Die Lage der Progressiven in Europa

Die Shoreditch Town Hall steht in einer Ecke von Londons Osten, die auf eine besonders bewegte politische Lokalgeschichte zurückblicken kann. Eben hier traf sich Ende Februar dieses Jahres ein Kreis von insgesamt fünfzig bis sechzig Vertretern der europäischen demokratischen Linken, der "Progressiven", wie sie sich manchmal nennen, oder der "Mitte-Links-Parteien", wie es im Milieu von New Labour meistens heißt

Eingeladen hatten der Londoner Think Tank Policy Network und die britische Niederlassung der Friedrich-Ebert-Stiftung, die sich schon öfter gemeinsam den Kopf zerbrochen hatten über Wohl und Wehe der Linken in Europa und darüber hinaus. Der Anlass des Treffens: ein Strategiegespräch über die Themen Immigration, sozialer Zusammenhalt und das nicht mehr ganz neue, von manchen Linken aber offenbar erst jetzt hinreichend ernst genommene Phänomen des europäischen Rechtspopulismus.

Höchste Zeit für so eine Beratung, könnte man sagen, denn der Gesprächsbedarf angesichts der Entwicklung in Europa und der etwas bedrängten Lage der Linken ist offenkundig. Vielleicht waren gerade deshalb zeitweise gleich mehrere britische Minister, Juniorminister und Ex-Minister gleichzeitig anwesend, was sonst nur bei Labour-internen Veranstaltungen der Fall sein dürfte, an denen Tony Blair höchstpersönlich teil. Mindestens so ungewöhnlich war, dass auch aus Spanien eine dreiköpfige Delegation angereist war, die sich aktiv an den Beratungen beteiligte. Die Krise der Linken wird offenbar auch dort wahrgenommen, wo sie am wenigstens sichtbar ist.

Aber zunächst zum Shoreditch-Viertel: Den Gästen von außerhalb berichtete der lokale Labour-Abgeordnete Charles Clarke, ein ehemaliger Innenminister der Blair-Regierung, zur Einstimmung in ihr Beratungsthema von den wilden dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Damals hätten gerade hier britische Rechtsradikale mit Gewalt gegen den Zuzug jüdischer Einwanderer protestiert. Zwischen ihnen und den Migranten vom europäischen Kontinent sei es zu regelrechten Straßenschlachten gekommen. Die implizite Botschaft von Clarkes Erzählung: Alles schon da gewesen. Und in der Tat: Migration, Xenophobie, Populismus, Extremismus, Krise der Demokratie – nichts davon ist wirklich neu. Was nicht heißt, dass es harmlos ist. Bekanntlich ist die Demokratiekrise der dreißiger Jahre Europa nicht besonders gut bekommen.

Die Konfliktlinien im Zeitalter der Globalisierung verlaufen heute anders, aber wiederum überall in vergleichbarer Manier, in London wie in Paris, in Amsterdam, Stockholm oder Berlin. Die Lage im Viertel rund um die Shoreditch Town Hall hat sich äußerlich einigermaßen beruhigt, ohne dass freilich das Problem politischer und kultureller Konflikte verschwunden wäre. Die nationalchauvinistischen Extremisten, die in den späten siebziger Jahren hier noch einmal eines ihrer Zentren hatten, haben sich inzwischen lediglich ein paar Meilen weiter neu festgesetzt. Sie sind überaus aktiv, in London und anderswo im Land.

Die Agitation der britischen Rechtsradikalen – gegen Fremde, Andersgläubige und Andersdenkende, gegen Europa und gegen die liberale Demokratie – bleibt offenkundig nicht ohne Wirkung auf die traditionelle Klientel der Labour Party. Die traditionellen Linkswähler sind nicht ausreichend immun gegen die simplen Sprüche der rechten Demagogen aus der British National Party, die anscheinend näher dran sind an der Stimmung in den Pubs. Die glitzernde und glatte Reformrhetorik des dreifachen Wahlsiegers Tony Blair ist dorthin zuletzt kaum noch durchgedrungen. So gerät der Führungsanspruch der Progressiven auch auf der Insel in Bedrängnis. „Wenn die Linke ein progressives Jahrhundert haben will“, beschwor Liam Byrne, Staatssekretär im Innenministerium, die Gäste vom Kontinent, „dann muss sie mit der Migration fertig werden“. Es klang wie eine Zielvorgabe, war aber wohl eher eine Warnung: Nur wenn wir die Zuwanderung stoppen, bleiben wir an der Macht! Schwer genug. Aber ob das allein reicht?

