Es geht jetzt ums Ganze
Die Bundestagswahl war in vielfacher Hinsicht bemerkenswert. Gegen den Willen großer Teile seiner eigenen Partei und der Öffentlichkeit hatte Gerhard Schröder Neuwahlen ausgerufen. Die Opposition wusste gar nicht, wie sie dieses Glück verdient hatte. Zeitweise sah es sogar nach einer absoluten Mehrheit für die Union aus. Schließlich kam es zu einem Ergebnis, dass keinen Zentimeter von der Links-Rechts-Lagerbildung des Jahres 2002 abwich. FDP und CDU/CSU erreichten addiert etwa das gleiche Ergebnis wie damals (45 Prozent); SPD, Grüne und Linkspartei landeten zusammen wieder bei 50 Prozent. Nur machten die Gewichte innerhalb der Lager die Lagermetapher für das Machtspiel bedeutungslos. Weder gibt es eine strategische Mehrheit für eine Politik links von der Mitte noch eine für ein neoliberales Projekt. Anders als bei Aristoteles ergibt die Summe der Einzelteile weniger als das Ganze.
„Historisch“ sei das Ergebnis dieser Wahl, meinen nun viele. Auch wenn es für ein sicheres Urteil zu früh ist: Noch nie tauchten nach einer Bundestagswahl internationale und historische Vergleiche so inflationär auf wie in diesem Jahr. Die Perspektiven reichen von „skandinavischen Verhältnissen“ bis zur „israelischen Lösung“. Tatsächlich kommen mit dieser Wahl einige Phänomene deutlicher zum Tragen als zuvor.
Bonn ist nicht Weimar. Das gilt auch für die Berliner Republik. Aber der Vergleich mit Weimar hat an Dramatik verloren, weil heute ein Zusammenhang zwischen einer drohenden faschistischen Gefahr und notwendigen Handlungsoptionen nicht hergestellt werden kann. Den rechten Parteien ist es im Gegensatz zu ihren Äquivalenten in anderen europäischen Ländern nicht gelungen, aus den sozialen Verhältnissen Kapital zu schlagen. Zwar haben sie ihren Stimmenanteil gegenüber der Bundestagswahl 2002 auf 2,2 Prozent verdoppelt, aber ihr parteipolitisches Potenzial ist derzeit nicht mit dem in Frankreich oder in den Niederlanden vergleichbar. Doch die Weimarer Republik ist mit Blick auf die Große Koalition interessant: Ab 1928 umfassten Große Koalitionen nicht nur das Zentrum und die Sozialdemokratie, sondern auch die DVP und die DDP. Ähnliche Konstellationen erscheinen jetzt in greifbarer Nähe.
Mit der Hyperstabilität ist es vorbei
Wie könnte sich der Wahlausgang nun auf das Parteiensystem auswirken? Die großen Parteien verlieren zusehends an Zustimmung. Zwischen 1953 und 1976 kletterten die Anteile der Unterstützer für die beiden Volksparteien von 53 Prozent auf 82 Prozent. Seither geht es von Wahl zu Wahl bergab, die Zeit der Hyperstabilität ist vorüber. Mit den 53 Prozent dieses Jahres ist ein neuer Tiefpunkt erreicht. Erstmals seit 1969 gelingt es den Volksparteien nicht mehr, mit einem einzigen kleinen Partner an der Seite die Regierung zu stellen. Dahinter steckt ein für beide Volksparteien ähnliches Problem: Sie sind nur noch unzureichend in der Lage, ihre linken Flügel und die unteren Schichten zu binden. Die CDU verabschiedete sich mit ihrem Wahlkampf sogar ausdrücklich von ihrer eigenen symbolischen Machtbalance, indem sie dem Arbeitnehmerflügel weder eine personelle noch eine angemessene inhaltliche Repräsentanz einräumte. So haben die Linkspartei und die Marginalisierung von Blüm/Seehofer eine gemeinsame Wurzel: Den Konflikt um die Rolle des Sozialstaates. Zwar wäre es angesichts der Vielschichtigkeit des Phänomens Volkspartei unangemessen, den zurückgehenden Wählerstimmenanteil direkt mit ihrem Niedergang gleichzusetzen. Ignorieren sollte man ihre Schwächung aber auch nicht.
