Gezähmt oder gelähmt?

Zwei britische Politologen greifen die These von Deutschlands "gezähmter Macht" auf, die besagt, dass die Bundesrepublik nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer konsensorientierten "Politik der kleinen Schritte" in den Nachkriegsjahrzehnten so erfolgreich war. Sie fragen, ob die Zähmung der Regierungsgewalt inzwischen zu einer Lähmung Deutschlands geführt hat

Im Jahr 1987 erschien eine der international einflussreichsten Analysen des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland: das Buch Policy and Politics in West Germany: The Growth of the Semisouvereign State. Der Deutsch-Amerikaner Peter Katzenstein erklärte darin, wie Deutschland trotz des moralischen und materiellen Ruins nach dem Zweiten Weltkrieg zur erfolgreichen Volkswirtschaft wurde, in der auf fast einzigartige Weise soziale Sicherheit mit wirtschaftlicher Prosperität einherging. Als Grund machte Katzenstein den „semisouveränen Staat“ aus: Nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch in der Innenpolitik war die Bundesregierung mit begrenzter – Katzenstein spricht von „gezähmter“ – Macht ausgestattet.

Was war gemeint? Katzenstein zufolge wurde der allmächtige Zentralstaat der NS-Zeit abgelöst durch ein komplexes System der checks and balances. Die Bundesrepublik zeichnete sich durch einen ausgeprägten Föderalismus aus, durch das Verhältniswahlrecht und durch starke unabhängige Institutionen wie die Bundesbank und das Bundesverfassungsgericht. Diesem dezentralisierten Staat stand eine zentral organisierte, starke Zivilgesellschaft gegenüber. Besonders die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände hob Katzenstein dabei hervor, ohne deren Mitsprache keine richtungweisenden Entscheidungen getroffen wurden und die mit ihrem Einfluss verantwortungsvoll umgingen. Dieser „semisouveräne Staat“ war eine Reaktion auf die Katastrophe; er war gewappnet gegen Krieg nach außen und gegen Diktatur im Inneren, erwies sich dabei jedoch als äußerst funktional. Politische Entscheidungen wurden im allseitigen Konsens und damit in der Regel langsam und inkrementalistisch herbeigeführt. Einmal getroffen, wurden sie dafür aber umso erfolgreicher implementiert, weil alle Akteure sie unterstützten. So entstand ein wirtschaftlich dynamischer Wohlfahrtsstaat.

Dieses positive Bild ist nun, fast 20 Jahre nach Erscheinen von Katzensteins Buch, getrübt. Das Wachstum stagniert und der Sozialstaat steht unter Druck. Der große Reformruck bleibt dennoch aus. Stattdessen steckt der Föderalismus in der Verflechtungsfalle; Interessengruppen verteidigen ihre Pfründe; Verbände leiden an abnehmender Bindungskraft und geringerer Verhandlungsmacht. Um jedes Detail der Agenda 2010 beispielsweise wurde mühsam gerungen, aber richtig begeistern kann sich kaum jemand für das Ergebnis. Haben sich die Vorzüge der Semisouveränität durch die geänderten Rahmenbedingungen von Wiedervereinigung, Globalisierung und Europäisierung also in eine verheerende Schwäche verwandelt?

Was funktioniert noch? Und was nicht mehr?

Dieser Frage sind die britischen Politologen Simon Green und William E. Paterson nachgegangen. In einem Team mit amerikanischen und deutschen Wissenschaftlern haben die beiden den „gezähmten“ Staat erneut auf seine Stärken und Schwächen hin untersucht. Governance in Contempory Germany: The Semisouvereign State Revisited heißt der daraus entstandene Sammelband. Zu Beginn des Buches steht die Diagnose der Probleme: die Krise der öffentlichen Haushalte, der demografische Umbruch und die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit. Viel Neues bietet das Buch an diesem Punkt nicht. In den weiteren Betrachtungen hebt es sich hingegen wohltuend von der Flut jener Reformliteratur ab, die in eine undifferenzierte Konsens-ist-Nonsens-Litanei einstimmt und darin eine grundsätzliche Fehlkonstruktion sieht.

Green und Paterson suchen nach Antworten darauf, wie das einst so erfolgreiche Modell Deutschland in die Krise geraten ist, welche Elemente des semisouveränen Staates dysfunktional geworden sind, aber auch, welche Elemente wertvoll und notwendig bleiben. Dazu ist das Buch in Kapitel zu Wirtschafts-, Tarif-, Sozial-, Einwanderungs-, Umwelt-, Verwaltungs- und Europapolitik gegliedert. Auf diese Weise wird deutlich, dass der Reformstau auf den verschiedenen Politikfeldern stark variiert. Viele kleine Reformen in Teilschritten zeigen beispielsweise in der Umweltpolitik Erfolge. In der Zuwanderungspolitik hingegen scheiterte die Konsensfindung. Das Kapitel über die Beziehungen der Tarifparteien – einst Paradebeispiel für den Erfolg des semisouveränen Staats – macht deutlich, wie schwierig es in Deutschland geworden ist, korporatistische Konsenslösungen zu organisieren, die vorteilhaft für die gesamte Gesellschaft sind. Durch ihren Verlust an Bindungskraft haben die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände jene kritische Größe unterschritten, in der sie sich noch gesamtgesellschaftlich verantwortlich fühlen müssten (und könnten). Sie werden mehr und mehr zu Klientelvertretern – mit zum Teil fatalen Ergebnissen für die sozialen Sicherungssysteme.

