Es hilft nur die Flucht nach vorn

Ein Buch zur Zukunft der britischen Sozialdemokratie liefert Anregungen auch für die deutsche

Man kann in diesen Tagen gar nicht anders, als ein Buch, das sich Gedanken macht über die Zukunft der Sozialdemokratie in Großbritannien, ständig auf die deutsche Situation zu beziehen. Zu ähnlich sind die Schicksale von Labour und SPD in den vergangenen Jahrzehnten gewesen, zu ähnlich sind die heutigen Probleme: Nach langen Jahren in der Opposition gelang beiden Parteien Ende der neunziger Jahre der Befreiungsschlag, indem sie sich als „New Labour“ und „Neue Mitte“ neu erfanden und mit ihren dynamischen Anführern Tony Blair und Gerhard Schröder gemeinsam auf den „Dritten Weg“ begaben. Heute ist die SPD mit einem desaströsen Wahlergebnis wieder in der Opposition angekommen, und Labour wird nächstes Jahr wohl ähnliches widerfahren.

Wenn du im Loch sitzt, hör auf zu graben!

Wie also kommen die Sozialdemokraten diesseits und jenseits des Ärmelkanals aus diesem Tal der Tränen wieder heraus? Die erste Antwort, die der von Patrick Diamond und Roger Liddle herausgegebene Sammelband liefert, lässt sich mit dem „Gesetz der Löcher“ zusammenfassen, das David Marquand im pointiert geschriebenen ersten Kapitel des Buches anführt: „Wenn Du in einem sitzt, dann hör’ auf zu graben!“ Denn dass sich Labour das Loch, in dem es sitzt, zumindest teilweise selbst gegraben hat, ist eine These, die sich in den meisten Beiträgen des Bandes wiederfindet, ganz gleich ob die Autoren eher als journalistische und akademische Beobachter einzuordnen sind oder wie die beiden Herausgeber dem progressiven Londoner Think Tank Policy Network angehören. Denn neben allen Erfolgen an der Wahlurne und bei der Verbesserung der Lebenswirklichkeit der Menschen hat es Versäumnisse gegeben, die seit längerem sichtbar sind und die jetzt in der Finanz- und Wirtschaftskrise verstärkt hervortreten.


Folgt man Diamonds und Liddles Zusammenfassung, fehlt es der britischen Sozialdemokratie erstens an einer ausreichend differenzierten Kritik des Marktes und an einem zeitgemäßen Modell des Wohlfahrtsstaates, zweitens an einer kohärenten Antwort auf die Individualisierung der Gesellschaft, drittens an größerer Klarheit, was unter der nach wie vor angestrebten „Gleichheit“ (equality) unter heutigen Bedingungen zu verstehen ist, sowie viertens an einer realistischen Neudefinition der Rolle des Staates. Diese Fehl- und Leerstellen lassen sich mit der geschichtlichen und ideologischen Entwicklung der Partei und innerparteilichen Konflikten erklären. Aber nicht darauf komme es an, sondern darauf, in einer intensiven und sicher länger währenden Debatte Antworten auf diese Herausforderungen zu finden, um vorwärts zu kommen. Das ist Teil zwei der Antwort auf die Frage, wie man aus dem teilweise selbst gegrabenen Loch wieder herausfindet: Nicht Vergangenheits-, sondern Zukunftsbewältigung steht auf dem Programm.


Die einzelnen Beiträge des Buches zeigen dies für verschiedene Politikfelder auf, von der Wirtschaftspolitik über die Gesellschafts-, Familien-, Geschlechterpolitik bis hin zur Außenpolitik – mit unterschiedlichem Erfolg. Zu den für deutsche Leser fruchtbarsten Beiträgen gehört der von Patrick Diamond über „Social justice in a changing world“, besonders wenn man brav der Reihe nach vorgegangen ist und vorher den Beitrag von John Kay über „Market failure“ gelesen hat. Darin wird nämlich sehr deutlich, dass die Sozialdemokratie nicht zu einer zukunftsweisenden Konzeption sozialer Gerechtigkeit gelangen wird, wenn sie an der etwas zu naiven Marktgläubigkeit von New Labour festhalten oder in die noch naivere Marktfeindlichkeit und Staatsgläubigkeit von Old Labour zurückfallen sollte.