Die britische Regierungslinke – mit all ihrer fortgeschrittenen Expertise beim Einsatz demoskopischer Techniken und massenkommunikativer Methoden – steht nicht allein vor diesem Dilemma. In ganz Europa suchen die Progressiven nach einer zeitgemäßen Balance zwischen neuen Problemkonstellationen und überkommenen Problemlösungen: in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, in der Sozialpolitik, in den Fragen der Migration und Integration, beim Konflikt zwischen Rechtsstaatsprinzipien und Antiterrorstrategien, in der Außen- und Sicherheitspolitik, bei drohenden Kollisionen zwischen nationalen Interessen und internationalen Zwängen. Die Preisfrage lautet: Gibt es genuin „progressive“ Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, das heißt reale, nicht nur rhetorische Wahlmöglichkeiten zwischen der einen oder der anderen Politik? Oder herrscht unverändert überall das Prinzip T.I.N.A., benannt nach dem berühmt-berüchtigten Dogma, mit dem Margaret Thatcher einst die vatikanische Unfehlbarkeit des Neoliberalismus begründete: „There Is No Alternative“?

 

Sozialreformen mit dem argumentativen Holzhammer

 

Es gibt keine Alternative: Lange genug haben sich auch Sozialdemokraten von Skandinavien bis Griechenland zur Durchsetzung mancher schmerzhaften Sozialreformen dieses argumentativen Holzhammers bedient – und tun es bis heute. So geisterte T.I.N.A. auch durch die Debatten der Konferenz im Londoner Osten: Da begründete der streitbare britische Innenminister John Reid die aktuellen Verschärfungen der britischen Einwanderungspolitik mit der öffentlichen Stimmung. Der müsse man schon Rechnung tragen, sonst gute Nacht! „Wenn wir, die progressive Linke, es nicht schaffen, dann werden andere das Thema missbrauchen.“ Er verhieß „robuste Maßnahmen“. Diese dienten, so der Minister, dem Schutz der „verwundbaren Schichten“ im eigenen Land, zu denen er gewiss auch die Einwanderer, aber zunächst einmal die eigenen „Unterschichten“ rechnet.

Die robusten Maßnahmen seien unverzichtbar – also ohne Alternative – im Interesse der „hart arbeitenden Familien“ (also der Einheimischen, die einen Job haben und zugleich argwöhnen, dass alle Ausländer faul sind und von der britischen Wohlfahrt leben). Sie seien nötig für alle diejenigen, „die sich an die Regeln halten“ (will sagen: illegale Einwanderer halten sich nicht an die Regeln). Alle fanden das natürlich einleuchtend, alle kannten das Problem. Nur wo, bitte, liege der Unterschied zu einer konservativen Einwanderungspolitik? Die Antwort des Ministers: „Wir begründen die robusten Maßnahmen mit unseren progressiven Werten.“

Das ist keineswegs so zynisch gemeint, wie es klingt. Was der Labour-Realpolitiker eigentlich sagen will, ist dies: Wir nehmen Rücksicht auf die Ängste (und die Vorurteile) unserer Stammwähler und sichern uns deren politische Unterstützung. Anderenfalls kommen die Chauvinisten, Xenophoben und Rassisten, die viel schlimmere Dinge im Schilde führen. Sie verführen und stehlen uns unsere Wähler und drehen dann das Land flächendeckend radikal nach rechts. Unausgesprochen folgt darauf die nächste – dräuende – Gewissensfrage an die Menschen- und Asylrechts-Linke, ob in Shoreditch und in ganz Europa: Wollt ihr das?

