Geschlossenheit oder Pluralität?
Das auszusprechen, ist beileibe keine Medienschelte. Die Medien nehmen ihre Funktion wahr, wenn auch in unterschiedlicher Qualität. Sie erspüren Meinungen, bringen sie auf Begriffe und verstärken sie. Die Kommunikationsbeziehungen zwischen den politischen Akteuren und den Medien sind höchst kompliziert, die Wirkungen lassen sich nicht von einer Stelle aus steuern. Schaltstellen unmittelbarer Macht sind weder die Redaktionen noch die Parteiführungen, beider Rolle ist entgegen der üblichen Klischees wohl besser beschrieben, wenn man sie als Vermittler zwischen vielen Beteiligten und Interessenten bezeichnet – freilich Vermittler mit eigenen Spielräumen.
Was also sollte eine Partei tun, um sich den Wählern zu empfehlen? Niemand weiß eine verlässliche Antwort. Die letzten Wahlkämpfe und ihre Ergebnisse haben es überdeutlich gezeigt: Wer dem Volk die Wahrheit sagt, wird dafür noch lange nicht belohnt. Wer Probleme verschweigt und unerfüllbare Versprechen macht, wird nicht bestraft. Im Herbst 2005 hat die CDU ihre Absicht, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, mit großen Einbußen an Wählerstimmen bezahlt; im Herbst 2009 hat die FDP viel gewonnen, obwohl die Wähler ihre Absicht, die Steuern zu senken, für unsolide und unrealisierbar hielten. Auf die Inhalte kommt es offensichtlich nur zum Teil an.
Die Parteien sind aber nach Verfassung und politischer Theorie dazu da, die im Volk vertretenen Meinungen und Interessen zu filtern und zu bündeln, damit die Wähler einigermaßen klare Vorstellungen darüber haben, wie die Parteien im Parlament abstimmen werden. Sie sollen Richtungsentscheidungen ermöglichen, sollen deshalb geschlossen auftreten, der Öffentlichkeit ein eindeutiges Erscheinungsbild bieten. Die Volkspartei SPD, die alle sozialen Gruppen in der Mitte und links davon repräsentieren will, hat es damit ohnehin schwer. In der öffentlichen Meinung gilt es aber gleichzeitig als ausgemacht, dass „die Basis“ gegenüber der Führung gestärkt werden muss und dass die gewählten Abgeordneten nur ihrem Gewissen folgen sollen. Damit befindet sich die Partei in einer Zwickmühle.
Demokratie heißt nicht, jede gute Idee durchzusetzen
Selbstverständlich wollen und sollen Ortsvereine und Kreisverbände ihre Meinungen und Forderungen durchsetzen, selbstverständlich sollen Parteitage aller Ebenen nicht einfach die Vorschläge der Vorstände abnicken. Aber ebenso selbstverständlich ist es, dass die Vorbereitung auf allen Ebenen in kleineren Kreisen geschehen muss. Beschlussentwürfe sind die Sache von Vorständen und Arbeitsgruppen. Und was die Inhalte angeht: Nicht alle Ideen, die den vielen kreativen, engagierten und streitfreudigen Mitgliedern einfallen, können aufgenommen werden. Was nach gründlichen Beratungen in dem gestuften Verfahren der Delegiertenversammlungen und Parteitage beschlossen wird, ist der gemeinsame Wille der ganzen Partei. Gegen diese gemeinsamen Beschlüsse die abweichende Meinung der „Basis“ ins Feld zu führen, also „unten“ gegen „oben“ auszuspielen, ist das Gegenteil von „demokratisch“. Demokratie heißt nicht, jede gute Idee durchzusetzen, und es kann kein „freies Mandat“ für alle geben, die sich selbst zu Sprechern einer Partei machen.
Wenn in einer Volkspartei keine kontroversen Meinungen vertreten werden, ist etwas faul. Wenn aber aus konkurrierenden Ansätzen ein gemeinsames Programm werden soll, muss nach dem Mehrheitsprinzip entschieden werden. Würden in pluralistischer Manier alle Wünsche aufgegriffen, die an der Basis oder in einzelnen Gruppen der Partei artikuliert werden, so käme als gemeinsames Programm genau jene Art von Papier heraus, die alle beklagen: voller Allgemeinplätze und Formelkompromisse. Benötigt werden aber pointierte Aussagen, ein klares Profil, und zwar heute dringender denn je. Es geht um die nötige Unterscheidungskraft in einem Sechs-Parteien-System.
Das Dilemma wird fast unüberwindbar, wenn eigene Abgeordnete die gemeinsame Linie verlassen. Gewählte Volksvertreter sind „nur ihrem Gewissen“ unterworfen, an „Aufträge und Weisungen“ und damit auch an Beschlüsse der Partei, für die sie kandidieren, nicht gebunden. Im Konflikt zwischen Parteiräson und individuellem Gewissen hält die Öffentlichkeit stets die Gewissensentscheidung für moralisch höherwertig. Die Kandidatur für ein Parlamentsmandat wird aber überhaupt nur von den politischen Parteien ermöglicht, die dazu durch das Grundgesetz ermächtigt sind (es sei denn, ein Kandidat hat das Vermögen, sich „allein gegen alle“ bekannt zu machen). Es ist irrationale Nostalgie, sich ein Wahlsystem ohne die vermittelnde Funktion der Parteien vorzustellen.
Eine Partei muss es hinnehmen, wenn ein gewählter Abgeordneter sich bei einer Abstimmung auf sein Gewissen beruft – so schwer das auch fällt, wenn es auf jede Stimme ankommt. Aber sie kann nicht darauf verzichten, den Wählern eine einheitliche Linie zu präsentieren. Das individuelle Versprechen, das eine Kandidatin oder ein Kandidat den potenziellen Wählern gibt, ist keine ausreichende Grundlage für die Wahrnehmung des Mandats. Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes, aber eben alle zusammen in ihren verschiedenen Fraktionen und mit ihren unterschiedlichen Präferenzen und Qualifikationen. Der einzelne Abgeordnete wird nicht dadurch zum wahren Volksvertreter, dass er von der Mehrheitslinie seiner Fraktion abweicht. Er handelt nicht demokratisch „besser“ als seine Kollegen, die sich der Mehrheitsentscheidung beugen.
Die notwendige politische Funktion der Parteien steht also in einem theoretisch unlösbaren Widerspruch zu der verfassungsmäßigen Freiheit ihrer Abgeordneten. Die praktische Lösung kann nur darin bestehen, dass die Kontrahenten – anders als in Hessen geschehen – rechtzeitig und fair miteinander sprechen und sich gegenseitig zu überzeugen versuchen. Die Vorstände der Partei aber sollten sich bemühen, klare und verbindliche Positionen zu formulieren, und sich dabei nicht von Fehlurteilen über die demokratische Funktion der Parteien irritieren lassen. «