Während die britische Rechte den Staat kleinschrumpfen will im Namen der Freiheit – der deutsche Leser hört hier eher die FDP als CDU/CSU –, müssen die Progressiven auf der Linken zeigen, dass ihr Programm den Menschen mehr tatsächliche Entscheidungsfreiheit und Kontrolle über ihr Leben einräumt, nicht nur auf ökonomischem Gebiet, sondern in allen Lebensbereichen. Für die Bildungspolitik bedeutet dies beispielsweise, dass der Ruf nach mehr Ausgaben allein nicht ausreicht, sondern dass die Entscheidungsfreiheit von Schülern, Eltern und Lehrern vergrößert werden muss.


Zur programmatischen Debatte gehört die Frage der Mehrheitsfähigkeit programmatischer Positionen. Diese Frage zieht sich durch alle Beiträge des Buches, explizit behandelt wird sie im dritten Kapitel „The electoral map“ von Peter Riddell. Er arbeitet schön heraus, dass die Sozialdemokraten auch Opfer ihres eigenen Erfolges geworden sind: Unter ihrer Führung hat sich der gesellschaftliche Konsens immerhin soweit verschoben, dass nun auch der Gegner Positionen besetzt, mit denen man vormals punkten konnte. Für den deutschen Fall verweist das Stichwort der „Sozialdemokratisierung der CDU“ auf Entscheidungen zum Beispiel in der Familien- und Integrationspolitik, mit denen die Union Programmpunkte der SPD übernommen hat, was aus SPD-Sicht zwar inhaltlich wünschenswert, aber wahlstrategisch verhängnisvoll ist.


Hinzu kommt, dass die geringen Hoffnungen, die die Bürger heutzutage in die Politik setzen, sozialdemokratischen Parteien mehr schaden als konservativen. Wenn die Bürger so desillusioniert sind, dass sie sich von „der Politik“ ohnehin keine gravierende Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lage erwarten, trifft dies progressive, aktivistische Parteien härter als kuschelige Konservative, die die Welt, wenn überhaupt, dann nur mittels einer „Politik der kleinen Schritte“ verändern wollen. Der letzte Wahlkampf hat es gezeigt: Wer verspricht, er werde sich zumindest mit aller Kraft für die Schaffung neuer Arbeitsplätze einsetzen, wird wegen angeblich unhaltbarer Wahlversprechen gescholten, während derjenige, der es gar nicht erst versuchen will, als glaubwürdiger Ordnungspolitiker bejubelt wird.


Also alles aussichtslos? Keineswegs. Riddell erinnert zu Recht daran, dass die „linke Mitte“ mit Blick auf ihre langfristigen Chancen stets zwischen Anfällen von Euphorie und Depression schwankte, je nach aktuellen Wahlergebnissen. Kurzfristige zyklische Drucksituationen müssten aber von längerfristigen strukturellen Veränderungen getrennt werden. Die entscheidende Lektion der Nachkriegsperiode sei, dass jede Vorhersage eines vermeintlich sicheren Niedergangs  sich binnen weniger Jahre als falsch erweisen werde. Genau deshalb sollten sich die Progressiven in Großbritannien und Deutschland unverzagt an die Aufgabe machen, das sozialdemokratische Projekt der nächsten Generation zu entwerfen.

Patrick Diamond und Roger Liddle (Hrsg.), Beyond New Labour: The future of social democracy in Britain, London: Politico's Publishing 2009, 260 Seiten, 17,99 Euro

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