Die öffentliche Stimmung: Sie ist am Ende der Ära Blair kritischer geworden gegenüber Tony Blair und seiner Reformrhetorik. Der rechte Flügel der britischen Gesellschaft ist zwar auf Grund des britischen Mehrheitswahlrechts im Parlament nicht vertreten. Das erleichtert das Regieren, führt aber dazu, dass die politischen Kräfte im Lande nicht angemessen repräsentiert werden, was im Prinzip weniger demokratisch ist. Doch trotz der klaren Mehrheitsverhältnisse wird die Stimmungsänderung in Großbritannien für die Regierung inzwischen allmählich zur Belastung. Das Problem scheint nicht zuletzt darin zu bestehen, dass die Tories sich inzwischen gezielt bemühen, ihr eigenes rechtes Buhmann-Image durch taktische Finessen abzubauen. „Früher haben sie nur über Migration geredet“, spottete Reid im Kreis der Europa-Linken, „heute reden sie über alles außer über Migration.“

Ein trügerisches Schweigen, aber es könnte erfolgreich sein. Das freundliche Umschiffen problematischer Themen hat etwa in Schweden der bürgerlichen Vier-Parteien-Allianz unter Führung der in der Selbstdarstellung nicht mehr ganz so konservativen Konservativen (den „Neuen Moderaten“) den Wahlsieg ermöglicht. Die Sozialdemokraten hatten gegen diese Mimikry nach dem Motto „Wir sind die bessere Arbeiterpartei“ kein Rezept parat.

 

Das Schlüsselthema ist überall die Zuwanderung

 

Auch in den Niederlanden, wo im vergangenen Herbst gewählt wurde, hatten die regierenden Christdemokraten bisherige neoliberale Positionen unauffällig geräumt und eine Atempause bei den Sozialreformen versprochen. Vor allem aber hatten sie das brisante Thema Migration und Integration dem rechtsliberalen Koalitionspartner VVD überlassen, der ganz auf „robuste Maßnahmen“ setzte. Beliebt wird man damit nicht. Die Rechtsliberalen gehörten zu den Verlierern der Wahl. Zwar verloren auch die Christdemokraten Stimmenanteile, blieben aber die stärkste Partei. Die technokratischen No-nonsense-Sozialdemokraten hingegen stürzten ab.

Das hoch emotionale Schlüsselthema ist fast überall die Zuwanderung, wie auch immer man mit ihr umgeht. Dass die politische Ausbeutung solcher auch gefühlspolitischer Fragen beträchtliche Wirkung entfalten kann, ist in den vergangenen zehn Jahren vor allem auf dem europäischen Festland deutlich geworden. Dank des Verhältniswahlrechts wurden die traditionellen Mehrheitsstrukturen in vielen Ländern von relativ kleinen Randparteien aufgebrochen.

Vor allem die Volksparteien der traditionellen Mitte haben die neuen Mitbewerber lange Zeit unterschätzt – nicht zuletzt, weil man mit ihnen nichts zu tun haben wollte. Vor allem aber wollte man vermeiden, sie durch zu viel Aufmerksamkeit noch größer zu machen. Aber der strategische Ansatz des Totschweigens hat nicht geholfen. „Wir haben dafür bitter bezahlt“, sagte erst vor kurzem Alfred Gusenbauer, der neue sozialdemokratische Bundeskanzler in Österreich. Die Populisten breiteten sich auf dem Kontinent aus wie ein Pilzgeflecht.

Die Menagerie der radikalen und extremistischen, überwiegend antidemokratischen Emporkömmlinge ist vielfältig und reicht von ex-maoistischen oder ex-kommunistischen Linkspopulisten wie in den Niederlanden, Deutschland, Schweden, Italien und Spanien über rechtsgerichtete ausländerfeindliche Wohlfahrtschauvinisten wie in Österreich, Belgien, den Niederlanden, Dänemark oder Italien. Hinzu kommen nationalistisch-autoritäre Europa-Gegner, wie sie in Osteuropa populär sind, sowie neofaschistische und neonazistische Extremisten, die in Ostdeutschland ihre Schwerpunkte haben, sich aber auch in einigen der neuen EU-Mitgliedsländer festsetzen konnten.

