In aller Freundschaft
Völkerfreundschaft fiel uns früher viel leichter. Deutschland (West) war der treueste transatlantische Bündnisgenosse, den Amerika sich wünschen konnte. Und Deutschland (Ost) überschlug sich im kommunistischen Bruderbund mit Beweisen seiner Liebe und Verbundenheit zum ruhmreichen Sowjetvolk. Inzwischen sind die "Freunde", wie die Kameraden von der Westgruppe der Roten Armee in der DDR genannt wurden, längst abgezogen; Amerika hat seine Präsenz in der Bundesrepublik drastisch reduziert. Auf die heißen Freundschaften des Kalten Krieges folgen laue Friedensbeziehungen in alle Richtungen.
Risse in der politischen Architektur Deutschlands erstrangige Wirtschaftspartner, militärische Bundesgenossen und außenpolitische Spießgesellen sind heute in wachsendem Maße die zahlreicher werdenden Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Das vereinte Deutschland ist mit Abstand die größte Macht in der EU - und die europäischste zudem. Nationales Fußaufstampfen haben sich die Nachkriegsdeutschländer gründlich abgewöhnt. Also Europa.
Aber Amerika? Karsten D. Voigt, des Kanzlers Koordinator für die deutsch-amerikanischen Beziehungen, sieht diese, wie er in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte schreibt, in "einer Phase des Umbruchs". Der Politikwissenschaftler Ernst-Otto Czempiel warnt in den Blättern für deutsche und internationale Politik: "Die Beziehungen zwischen Westeuropa und den USA sind viel schlechter als sie aussehen. Ihr gesellschaftlich-wirtschaftliches Fundament ist in Ordnung, aber in der politischen Architektur vermehren sich die Risse." Und Michael Rühle, Leiter der Politischen Planungsabteilung der Nato in Brüssel beschreibt in der Zeitschrift Europäische Sicherheit als "entscheidende Veränderung" die Tatsache, "dass die Feststellung, die USA seien die einzig verbliebene Supermacht, inzwischen in einen offenen Hegemonialvorwurf umgeschlagen ist und - wichtiger noch -, dass dieser Vorwurf inzwischen nicht mehr ausschließlich von den ‚üblichen Verdächtigen‘ Frankreich, Russland oder China erhoben wird. (...) Er kommt auch nicht mehr nur aus einer bestimmten politischen Ecke: Er ist heute auch im klassischen atlantischen Lager zu finden."
Der Wahlkampf und die ersten politischen Entscheidungen des neu gewählten US-Präsidenten George W. Bush haben die europäischen Befürchtungen eher noch verstärkt. Die Stichworte lauten: National Missile Defense (NMD), Bomben auf Bagdad, Aufkündigung des Klimaschutzabkommens von Kyoto, Infragestellung des Balkan-Engagements. Spürbar wird die stärkere Betonung nationaler Interessen.
Breitbeinig in die Vertrauenskrise
Erste Ansätze einer gewissermaßen parteipolitisch gestützten Weltinnenpolitik laufen nach Clinton und ohne Al Gore ins Leere. In Florenz (1999) und Berlin (2000) hatten sich die sozialdemokratischen und progressiven Regierungschefs von Italien (D′Alema), Brasilien (Cardoso), Großbritannien (Blair), Deutschland (Schröder) und Amerika (Clinton) zu Mitte-Links-Konferenzen getroffen, um über "progressive governance" im 21. Jahrhundert zu beraten. Dem steht nun wieder die amerikanische Mitte-Rechts-Tendenz zum breitbeinigen Unilateralismus gegenüber.
In der Süddeutschen Zeitung resümiert die amerikanische Politologin Edwina S. Campbell: "Während der Bush-Jahre wird es auf beiden Seiten des Atlantiks zu existenziellen Vertrauenskrisen kommen." Und der Direktor des Institute for International Economics, C. Fred Bergstein, früher Unterstaatssekretär im amerikanischen Finanzministerium, warnt in Foreign Affairs, die Vereinigten Staaten und die Europäische Union befänden sich "am Rande eines latenten Handels- und Wirtschaftskrieges."
