Der Traum von der deutsch-jüdischen Renaissance
An der Tür springt „Schomer“ aufgeregt an mir hoch und wedelt mit dem Schwanz. Sein Herrchen Rafael Seligmann erklärt mir, dass der Name seines Hundes aus dem hebräischen stammt und Wächter bedeutet. Schomer werde dem aber kaum gerecht. Dazu sei er viel zu verspielt. Die Wilmersdorfer Wohnung beherbergt die Redaktion der von ihm herausgegebenen Jewish Voice from Germany. Mit der auf Deutsch und Englisch erscheinenden Zeitung möchte Seligmann Brücken schlagen zwischen Juden und Nichtjuden, Geschichte und Gegenwart, Deutschland und der Welt.
Wir schlendern an diesem herrlichen Spätsommerabend zum Ludwigkirchplatz und finden noch einen sonnigen Tisch im Café Restaurant Weyers. „Die meisten Restaurants in der Gegend sind so schickimicki. Aber das Weyers ist angenehm normal und bodenständig.“ Der Außenbereich des Lokals ragt in einen kleinen Park mit Spielplatz hinein, der zu dieser Stunde regen Zuspruch findet. Die um uns herum spielenden Kinder sind kaum jünger als Seligmann war, als er mit seinen Eltern zurück von Tel Aviv nach München zog. „Das war gerade mal 12 Jahre nach Hitler“, erzählt er und beschreibt, wie strikt seine Mutter gegen diesen Schritt war. Sie wollte nicht in das Land zurückkehren, aus dem sie geflohen war und wo ihre Familie ermordet wurde.
Doch sein Vater setzte sich durch und versprach dem damals zehnjährigen Rafi: „Deutschland wird Dir gefallen“. Ein Satz, den Seligmann später als Titel seiner Autobiografie wählte. Bis es ihm in Deutschland aber tatsächlich gefiel, verging noch viel Zeit. Der spätere Journalist und Schriftsteller wurde mit dem Umzug als junger Schüler zunächst wieder Analphabet, weil er in Tel Aviv zwar zweisprachig aufwuchs, aber nur hebräisch schreiben gelernt hatte. Seligmann berichtet, wie groß die Umstellung gewesen sei, fortan zu einer Minderheit zu gehören. Sein einziger jüdischer Mitschüler erklärte ihm, er wolle fortan nicht mehr Mosche genannt werden, sondern Manfred. Dieser Anpassungsversuch sei symptomatisch für eine Grundangst von Minderheiten, sagt Seligmann. Er selbst aber habe keine Angst, sich zu artikulieren. Im Gegenteil, nicht zur Mehrheitsgesellschaft zu gehören, schärfe die Wahrnehmung.
Rafael Seligmann bestellt Gemüsecurry, ich einen Flammkuchen. Die Gerichte sind, wie er angekündigt hatte, schnörkellos und gut. Beim Essen kommen wir auf die Entstehungsgeschichte der Jewish Voice from Germany zu sprechen. Die Idee sei ihm gekommen, als er Chefredakteur der Atlantic Times war, eines englischsprachigen Magazins, das einem internationalen Publikum über das moderne Deutschland berichtet. „Warum gibt es nicht auch eine internationale Zeitung, die über das zeitgenössische Judentum in Deutschland schreibt, habe ich mich gefragt?“ Mit seinem Herzensprojekt, „eine Zeitung für die Lebenden“ zu entwickeln, wurde er vom Journalisten zum Entrepreneur.
Sein Wagnis, eine neue Publikation auf den schrumpfenden Zeitungsmarkt zu bringen, hat sich gelohnt: Die englischsprachige Auflage ist von 30 000 auf 50 000 Exemplare gestiegen und wird vor allem in den Vereinigten Staaten, in Westeuropa und in Israel gelesen. Deutschsprachig erscheint die Jewish Voice from Germany als Beilage der Welt. Seligmann glaubt fest daran, dass es auch künftig eine Nachfrage nach professionellem Journalismus geben wird, allerdings würden sich die Geschäftsmodelle von Zeitungen wandeln.