Mehr Parteien, mehr Koalitionsoptionen
Auffallend ist, dass sich die kleineren Parteien anders verhalten, als wir es von ihnen erwarten. Sie wollen keine Machtbeteiligung um jeden Preis, sondern scheinen gegenwärtig stärker an mittelfristiger Profilbildung interessiert zu sein. Dies sollten wir mehr der Not zuschreiben als einer neuen Tugend. Auch die „Kleinen“ sind Mitgliederparteien und können sich nicht beliebig von ihren Mitgliedern sowie von ihren programmatischen Positionen entfernen. Ungeachtet dessen bleibt ein erklärungsbedürftiger Widerspruch: Einerseits scheinen programmatische Positionen der „Kleinen“ ihre Hand- lungsspielräume derzeit einzuschränken; andererseits ist die Gruppe der koalitionsfähigen Parteien gewachsen. Dies ist vielleicht die zweite überraschende Dimension dieser Wahl. Die Grünen, lange als Schmuddelkinder des deutschen Parteiensystems betrachtet und von den bürgerlichen Parteien zeitweise als ihre eigene „Missgeburt“ behandelt, werden von der Union umbuhlt. Nicht nur die (gescheiterten) Verhandlungen zwischen der CDU und den Grünen zeigen, dass die Zahl der Koalitionsoptionen in Zukunft steigen wird. Hinter der Erosion des Grundsätzlichen steckt der Abbau moralisch überhöhter Grenzen zwischen den Parteien – und damit die Bedingung der Möglichkeit für eine pragmatische Kooperationsfähigkeit.
Mit dem Zusammenschluss von PDS und WASG hat die PDS eine kaum noch für möglich gehaltene Westausdehnung erreicht. Ob sie damit ihr Profil als ostdeutsche Regionalpartei wirklich überwindet, ist einstweilen offen. Schließlich hat die Geschichte der heterogenen deutschen Linken eine ausgesprochene Liebe zur „Selbstzerfleischung“ gezeigt. Zukünftig könnte sich diese Tendenz aus zwei Quellen speisen: Einerseits aus den divergierenden Gruppen der westdeutschen Linken; andererseits stoßen mit der PDS und den westdeutschen Alt-Linken zwei politische Kulturen aufeinander, die nicht per se kompatibel sind. Zumindest müssen einige grundsätzliche Konflikte ausgetragen werden, um daraus mehr als eine bundespolitisch starke Protestpartei zu machen, also ein inhaltlich identifizierbares Projekt. Der pragmatischeren PDS fiele es wohl relativ leicht, mit der SPD zu koalieren. Für viele westdeutsche Linke wäre das gegenwärtig ein Alptraum.
Die Großen brauchen einander mehr als zuvor
Mit der SPD und der Linkspartei stehen nun erstmals seit langer Zeit wieder zwei sozialdemokratische Parteien im Parlament. Die SPD bekam 34,3 Prozent, die PDS/Linkspartei erreichte 8,7 Prozent. Dabei hat die SPD etwa 970.000 Stimmen an die Linkspartei verloren. Die Integrationsfähigkeit der SPD gegenüber traditionell linken Positionen hat sich also verkleinert. Die SPD darf den Kampf um diese Stimmen jedoch nicht aufgegeben. Vielmehr sollte sie verhindern, dass die Linkspartei zur Heimstatt der Verlierer, Unzufriedenen und Abgehängten wird, indem sie selbst engagierter auf diese Menschen zugeht. Die jetzige Konstellation erweckt den Eindruck, die Linkspartei vertrete programmatisch-strategisch „Old Labour“ und die SPD „New Labour“. Dies mag ein Zerrbild sein. Doch die SPD und die PDS haben derzeit keine gemeinsame Handlungsbasis, die über die Ablehnung einzelner neoliberaler Positionen hinausführt.
Gegenwärtig profitieren zwei Parteien von der Unzufriedenheit der Menschen: Die FDP, weil der Abbau des Modells Deutschland den einen nicht schnell genug geht. Und die PDS/Linkspartei, weil der Abbruch des Modells Deutschland anderen unsozial erscheint. Beide Parteien leben von großen Zielen – dem Traum von der ganz anderen Republik oder schlicht von der Ablehnung des Status quo. Vor allem aber leben sie von den Schwächen der Großen. Die wiederum verlieren vor allem deshalb, weil sie nur unzureichend in der Lage sind, die soziale Dimension des Wandels so zu gestalten, dass daraus eine Republik für alle entsteht. Um handlungsfähig zu bleiben, brauchen die Großen einander mehr als früher. Paradox aber wahr.
Die Große Koalition ist in Deutschland angstbesetzt. Die Menschen befürchten Stillstand sowie Radikalität – nicht nur an den Rändern. Kurz, die Große Koalition gilt als Gefahr für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die Demokratie. Auch die Gewerkschaften fürchten diese Konstellation, stünden sich dann doch Aktivisten aus den eigenen Verbänden in Regierung und in Opposition gegenüber. Viele Leute fragen sich auch: Wie sollen aus den Verlierern von gestern – und das waren die Volksparteien am Wahltag – Gewinner von morgen werden? Es ist tatsächlich nicht erkennbar, dass die für eine „Große Koalition“ notwendige soziale, kulturelle und politische Haltung in den beiden Parteien hinreichend verankert ist, um die erforderliche Problemlösungsfähigkeit zu entfalten. Die Wahl hat keinen Auftrag für einen Politikwechsel gebracht – weder für die neoliberale Abrissbirne, noch für eine weltfremde Politik der Beharrung, Beruhigung und Konservierung der Verhältnisse.