Eines dieser Konfliktfelder - neben Landwirtschaft, Stahl und Luftfahrtindustrie - ist der Handel mit Rüstungsgütern. Während die USA ein Prozent ihres militärischen Materials aus Europa importieren, kaufen die Europäer 45 Prozent vom großen Bruder. Für die amerikanischen Streitkräfte gilt der Grundsatz "buy American". Ausnahmen sind möglich, aber selten. Rüstungskooperation gestaltet sich immer wieder schwierig. Komponenten werden als "black box" zugliefert, die technischen Details bleiben selbst vor Industriepartnern innerhalb der NATO geheim: "For American eyes only!" Und nicht nur bei gemeinsamen Rüstungsprojekten behalten sich die USA ein Veto gegen Exportgenehmigungen vor, sondern auch, wenn sie nur Teile zu europäischen Systemen beisteuern. So scheiterte beispielsweise der Kauf des schwedischen Kampfflugzeugs Gripen durch Finnland am Einspruch der Amerikaner, weil der Gripen mit Luft-Luft-Raketen des US-Typs AMRAAM bewaffnet ist. Die Finnen kauften später stattdessen F-18-Jäger direkt in den USA, bei Boeing.
Während es kaum deutsche Beteiligungen an oder Übernahmen von amerikanischen Waffenschmieden gibt, sind amerikanische Rüstungskonzerne wie Raytheon oder Lockheed auf dem europäischen Markt auch als Shareholder immer stärker präsent. Dagegen hilft der politisch forcierte (und "Konsolidierung" genannte) Konzentrations- und Zentralisierungsprozess der europäischen wehrtechnischen Industrie wenig - die entsprechenden Bemühungen auf nationaler Ebene schon gar nicht. Es geht um den Ausverkauf von europäischem Industrie-Know-how, um die technologische Hegemonie Amerikas. Wenn etwa General Dynamics (GD) den staatlichen spanischen Panzerbauer Santa Barbara Blindados kauft, der den deutschen Leopard 2 in Lizenz produziert, geht mit einiger Sicherheit der Technik-Vorsprung des Leopard 2-Konsortiums Krauss-Maffei-Wegmann/Rheinmetall an GD verloren. GD baut das NATO-Konkurrenzmodell, den etwas schwächeren Kampfpanzer M1-Abrams.
Und Rumsfeld grollt in München
Aus der amerikanischen Perspektive der globalen Nummer eins erscheinen nach dem Ende des Kalten Krieges alle europäischen Bestrebungen nach weltpolitischer Eigenständigkeit oder gar Gleichrangigkeit suspekt. Die Anstrengungen zur Schaffung einer gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) innerhalb und neben der Nato, inklusive 60.000-köpfiger starker EU-Eingreiftruppe, betrachtet die Bush-Administration mit Skepsis. So grollte US-Verteidigungsminister Donald H. Rumsfeld auf der Münchener Wehrkundetagung: "Was innerhalb unseres Bündnisses geschieht, muss mit seiner andauernden Stärke, seiner Widerstandsfähigkeit und Effektivität vereinbar sein. Maßnahmen, welche die Effektivität der Nato durch verwirrende Duplizierung oder Störung der transatlantischen Verbindung beeinträchtigen, wären nicht positiv."