Den Erfolg der Jewish Voice from Germany sieht er im Gegenwartsbezug der Zeitung. Denn endlich gebe es hier wieder eine lebendige jüdische Gemeinde, die auch international auf Interesse stoße. Als er selbst nach Deutschland kam, lebten im Land gerade noch 20 000 Juden. Heute sind es fünfmal so viele. In Deutschland gebe es – nach Israel – die stärkste Tradition jüdischer Kultur. Denn so wie Heinrich Heine, Ferdinand Lasalle und Max Liebermann zur deutschen Geschichte gehören, sind der in Berlin tätige Dirigent Daniel Barenboim, Frankfurts Bürgermeister Peter Feldmann oder der Münchener Mediziner Thomas Ruzicka Teil der modernen Bundesrepublik. Solange Deutschland ein Land der Freiheit und der Menschenrechte bleibe, würden die jüdischen Gemeinden weiter wachsen, sagt Seligmann voraus.
Allerdings seien andere Entwicklungen denkbar: „Wir sind so etwas wie die Gänse im Kapitol, die im antiken Rom frühzeitig vor Gefahren warnten“, meint Seligmann. Antisemitismus sei immer auch ein Alarmsignal für die gesamte Gesellschaft. Die antisemitischen Ausbrüche vor allem von Islamisten während des jüngsten Gaza-Krieges hätten vielen Juden Sorgen bereitet. Es müsse in Deutschland ein klares Zeichen gesetzt werden, dass Juden hier auf Dauer sicher leben können. Die Presse habe auf antisemitische Ausbrüche im Sommer 2014 schneller regiert als die Politik, die träger war. „Aber immerhin“, sagt Seligmann, „wenn Kanzlerin Merkel auf der Demonstration gegen Judenhass spricht, Außenminister Steinmeier die Ordination von Rabbis besucht und Vizekanzler Gabriel bei einem Empfang der Jewish Voice from Germany die Festrede hält, dann sind das wertvolle Gesten.“ Erkennbar sei, dass sich alle demokratischen Parteien in Deutschland bemühten, zwischen legitimer Kritik an israelischer Politik und illegitimer Kritik an Israel insgesamt zu unterscheiden. „Wir kritisieren ja auch nicht Russland per se, sondern wir kritisieren Putin“, sagt Seligmann.
Beim Thema Putin wird Seligmann leidenschaftlich: Es gehe nicht nur um Teile der Ukraine, sondern um das gesamte Land. Und was komme dann? Die baltischen Staaten seien bereits in berechtigter Sorge. Letztlich stehe die Freiheit des demokratischen Europa auf dem Spiel. Wegen seiner ökonomischen Verflechtung mit Russland falle Deutschland bei der Beilegung des Konflikts eine Schlüsselrolle zu, sagt Seligmann: „Dass die Bundesrepublik in der Außenpolitik grundsätzlich Vorsicht walten lässt, ist vernünftig. Aber das Land darf sich auch nicht hinter seiner Geschichte verstecken.“ Appeasement bestärke Putin nur in seinem Kurs, notfalls müsse Russland mit dem Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen gedroht werden.
Beim Digestif unter den Bäumen am Ludwigkirchplatz kommen wir auf Seligmanns Dissertation über Israels Sicherheitspolitik zu sprechen – ein Thema, das ihn bis heute beschäftigt und über das er nicht nur in Intelligenzblättern wie der Zeit, sondern auch in seiner Kolumne in der Boulevardzeitung B. Z. schreibt. Komplexe Themen prägnant und verständlich aufzubereiten, sei eine Kunst und harte Arbeit, die er gerne mache.
Rafael Seligmann hat sich nicht nur als außenpolitischer Experte, sondern auch als Schriftsteller einen Namen gemacht. Auf die Frage, welchen seiner Romane er selbst am liebsten verschenke, antwortet er: Der Milchmann. Die Geschichte handelt von einen Holocaust-Überlebenden, der als Held und Lebensretter im KZ gilt, tatsächlich aber das dunkle Geheimnis hütet, sein Leben auf Kosten der Mithäftlinge gerettet zu haben. „Juden sind auch nur Menschen“, lässt Seligmann eine seiner Romanfiguren sagen. Mit dem von einigen Kritikern als provokant empfundenen Roman wehrt er sich gegen die Gefahr, dass das schlechte Gewissen der Deutschen die Juden zur Opfergemeinschaft verklärt. Seligmann schreibt derzeit an einer Fortsetzung der Geschichte. Sie handelt vom Sohn des Milchmanns.
Wir verabschieden uns. Rafael Seligmann will zurück in seine Redaktion. Er muss die nächste Ausgabe fertigstellen. So trägt er dazu bei, dass ein Traum Wirklichkeit werden kann: eine deutsch-jüdische Renaissance.