Drei Projekte für die soziale Integration
Da der Motor der Veränderung auf hohem Tempo läuft, lautet die große Frage: Worin können neue Antworten und Initiativen bestehen, um angesichts von Globalisierung und sozialem Wandel die soziale Integrationsfähigkeit dieser Gesellschaft zu verbessern? Es ist ein Irrtum zu glauben, diese Frage lasse sich mit dem Hinweis auf steuer- und lohnpolitische Veränderungen hinreichend beantworten. Es geht darum, ob es wieder eine politisch überzeugende Gestaltungsoffensive geben kann, die den komplexen Problemlagen des Landes angemessen ist. Um dies zu erreichen, sollten drei Projekte in den Vordergrund gestellt werden:
Erstens geht es darum, das deutsche Produktionsmodell unter globalisierten Bedingungen weiterzuentwickeln. Hierfür ist es notwendig, die deutschen Arbeitstugenden auf die Höhe der Zeit zu bringen. Vor allem muss die Mitbestimmung in Form der Tarif- und Betriebspolitik als eine wichtige Quelle für erfolgreichen Wandel begriffen werden. Besser statt billiger!
Zweitens geht es um die Weiterentwicklung des Sozialstaates auf der Basis eines integrationsfähigeren Arbeitsmarktes: Wie können Arbeitsplätze geschaffen werden, um auch den weniger Qualifizierten eine Chance zu bieten? Wie können die älteren Beschäftigten, deren Beschäftigungsquote in der Gruppe der 55- bis 65-Jährigen gerade noch bei 41 Prozent liegt, bis zum Rentenalter eine gesunde und sinnvolle Tätigkeit ausfüllen? Wie kann der Frauenanteil unter den Erwerbstätigen erhöht werden? Wie lassen sich in strukturschwachen Regionen neue Ansiedlungen ermöglichen? Wie kann Bildung so zugänglich gemacht werden, dass die klassengesellschaftlichen Strukturen tatsächlich durchbrochen werden, die sich in den vergangenen Jahren um den Faktor Herkunft gebildet haben? All dies ist nicht allein eine Sache des Geldes und des Staates (wenngleich es ohne Geld und Staat nicht gehen wird). Es ist aber auch eine Frage der Einstellungen, der „Denke“, der Kultur und vor allem des intelligenten Zusammenspiels zwischen Kapital, Gewerkschaften, Staat und Individuen.
Starke Gesellschaft, leistungsfähiger Staat
Drittens sollten die politischen Rahmenbedingungen des deutschen Modells so verbessert werden, dass schneller reagiert werden kann, um vorhandene Problemlagen zu bearbeiten. Die im vorigen Jahr geplatzte Föderalismuskommission sollte umgehend wieder ihre Arbeit aufnehmen. Um eine Machtzusammenballung zu verhindern, die den Protest an den Rändern überhöht, müssen die gesellschaftlichen Gruppen stärker in den Politikprozess eingebunden werden. Das Ganze kann aber nur funktionieren, wenn die Richtung stimmt.
Die Orientierungen der Zukunft heißen: Eine wettbewerbsfähige Wirtschaft muss mit einer sozialen und ökologischen Politik vereint werden, und dafür brauchen wir nicht nur einen leistungsfähigen Staat, sondern auch eine starke Gesellschaft. Das wissen nicht nur die Experten, sondern auch die Bürger. Das Wahlergebnis fordert die Parteien auf, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Die Antworten auf Globalisierung, deutsche Einheit, sozialen und demografischen Wandel sind nicht vorgegeben, sie können aber auch nicht nach Belieben erfunden werden. In diesem Sinne sind die Stimmen für die FDP und die PDS mehrheitlich weniger als inhaltliche Zustimmung zu den Programmen der beiden Parteien zu werten, denn als Protest, Kritik und Kontrolle der Großen. Das macht die politische Konstellation nicht einfacher. Aber in diese Richtung weisen alle Umfragen über die Reformbereitschaft der deutschen Gesellschaft.
Innovationsoffensive und Nachfrageförderung
Angesichts von 4,7 Millionen Arbeitslosen, einem unzureichenden Sozialstaat, extremen Haushaltslöchern, bislang ungekannten demografischen Verschiebungen, schwächer werdenden Bildungsinstitutionen und einem angeschlagenen europäischen Projekt, geht es heute nicht nur um klein Gedrucktes, sondern ums Ganze. Wachstum allein ist nicht genug, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Eine einfache Angebotspolitik als Antwort auf die Beschäftigungsprobleme der Republik ist gescheitert. Es bedarf zumindest einer Innovationsoffensive und einer Nachfrageförderung. Um den Sozialstaat zu stärken, sind ergiebigere und gerechtere Finanzgrundlagen, eine verbesserte Infrastruktur und eine qualitativ bessere Präventionspolitik notwendig. Wir befinden uns nicht auf dem Weg in eine neue Republik. Wir brauchen aber Volksparteien, die wieder handlungsfähig werden, indem sie sich kritisch mit ihren eigenen Irrtümern auseinandersetzen. Wer wieder handlungsfähig werden will, muss in der Lage sein, falsche Entscheidungen zu korrigieren.