Herr Ljubic von der SPD
Das Buch Genosse Nachwuchs: Wie ich die Welt verändern wollte erschien zeitgleich mit dem Buch Höhenrausch des Journalistenveteranen Jürgen Leinemann. Nicht nur der Blickwinkel der beiden Autoren ist unterschiedlich, auch die Politikmilieus von Spitzenpolitikern auf der einen und Parteibasis auf der anderen Seite könnten kaum verschiedener sein. Der routinierte Spiegel-Reporter Leinemann beschreibt die „wirklichkeitsleere Welt der Politiker“. Deren Sucht nach Macht und Geltung hat wenig gemeinsam mit den Erfahrungen des naiven Politikneulings Ljubic, dessen Motiv, in die Politik zu gehen, sein schlechtes Gewissen ist. Ihm tut die von der Wählergunst gebeutelte alte Tante SPD ganz einfach leid; nicht selber mit anzupacken wäre da so, wie jemanden stürzen sehen und zu hoffen, das andere helfen.
Auf Ljubics Parteieintritt reagiert sein Umfeld mitleidig bis verständnislos: „Warum tust du dir das an?“, fragen seine Freunde. Die Antwort findet er schließlich: Man kann sich nicht beschweren, ohne sich zu engagieren. Max Frisch hat es einmal so ausgedrückt: Politik machen heißt, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen. Sich für seinen Eintritt rechtfertigen zu müssen, findet Ljubic absurd, denn eigentlich müssten sich die Leute erklären, die sich nicht engagieren. Dennoch wird seine Entscheidung ständig in Frage gestellt, vor allem von ihm selbst. Er lernt das larmoyante „Warum hat uns bloß keiner lieb?“ der Partei schnell kennen. Aufmunterung bekommt er nur ein einziges Mal, von einem türkischen Taxifahrer: „Seid mutig und macht weiter!“
Als Mitglied der Berliner Parteiabteilung im Bötzowviertel trifft es ihn gut. In dem Szenestadtteil trifft er nicht nur viele junge Mitglieder. Anders als die Genossen in der Provinz lernt er auch bald die Parteigrößen hautnah kennen. Er steht neben „dem Gerd“, darf mit „Münte“ plaudern und sich vom Bundestagspräsidenten anschreien lassen. Die Politiker des Höhenrauschs bleiben Ljubic fremd. Er wünscht sich von ihnen mehr Mut zu Selbstzweifeln und Unsicherheit, wie er es bei der Ministerin Zypries erlebt hat, die in kleiner Runde zugibt: „Ich sehe das Problem, weiß aber keine Lösung.“ Ambitionen, Parteikarriere zu machen, entwickelt er keine. Stattdessen trifft Ljubic die stellvertretende Abteilungsleiterin, der bei ihrem großen Auftritt die Stimme wegbleibt.
Er redet mit dem Jungpolitiker, der beschließt, dass seine Ausbildung nun doch wichtiger sei, als die Parteikarriere, wohl wissend, dass er in der Partei bald vergessen sein wird. Er lernt das „Alex–Projekt“ kennen, mit dem die SPD Jugendliche bei der Verwirklichung ihrer Ideen unterstützt, sich gesellschaftlich zu engagieren. Wohlgemerkt bleibt die Partei dabei inkognito, denn das Projekt ist wohl auch deshalb so erfolgreich, weil niemand mit SPD-Logos verschreckt wird. Auf der Abschlussgala des Jugendprojektwettbewerbs gibt sich die Partei als Organisator nicht zu erkennen, weil die 600 teilnehmenden Jugendlichen zu skeptisch auf Parteipräsenz reagieren würden.
Nikol Ljubic macht sich nie lustig über die SPD, wenngleich freilich Manches an ihr zum Lachen ist. Er dokumentiert einfach seine Begegnungen mit Parteimitgliedern, trägt Mitgliederzahlen und Umfragewerte über die SPD zusammen, zitiert aus Beschlüssen und dem Parteiprogramm. Er reibt sich darüber die Augen, was so alles im Berliner Programm von 1989 steht, das nach dem Regierungswechsel 1998 niemand mehr in die Hand genommen zu haben scheint.
Die Illusion, er könne die Welt verändern, macht sich Ljubic (anders als der Untertitel des Buches behauptet) von Beginn an nicht. Zwar erinnert er sich an die kollektive Euphorie über den Regierungswechsel von 1998, bei dem endlich der Mehltau vom Land fiel: „Wir waren voller Tatendrang, wollten den ,Musikatenstadl‘ abschaffen, Jägerzäune niederreißen und Saumagen von den Speisekarten streichen“. Doch sechs Jahre später ist die Euphorie verflogen. Ljubic will einfach, dass es irgendwie besser läuft. Mit Kita-Gebühren hat er sich abgefunden, aber wenigstens soll sein Kind keine Studiengebühren zahlen. Mit einem Antrag auf der Landesdelegiertenkonferenz setzt er sich dafür ein. Er lernt, dass Politik das beharrliche Bohren dicker Bretter bedeutet und dass die Studiengebühren trotz LDK-Beschluss eines Tages kommen werden. So richtig zufrieden ist er denn auch nur, wenn er im Konkreten und Kleinen etwas bewegt: bei einer Demonstration gegen einen Neonaziaufmarsch etwa oder beim Verteilen von Büffetresten an Bedürftige. Schließlich fällt die Bilanz des Selbstversuchs von „acht Monaten demokratischer Weiterbildung“ positiv aus: Ljubic will dabei bleiben.
Ein Bundestagsabgeordneter der SPD hat angekündigt, jedem Neumitglied seines Wahlkreises ein Exemplar des Buches von Nicol Ljubic zu schenken. Es wird sicher manchem helfen, sich im Dschungel einer deutschen Volkspartei zurechtzufinden, den Ljubic so hervorragend beobachtet hat. Noch empfehlenswerter ist das Buch für die Höhenrauschverfallenen, die dem Genossen Nachwuchs so fern sind.
Nicol Ljubic, Genosse Nachwuchs: Wie ich die Welt verändern wollte, München: DVA 2004, 206 Seiten 17,90 Euro