Erfurt, 26. April 2002



Freitag, 13.05 Uhr. Wie immer am Ende von Sitzungswochen döse ich am Mittag im Zug nach Erfurt vor mich hin. Irgendwo zwischen Wannsee und Dessau in den Weiten der eigentlich netzlosen Brandenburger Steppe erreicht mich ein ehemaliger Schulfreund und jetziger Nachrichtenredakteur. "Carsten, es ist etwas Unglaubliches passiert. Im Gutenberg wird geschossen. Drei Lehrer und ein Polizist sind tot." Ich kann die Worte nicht so schnell begreifen, da hat er schon wieder aufgelegt und ist auf dem Weg zum Gymnasium. Ein mitfahrender Südthüringer Kollege und ich sind entsetzt. Das kann doch nicht sein. Nicht in Erfurt! Erfurt - das ist doch meine beschauliche Heimat, in der es vielleicht mal ein Drogendelikt und Einbrüche, aber kaum je Gewalttaten gibt. Schon gar nicht im Gutenberg. Nicht nur eine der besten Schulen, sondern auch noch die mit den besten Partys und den hübschesten Mädchen. Erinnerungen werden wach. Welche Lehrer kenne ich? Ist das überhaupt wahr? Dann kommt die Bestätigung per SMS aus meinem Büro.

15.30 Uhr. Ohne mich auf die vertrauten Bilder meiner Stadt, die mich sonst immer willkommen heißen, zu konzentrieren, stürme ich vom Bahnhof ins Büro. Dort ist der Krisenstab schon zusammengekommen. Genossen, ehemalige Mitschüler und Freunde sitzen gebannt vor dem Fernseher und verfolgen die eilig einberufene Pressekonferenz auf dem Bildschirm. Ungläubiges Beobachten, dann schieres Entsetzen. Von 17 Opfern ist auf einmal die Rede. Das wirkt wie ein Donnerschlag und lähmt sämtliche Glieder. Ich muss hoch ins Gymnasium.

16.00 Uhr. Der Gutenbergplatz wirkt vertraut, auch das Gebäude sieht aus, wie ich es seit jeher kenne. Erst jetzt begreife ich, dass dies tatsächlich in Erfurt, in meiner nächsten Umgebung stattgefunden hat. Die Menschen taumeln, weinen, suchen, flehen. Entsetzte Gesichter. Punks liegen sich in den Armen und heulen hemmungslos. Es kursieren die wildesten Gerüchte wer getötet wurde. Ich suche die Liste eines Journalisten nach mir bekannten Namen ab. Eine ehemalige Lehrerin ist dabei.

20.00 Uhr. Gottesdienst in der Andreaskirche. Obwohl eine deutliche Mehrheit der Erfurter konfessionslos ist, werden die Kirchen der Stadt in den nächsten Tagen zum Hauptanlaufpunkt. So auch an diesem Abend. Bis nachts um eins kümmern sich Pfarrer um Gestrandete, die das Geschehene nicht verarbeiten können und Halt suchen. Der Dom flimmert im Kerzenschein.

Samstag, 9.00 Uhr Kaisersaal. Meinem Widerspruch zum Trotz findet die Jugendweihefeier für 50 Schüler statt. Der Saal ist mit 600 Menschen gefüllt. Ein Schüler hat abgesagt. Das Orchester spielt ruhige Töne, nur zwischendurch ist das Schluchzen der Flötenspielerin zu hören, deren Lehrerin sich gestern mittag schützend vor sie gestellt hat und die Kugel abfing. Meine Rede ist kurz: "Ihr seid seit gestern schneller erwachsener geworden, als Euch lieb sein kann."

10.00 Uhr. Eine große Delegation der SPD trägt sich im Rathaus ins Kondolenzbuch ein und geht zum Gutenberggymnasium, um Blumen niederzulegen. Die Stimmung in der sonst pulsierenden Stadt ist bedrückend. Ich sehe in die Gesichter der Menschen, die zu hunderten vor dem Eingang der Schule Blumen niederlegen. Ich sehe unendliche Leere, Verunsicherung. Blumen, die bald zu einem Teppich werden.

In den nächsten Tagen schlägt die Trauer in Wut um. Wut auf die "Schweinepresse", die auf der Suche nach Bildern und "der" Story jedes Feingefühl vermissen lässt. Wut auf die Polizisten, die zu spät zur Hilfe kamen und den um ihr Leben kämpfenden Opfern nicht halfen. Wut auf die Politiker, die erst nichts taten und nun sich PR-trächtig in Szene setzen. Wut als Ausdruck der Hilflosigkeit.

Erfurt wird lange brauchen, bis die tief geschlagenen Wunden zu heilen beginnen.

zurück zur Person