil die gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen sich geändert haben.
Das heißt nicht, angesichts von Krisensymptomen in Fatalismus verfallen zu müssen. Die politische Kultur in Deutschland wird konsensorientierter bleiben als in anderen westlichen Demokratien. Ob man persönlich dem polarisiert-konflikthaften Stil der USA oder Frankreichs den Vorzug gibt, mag jede(r) für sich entscheiden. Etwas mehr Konfliktorientierung könnte der Bundesrepublik freilich nicht schaden. Was wäre zu tun?
Erstens: Der Bedarf an Großen Koalitionen ist gedeckt; im Bund darf sich dieses Modell 2017 nicht fortsetzen. Ohne in überholte „Lagertheorien“ zurückzufallen, müssen sich die Volksparteien wieder als Regierung und Opposition gegenüberstehen. Sie müssen klar unterscheidbare programmatische Profile und Zukunftsvisionen bieten.
Zweitens: Interessengegensätze sind legitim, genauso wie das Eintreten für eigene Interessen und Überzeugungen. Das „gute Leben“ lässt sich nicht moralpolitisch präjudizieren. Liberale Demokratie, Rechtsstaat, Menschenwürde sind unveräußerlich – aber dabei kann man für oder gegen Atomenergie oder Kohlekraftwerke, für oder gegen ein gegliedertes Schulsystem, für oder gegen höhere Steuern auf Erbschaften und Vermögen sein.
Drittens: Die politischen Parteien müssen sich ungleich entschiedener als bisher öffnen und neu erfinden, damit die Kluft zwischen Institutionen-Demokratie und populärer Demokratie nicht weiter wächst. Anhängerschaft und Unterstützung lassen sich auch ohne formale Mitgliedschaft gewinnen; die Mobilisierung in Wahlkämpfen kann dabei eine wichtige Rolle spielen. In dieser Hinsicht kann man sich Barack Obamas Kampagnen von 2008 und 2012, auch wenn man um kaum überwindbare Unterschiede weiß, gar nicht genug zum Vorbild nehmen.
Viertens aber sind Antagonismus und Konfliktgetöse kein Selbstzweck, und die zunehmend billiger werdende Kritik an Eliten und Politik zerstört einen Common Sense, innerhalb dessen sich vernünftiger demokratischer Streit überhaupt erst konstituieren kann. Deshalb sollten wir diffusen Szenarien von Manipulation und Verschwörung, populistischer Elitenkritik und Politikverachtung, ob sie sich in Internetforen äußert, in reißerischer Publizistik oder beim Gespräch unter Freunden und Kollegen, viel entschiedener als bisher entgegentreten.
Im März hat Paul Nolte sein neues Buch „Demokratie: Die 101 wichtigsten Fragen“ im C.H. Beck Verlag veröffentlicht. Es hat 160 Seiten und kostet 10,95 Euro.