Das Auftreten dieser radikalen Mitbewerber macht Europas Parteien der Mitte spürbar zu schaffen. Am deutlichsten wurde das im Herbst 2006 bei der Parlamentswahl in den Niederlanden: Die beiden traditionellen Volksparteien, die Christdemokraten von Ministerpräsident Jan Peter Balkenende und die Sozialdemokraten von Oppositionsführer Wouter Bos (inzwischen Finanzminister und einer von zwei Stellvertretenden Ministerpräsidenten) hatten aufgrund der populistischen Erfolge rechts und links der Mitte gemeinsam keine Mehrheit im Parlament. „Schwarz-rote“ Große Koalitionen sind in Westeuropa nicht selten. Traditionell dienen sie als politische Antwort auf schwierige Mehrheitsverhältnisse. Zum ersten Mal war dies in den Niederlanden nun nicht mehr möglich. Deshalb regiert in Den Haag jetzt als Dritter im Bunde die kleine, fundamentalistisch-calvinistische Christen-Union mit, eine Partei mit kulturell antiliberaler Grundhaltung (gegen Homo-Ehe, Abtreibung und Sterbehilfe), aber progressiven Positionen in der Sozialpolitik und mit „christlicher“ Orientierung (Nächstenliebe) in der Zuwanderungsfrage – eine eigentümliche Mischung jenseits der üblichen Muster, die sich über den Tag hinaus zu beobachten lohnt.

Ein Blick auf die politische Landkarte zeigt: Seit die Populisten und Extremisten in Europa politisches Terrain beackern, haben sie die Landschaft erheblich verändert. Vor der Jahrhundertwende hatten Sozialdemokraten und demokratische Sozialisten in den Staaten der alten EU-15 noch einen letzten politischen Höhenflug angetreten. In elf Ländern stellten sie die Regierungschefs, an zwei weiteren Regierungen waren sie als Juniorpartner beteiligt. Wer kennt die Namen noch? Eigentlich war das eine recht passable Truppe: Guterres, Jospin, Kok, Prodi und d’Alema, Schröder, Persson, Lipponen, Nyrup Rasmussen, Vranitzky und Klima, Simitis – einmal ganz abgesehen von Tony Blair. Dazu noch Bill Clinton als „progressiver“ Partner jenseits des Atlantiks – das war das kurze „Goldene Zeitalter“ des demokratischen Fortschritts und der „progressive governance“.

 

Die Ära der Pilotprojekte

 

Diese interkontinentale Reformlinke war etwas übermütig. Sie schickte sich an, „das alte Europa“, wie es Donald Rumsfeld in anderem Zusammenhang bald voller Verachtung nennen sollte, auf die unaufhaltsame Globalisierung einzustellen. Die alten Strukturen wollte sie so schnell wie möglich umbauen, das „Europäische Sozialstaatsmodell“ fit für den Tanz mit dem Finanzkapital machen. Und man tat so, als wäre der globale Kasinokapitalismus ein spannender Maskenball. Es war die Zeit, als der Parteireformer Tony Blair am liebsten von der „Revolution“ sprach, die er im Vereinigten Königreich vorhabe und die eigentlich überall in Europa nötig sei. Blair verkündete Maßnahmen, die gar nicht radikal genug sein konnten. Er predigte die Tugend der permanenten Veränderung und der Anpassung an die neuen globalen Gesetzmäßigkeiten. Vom „lebenslangen Lernen“, von empowerment und den „Rechten und Pflichten“ der Bürger im modernen Sozialstaat war fortan die Rede. Veränderung hatte Charme, „change“ war das Passwort der Stunde. Und die Linken wollten die champions of change werden.