Die „Deutschland AG“, ein Geflecht aus Banken und überwiegend mittelständischen Unternehmen, das weitgehend vom globalen Finanzmarkt abgeschottet war, musste sich nach Liberalisierungsvereinbarungen wie der Uruguay-Runde des GATT und dem Maastricht-Vertrag öffnen. Dadurch rückten kurzfristige Shareholder-value-Interessen in den Vordergrund – zu Lasten der traditionell langfristigen Planung. Die Exporterfolge belegen zwar, dass sich viele Unternehmen auf den globalisierten Märkten behaupten können. Dies erreichen sie aber vor allem, indem sie sich von der Sozialpartnerschaft verabschieden.

Die Krise begann vor der Deutschen Einheit

Besonders bemerkenswert ist Greens und Patersons Einschätzung zur Wiedervereinigung. Sie werde häufig, aber zu Unrecht als die zentrale Ursache der Probleme Deutschlands ausgemacht. Die beiden Briten zeigen, dass die Deutsche Einheit eine Konsensfindung zwar noch mehr erschwert und das gesamte System mit enormen Kosten belastet hat. Damit katalysierte sie jedoch lediglich schon vorher existierende Probleme. Die Wurzeln der zwei gewichtigsten Probleme, der Demografie und der Arbeitslosigkeit, lägen lange vor 1990. Deshalb warnen die beiden Herausgeber davor, strukturelle mit vereinigungsbedingten Problemen zu verwechseln. Wer die deutsche Krise mit der Deutschen Einheit erkläre, laufe Gefahr, einen Fehler Großbritanniens zu wiederholen. Die Briten hätten sich für ihre Nachkriegsmalaise viel zu lange mit den (im Vergleich zu anderen Ländern geringen) Kriegsschäden entschuldigt, anstatt ihr mit Strukturreformen zu begegnen. Die Japaner hätten es besser gemacht. Sie verpulverten zwar für die erfolglosen Konjunkturprogramme der neunziger Jahre etwa ebenso viel Geld wie Deutschland für die Einheit. Gleichzeitig gingen sie aber Strukturreformen viel früher und entschlossener an. Der kranke Mann Asiens scheint nun die Früchte dieser Reformen schneller zu ernten als der kranke Mann Europas.

Ist Dezision immer besser als Diskussion?

Die Autoren benennen aber nicht nur die Schwächen des semisouveränen Staates, sondern analysieren auch, wo dessen bleibende Stärken auch unter geänderten Rahmenbedingen liegen. In dezisionistischen politischen Systemen nämlich, in denen eine knappe Mehrheit ausreicht, um gegen den Rest der Bevölkerung zu regieren, hat es schwere soziale Verwerfungen gegeben – und zwar nicht nur unter Margarete Thatcher, die praktisch per Handstreich die gesamte britische Kommunalverwaltung beseitigte und die Gewerkschaften entmachtete. Soziale Spannungen bahnen sich auch in den Vereinigten Staaten an. Nach der Radikalisierung der Außenpolitik in der ersten Amtsperiode schickt sich die Regierung Bush nun an, das amerikanische Sozialsystem zu reformieren – mit unabsehbaren Folgen für die amerikanische Gesellschaft und möglicherweise die Weltwirtschaft. Diese Gefahren eines „ungezähmten Staates“ sollten all jene im Auge behalten, die sich einen starken Staat im Sinne Carl Schmitts herbeisehnen. Dieser gründete seine autoritäre Staatslehre auf den Glauben: „Entscheidung ist besser als Nicht-Entscheidung, Dezision besser als Diskussion.“

Peter Katzenstein bleibt im vorliegenden Sammelband seinen Thesen von 1987 treu. Er warnt vor einer zu schnellen Verurteilung des semisouveränen Staates. Die Niederlande hätten gezeigt, wie sich das Blatt wenden könne. Dort lag zwischen der Krise („Dutch Desease“) und den erfolgreichen neunziger Jahren („Dutch Miracle“) nur etwas mehr als ein Jahrzehnt. Das letzte Wort über die Anpassungsfähigkeit der Bundesrepublik sei also noch nicht gesprochen. Immer wieder hat Katzenstein darauf hingewiesen, dass die Reformfähigkeit eines inkrementalistischen Systems nicht zu unterschätzen ist. Erst die Zukunft wird zeigen, ob die auf Eis gelegte Föderalismusreform dysfunktional gewordene Konsensregelungen beseitigen kann und wie die Agenda 2010 letztlich wirkt. Einiges spricht dafür, dass die vielen kleinen Reformen der vergangenen Jahre bald positive Wirkung zeigen. Das britische Magazin The Economist, ein eher kritischer Beobachter Deutschlands, bildete kürzlich auf der Titelseite einen vor Kraft strotzenden Bundesadler ab und titelte: „Germany’s surprising economy – The reviving health of a previously sick country.“

Katzenstein könnte also Recht behalten. Die entscheidende Frage ist seiner Ansicht nach, ob Deutschland, das so erfolgreich aus der Katastrophe der NS-Zeit gelernt hat, auch aus der Krise des einstigen Erfolgsmodells „gezähmter Staat“ lernen kann. Schließlich ist es wesentlich leichter aus Fehlern als aus Erfolgen zu lernen.

Simon Green/ William E. Paterson (Hrsg.), Governance in Contemporary Germany: The Semisovereign State Revisited, Cambridge University Press 2005, 338 Seiten, 29,50 Euro (bei amazon.de).

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