Einladung zum Weiterdenken
Der Titel von Pierre Rosanvallons jüngstem Buch klingt nach einem etwas behäbigen moralischen Traktat. Aber wer den immens produktiven französischen Historiker, Demokratietheoretiker, Think Tank-Gründer und Aktivisten ein bisschen verfolgt hat, vermutet mit Recht etwas anderes: nämlich die Fortsetzung und den Abschluss seiner Tetralogie zum Strukturwandel der modernen Demokratie, von der zwei frühere Bände ebenfalls auf Deutsch in der „Hamburger Edition“ erschienen sind. Besonders Die Gesellschaft der Gleichen hat Rosanvallon hierzulande bekannt gemacht. Der Titel dient geradezu als Chiffre für ein erneuertes Streben nach staatsbürgerlicher Gleichheit, das in materieller Gleichheit nicht aufgeht.
Nun nimmt er sich die Regierung vor, le bon gouvernement, und der Begriff ist nicht als diffuse Formel für den gesamten staatsinstitutionellen Komplex der Demokratie zu verstehen, sondern im engeren Sinne der Gewaltenteilung: als Regierung vor allem im Unterschied zur Repräsentation des Volkes, zum Parlament, und im historischen wie aktuellen Spannungsverhältnis dazu. Die gute Regierung ist eine Kritik der exekutiven Gewalt, deren „problematische Geschichte“ der Autor zunächst erzählt, um daran eine historische Analyse und Kritik der „Präsidialisierung“ der modernen Demokratien anzuschließen. Vereinfacht gesagt lautet seine These: Früher war das Parlament der Kern der demokratischen Institutionen; heute ist es die Exekutive geworden, was in Präsidialsystemen wie Frankreich und den Vereinigten Staaten noch offensichtlicher ist als in Ländern mit parlamentarischer Regierungsbildung, seien sie eine Monarchie wie Großbritannien oder eine Republik wie Deutschland. Aber der Trend zur Präsidentenherrschaft zeigt sich nicht zuletzt in den heute so charakteristischen Übergangszonen zwischen Demokratie und Diktatur, in Russland oder der Türkei.
Institutionen müssen verstehbar sein
Auf die Kritik folgt das Konstruktive: Im zweiten Teil des Buches entwickelt Rosanvallon Maßstäbe einer erneuerten Regierungsgewalt als „Aneignungs-“ und als „Vertrauensdemokratie“. Daran erkennt man schon, dass es ihm nicht um eine isolierte Sicht auf die exekutiven Institutionen geht, sondern um die in der staatsbürgerlichen Gesellschaft wurzelnde Legitimität der Herrschaft. Diese Verhältnisbestimmung erfolgt dann genauer in fünf Konzepten: Lesbarkeit, Verantwortung, Reaktivität, Wahrsprechen und Integrität. Das ist alles viel weniger abstrakt als es zunächst klingt. Denn Rosanvallon pflegt einen klaren, unverschnörkelten Stil; immer ist auf Anhieb nachvollziehbar, was er sagen will. Es stören bloß gelegentlich die grammatisch unvollständigen oder falsch konstruierten Sätze. Hier hätten Übersetzer und Verlag etwas genauer hinschauen sollen. Vor allem aber ist Rosanvallon ein begnadeter Grenzgänger zwischen Geschichte und Theorie, zwischen reichhaltigem historischen Material und systematischem Argument.
Zum Beispiel „Lesbarkeit“: Die Moderne beginnt mit dem Lesbar- und Messbarmachen menschlicher Tätigkeiten. Von der Erfindung der doppelten Buchführung im späten Mittelalter führt eine Spur zur finanziellen Transparenz des Staates im 17. und 18. Jahrhundert. Rosanvallon erinnert an den Artikel 15 der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ der Französischen Revolution: Die Gesellschaft hat das Recht, von jedem Staatsbeamten Rechenschaft über seine Amtsführung zu verlangen. Lesbarkeit bedeutet heute nicht nur „Transparenz“ im inflationierten Sinne des Wortes, sondern auch Verstehbarkeit der demokratischen Institutionen; verstehbar müssen sie sein, um angeeignet werden zu können. Genau daran aber hapert es in der Europäischen Union, und die vielbeklagte Renaissance von Verschwörungstheorien ist eine Folge davon. Der Autor unterstreicht ein „Recht auf Wissen“ und fordert den Aufbau entsprechender Bürgerorganisationen.