Es war die Ära der Experimente und der „Pilotprojekte“. Bald spottete ein Berater des britischen Reformpremiers: „Wir haben inzwischen mehr Piloten als die British Airways.“ Bei aller sympathischen Selbstironie, selbstkritisch war das nicht gemeint. Man fand sich echt klasse, auch wenn man natürlich ein bisschen übertrieb. Doch es könnte sein, dass die Reformlinken in Wahrheit gewaltig übertrieben haben. Zu forsch machten sie sich auf den „Dritten Weg“, diesen methodischen Pfad zwischen neoliberalem Marktdogmatismus und orthodoxer Sozialstaatsideologie, den der intellektuelle Vater des Blairismus, Anthony Giddens, vorgezeichnet hatte. Zu schnell marschierten sie los, ohne Rücksicht auf die Erfahrung aller Wanderer dieser Welt, dass man die eigenen Kräfte einteilen muss.

Kaum ins Amt gekommen veröffentlichte der neue deutsche Kanzler Gerhard Schröder 1999 gemeinsam mit Tony Blair ein Strategiepapier, dass die Ideen des Dritten Weges auf den Punkt brachte, sich zugleich aber wie eine Kampfansage an alle Traditionen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften las. Soziale Bündnispolitik macht man anders – es sei denn, man sucht seine künftigen Partner auf der bisherigen Gegenseite, also unter den CEOs des internationalen Kapitals. Die traditionelle und gewerkschaftliche Linke zumindest, die den Dritten Weg nicht mitging, hatte genau diesen Verdacht: dass die Mitte-Links-Reformer neue Partner suchten.

Und in der Tat ließen die Genossen Regierungschefs sich in ihrer Reformstrategie von der rationalen Einsicht leiten, dass man in der Zusammenarbeit mit den Wirtschaftsführern mehr erreichen kann als in der permanenten Auseinandersetzung. Das war nicht falsch. Doch die Kursänderung schuf schnell mehr Nähe, als politisch hilfreich war. Nicht von ungefähr wechselten einige der engsten Mitarbeiter Gerhard Schröders in den folgenden Jahren auf lukrative Positionen in der Wirtschaft, während er selbst in der eigenen Partei bald „Genosse der Bosse“ genannt wurde. Gut bekommen ist ihm das nicht.

 

Einige hätten wohl etwas missverstanden, sagt Tony Giddens

 

Angesichts dieser Fehlentwicklung legte Anthony Giddens Wert auf die Feststellung, dass er mit seiner Mahnung an die Linke, mehr Verständnis für die Bedürfnisse der Unternehmen zu entwickeln und die Wirtschaft nicht als Klassenfeind zu betrachten, von einigen wohl missverstanden worden sei. Keineswegs nämlich habe er gemeint, die Linke solle fortan den Unternehmern jeden Wunsch von den Augen ablesen. Die Globalisierung als Chance zu begreifen – das Mantra der Reformlinken – heiße durchaus nicht, dass sich die Politik zum Helfer des Finanzkapitals, der Autoindustrie oder der Energiewirtschaft machen solle.

Die ersten Warnzeichen kamen bereits in der Aufbruchszeit zum Ausklang des vorigen Jahrhunderts, nach den eindrucksvollen Machtwechseln in Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Ende 1999 erreichte der damals einzige international einigermaßen bekannte Rechtspopulist, der Österreicher Jörg Haider, in seiner Heimat 27 Prozent der Stimmen. Damit wurde seine FPÖ zur zweitstärksten Partei im Land. Fortan bildete Haider mit dem christdemokratischen Wahlverlierer Wolfgang Schüssel eine Regierung. Die Linke war schockiert und verabredete in der Europäischen Union Sanktionen gegen Österreich. Dieser Akt der Einmischung war ein erster großer Schritt in Richtung europäischer Innenpolitik. Und in der Geschichte der europäischen Parteiengeschichte begann ein neues Kapitel. Von da an ging’s für die Linke bergab.