Konkurrenz hat Amerika nicht so gern
Noch immer sind die USA die einzige Macht, die Beschlüsse der Vereinten Nationen oder anderer kollektiver Sicherheitssysteme weltweit unter allen Umständen Geltung verschaffen kann. Wenn es ernst wird, sind aufgrund ihrer strategischen Aufklärungs- und Transportfähigkeiten sowie der vielfachen Überlegenheit ihrer See-Luft-Streitkräfte die Vereinigten Staaten immer die lead nation. Mit der ESVP-Initiative könnte dies jedenfalls für Konflikte in Europa geändert werden. In der ESVP gehe es "nicht darum, die Amerikaner aus Europa zu ‚entlassen′, sondern sie zu entlasten", schreibt deshalb die Politikwissenschaftlerin Michaela Hönicke in der Zeitschrift Internationale Politik.
In den USA, traditionell schwankend zwischen Isolationalismus, Unilateralismus und Internationalismus, führt das zu ambivalenten Gefühlen gegenüber den europäischen Bündnispartnern: Kleiner Bruder und erstarkender Partner beim burden sharing - ja. Kräftigerer Partner und gelegentlich Konkurrent in der weltpolitischen Arena - nein! Angesichts der tatsächlichen transatlantischen Verteilung von Mitteln und Fähigkeiten wären solche Sorgen der Amerikaner allerdings absurd: Deutschland zum Beispiel, Europas größtes Nato-Mitglied, gibt 47 Milliarden Mark im Jahr für Verteidigungszwecke aus, SFOR- und KFOR-Kontingente auf dem Balkan eingeschlossen; der US-Militäretat für das Haushaltsjahr 2001/2002 ist auf 310 Milliarden Dollar veranschlagt, nach heutigem Wechselkurs 674 Milliarden Mark.
Die deutsch-amerikanischen Rüstungsbeziehungen dürften seit Anfang der neunziger Jahre auf Tiefstniveau eingefroren sein. Schiffe, Panzer sowieso, Flugzeuge, Elektronik, sogar Flugkörper werden von deutscher oder europäischer Industrie entwickelt und gebaut. Reine Kauflösungen auf dem US-Markt gibt es fast gar nicht mehr.
Markieren die ökonomischen und ökologischen, strategischen und militärisch-industriellen Differenzen also den Anfang vom Ende der deutsch-amerikanischen Freundschaft? Es sollte nicht so sein und wird wohl nicht so kommen. In der multipolaren Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird der Akteur Europa, mit Deutschland in der Mitte, immer deutlicher wahrnehmbar, die globale Nummer zwei. Amerika bleibt die einzige Supermacht, mit den Staaten des demokratischen Europa auf vielfältige Weise verbunden und verbündet, stärker als diese zusammen, aber kulturell, ökonomisch und politisch-konstitutionell nicht ohne oder gegen sie denkbar. Amerika und Europa, das bleibt "der Westen", ein Universum derselben Machart, alte und neue Welt. Russland, China, Japan, Indien liegen uns und, wenn sie ehrlich sind mit sich, auch den Amerikanern ferner.
Das nächste Thema heißt Kooperation
Haben sich die ESVP, deren Präventions- und Interventionsfähigkeit und die europäische wehrtechnische Industrie aller Fakultäten konsolidiert, ist das nächste Thema nicht der globale Wettbewerb, sondern die kostensparende, gleichberechtigte, gleichgerichtete Kooperation mit den Vereinigten Staaten. Zum Beispiel auf dem Gebiet der Rüstung. Neben den heutigen Projekten bei mittleren Artillerieraketen-Systemen (GMLRS), Nahbereichs-Luftabwehr für Schiffe (RAM), Anti-Radar-Flugkörpern (HARM Upgrade), und Datenfunk der dritten Generation (MIDS-LVT) könnte das vor allem die taktische (MEADS) und die strategische Raketenabwehr (MD) sein. Im neuen Material- und Ausrüstungskonzept der Bundeswehr sind diese - teuren - Hochtechnologie-Projekte nicht enthalten. Kanzler, Außen- und Verteidigungsminister halten sich alle Optionen offen: gemeinsame Systementwicklung oder ein eigenes europäisches System (mittlerer Reichweite) oder nichts. So ist, in aller Freundschaft, die Welt heute.