Doch wie hat man sich eine im Sinne „guter Regierung“ erneuerte Demokratie praktisch vorzustellen? Sie muss von der bloßen „Genehmigungsdemokratie“, in der die Bürgerinnen und Bürger ihr Mandat an Parlament und Regierung abgetreten haben, zu einer „Betätigungsdemokratie“ werden. Das sind gute Formeln, gleichwohl möchte man dem Autor gelegentlich warnend zurufen, das Rad bitte nicht neu zu erfinden. Seine Diagnose der „Genehmigungsdemokratie“ hat ein wenig Strohmann-Funktion, wenn man an die zivilgesellschaftlichen Erweiterungen in den westlichen Demokratien seit den siebziger Jahren denkt – an die Entwicklung einer „partizipatorischen“ Demokratie, die Benjamin Barber und andere schon viel früher beschrieben haben. Sein Leitbild einer Gesellschaft, die Staat und Regierung permanent beobachtet und kontrolliert, erinnert wiederum an John Keanes „monitory democracy“. Auch die globale Wissenschaftswelt kennt ihre Rezeptionssperren (und der Verfasser dieser Rezension nimmt sich davon nicht aus) – bei Rosanvallon dominiert oft eine französische Perspektive, was der sonst eher angelsächsisch geprägten Demokratiedebatte nicht schaden kann.
Demokratischer Radikalismus der Mitte
In besonderer Weise „französisch“ ist unverkennbar auch der ganz konkrete Vorschlag zu den Säulen der „Betätigungsdemokratie“ im Schlusskapitel. Rosanvallon schlägt ihre Institutionalisierung in einem „Rat für den demokratischen Prozess“, in „öffentlichen Kommissionen“ und „zivilen Wachsamkeitsorganisationen“ vor. Das klingt fast schon nach George Orwell, das mag aber der Übersetzung geschuldet sein. Auf jeden Fall steht es in guter Tradition einer jakobinischen Demokratie. In Deutschland wäre man überwiegend doch eher skeptisch, das „Monitoring“ der Exekutive quasi zum Teil des Staatsapparates selbst zu machen, im Aufbau von Über-Institutionen als „Hüterinnen eines demokratischen Funktionierens der Regierungsorgane“, wie es heißt. Sollte man nicht mehr auf die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft vertrauen, auf das Anarchische, Spontane, Nicht-Institutionelle? Wenn Rosanvallon die historische Verschiebung vom Parlament auf die Exekutive so kraftvoll beklagt, warum plädiert er dann nicht mehr für eine Stärkung des Parlamentarismus, einschließlich seiner gesellschaftlichen Verankerung in der Bindung von Abgeordneten an ihre Wähler?
Solche Fragen unterstreichen jedoch den offenen Charakter seiner Überlegungen, denen nichts Starres, nichts Hermetisches anhaftet. Das Buch ist eine Einladung zum Mitdenken, zum Widerspruch, zum Weiterdenken, die man gerne annimmt. Zwar verspricht Pierre Rosanvallon für die Zukunft eine „zweite demokratische Revolution“, dahinter verbergen sich aber keine leichtfertige Revolutionsromantik und schon gar keine allzu billige Geringschätzung der demokratischen Errungenschaften, die wir gerade in diesen Tagen eher verteidigen als über Bord werfen müssen. Zum Glück, so scheint es, findet Rosanvallon gerade auch deshalb viel Resonanz, in Frankreich wie in Deutschland: mit einem demokratischen Radikalismus nicht des utopistischen Randes, sondern der sozialen und liberalen Mitte.
Pierre Rosanvallon, Die gute Regierung, Hamburg: Hamburger Edition 2016, 384 Seiten, 35 Euro