Gewissenserforschung und Selbstbefragung in Shoreditch, zehn Jahre nach dem Aufbruch mit Blair, Jospin, Schröder: Was ist passiert? Was haben wir falsch gemacht? Wie viel Mitschuld hat die Linke selbst am Verlust ihrer Macht, ihres Einflusses und ihrer kulturellen Hegemonie? Nur noch wenige sind auf dem Third Way unterwegs, die Linke hat der Katzenjammer gepackt – die schmerzhafte Nachwirkung der Begeisterung über die schöne neue Welt der Globalisierung, über die ökonomische Beschleunigung, die gesellschaftliche Modernisierung, die neue Blüte der postindustriellen Gesellschaft. Die Blair-Kok-Schröder-Linke hatte sich an der New Economy, an der Vision einer Volksgemeinschaft von sozial verantwortungsvollen Individuen, an der Utopie der Wissensgesellschaft aus Gebildeten, Kreativen und lebenslang Lernenden berauscht und dabei – so mutmaßen jetzt viele Linke – den Sinn für die Realität und die soziale Umwelt verloren. Heute weiß sie: Die Party ist vorbei.

Berichte von der Reise ins Innere der linken Seele: „Im Fernsehen höre ich die Politiker immer nur von Reform, Reform, Reform reden“, erzählt auf der Londoner Tagung René Cuperus aus Amsterdam, ein Berater der holländischen Parteiführung. „Die normalen Leute können das nicht mehr hören.“ Sie kommen in dieser Reformrhetorik auch gar nicht vor, spielen in der „Reformpolitk“ nur als Objekt eine Rolle; mitgestaltet haben sie diese Politik nicht. Daher finden sie die Rhetorik der Modernisierer beunruhigend und fragen nach dem Verbleib des Gewohnten, der Traditionen und des Bewährten. Die Wahlergebnisse dokumentieren diese Unsicherheit und diesen Vertrauensverlust.

 

Sprachkosmetik wird nicht helfen

 

Beim Widerstand gegen Veränderungen ist viel Gefühl im Spiel. „Irrationales“, sagen die Rationalisten in den Staatskanzleien. Zu Recht. Sie, die Modernisierer, die dazu gewählt wurden und dafür bezahlt werden, dass sie die Lebensverhältnisse der Menschen verbessern, haben tatsächlich die besten Absichten. Und um die Lebensverhältnisse zu verbessern, braucht es auch Reformen. „Oder etwa nicht?“ fragen die Reformer. Sie meinen es gut, sie fühlen sich im Recht und zwar so sehr, dass sie meinen, das genügt. Reformen werden verordnet. Nur: So verhärtet man Fronten und züchtet Widerstand. So treibt man die Wähler jenen Populisten in die Arme, die „das Volk“ vertreten, auch wenn diese für die Probleme des Volkes in Wahrheit gar keine Antworten haben. Ihre Stunde schlägt, wenn die Bürger das Gefühl überkommt, „die da oben“, „die in Berlin“, „in Den Haag“, „in Whitehall“, „in der Moncloa“ kümmerten sich nicht um die Meinung der Bürger, sie lebten auf einer Raumstation, seien abgehoben, nur an sich selbst interessiert – ein Vorurteil, dass die etablierten Politiker seit Jahren mit Nahrung versorgen. Besonders die technokratisch orientierte Reformlinke, in der viele dem vorpolitischen Aberglauben anhängen: „Reform ist, wenn es klappt.“

Sprachkosmetik wird nicht helfen. Gewiss war es eindrucksvoll, wie Innenminister John Reid in Shoreditch seine „robusten“ pragmatischen, politisch vielleicht unverzichtbaren Maßnahmen zur Begrenzung der illegalen Zuwanderung als klassisch „center-left“ präsentierte, und wie er geradezu genießerisch auf die gute Zusammenarbeit mit seinem französischen Kollegen Nicolas Sarkozy hinwies. Diese Vorstellung hatte aber auch etwas Naives und Rührendes, vorausgesetzt, sie war ehrlich gemeint und ohne Zynismus. Wozu das Ganze? Wozu die Beteuerung, robuste Politik sei „progressiv“? Konservative Lösungen, sagte Professor Joaquin Arango aus Madrid, würden nicht dadurch besser oder schlechter, dass man sie fortschrittlich nenne. Was der Minister als „progressiv“ bezeichne, würden Konservative genauso machen.

Um ihre Identität neu zu finden, wird den „Progressives“ tatsächlich mehr einfallen müssen. Was die Volksparteien der Mitte in der aktuellen Demokratiekrise in erster Linie brauchen, nicht zuletzt die Linke mit ihrer Geschichte als Vertreterin der kleinen Leute, ist eine neue Balance zwischen politischem Professionalismus und demokratischem Amateurismus. Zwischen Kompetenz und Engagement, Rationalität und Emotion. Im Grunde war das die Idee hinter dem Konzept des Dritten Wegs. Sie ist nicht falsch, nur weil das Modell des Third Way mehr oder weniger gescheitert ist oder doch jedenfalls – in der Business-Terminologie gesprochen – vom Markt genommen wurde.

Gerade eine antiorthodoxe, moderne Linke muss begreifen, dass Demokratie mehr ist als Deregulierung und Public-Private-Partnership, mehr als das Funktionieren von administrativen Abläufen, von glatten Prozeduren und erprobten Machttechniken. Demokratie hat auch mit Gefühlen zu tun – eine Erkenntnis, die Populisten und Extremisten, Rechte wie Linke, längst verstanden haben und nach Kräften missbrauchen. „Wenn wir es nicht schaffen, die politischen Emotionen der Bürger in die Demokratie zu integrieren“, sagte neulich der polnische liberale Demokrat und Europaabgeordnete Bronislaw Geremek, „dann haben wir das Spiel schon verloren“. Demokraten müssten auch an die Gefühle der Menschen appellieren. „Nur so können wir die Demokratie weiter entwickeln, vor allem angesichts der Aktivitäten der Populisten, die auf die niedrigsten menschlichen Instinkte setzen, komplizierte Zusammenhänge schrecklich vereinfachen und damit rationale politische Problemlösungen erschweren oder unmöglich machen.“

 

Rückkehr zur Kommunikation mit den „normalen Menschen“

 

In der Shoreditch Town Hall, in der die Linken zeitweise ziemlich offen über die Sinnkrise ihrer Bewegung sprachen, war am Ende vom Fehlen einer „säkularen geistigen Botschaft für die Nicht-Gläubigen“ die Rede – für diejenigen, die sich nicht in eine Religion zurückziehen können, um den Sinn zu finden, den pragmatische Realpolitik nicht immer bieten kann. Eine Art Ersatzreligion war damit vermutlich gemeint, die die Sinnlücke für die europäische Nachkriegsgeneration füllen könnte. Da näherte sich die Gesprächsrunde einem gefährlichen Terrain. In der gegenwärtigen globalen Orientierungssuche der Menschheit wimmelt es inzwischen von irrationalen Angeboten – sowohl an der Basis als auch im Milieu der Mächtigen. Vor politischen Voodoo-Anleihen sollte die Linke sich hüten, gerade in einer Zeit, in der Konservative und orthodoxe Rechte bei Opus Dei oder fundamentalistischen Sektierern und Heilsbringern ewige politische Gewissheiten suchen. Die Wertedebatte, wie die Nachhut von New Labour sie heute führt, mag sinnvoll und ehrenhaft sein. Mindestens ebenso lohnend und wichtig wäre allerdings die Suche nach neuen Ideen zur Vitalisierung der liberalen parlamentarischen Demokratie. Dazu würde auch eine Modernisierung der Parteien und ihres Selbstverständnisses gehören sowie eine Rückkehr zur Kommunikation mit den „normalen Menschen“, die man den Populisten kampflos überlassen hat. Was eigentlich ist daran so schwer?

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