Kompass für aufgeklärte Idealisten
In den Vereinigten Staaten begründen Konservative und religiöse Rechte ihre politischen Forderungen gern mit Moral und Werten. „Ideale“, „Gut und Böse“, „Helden“ – solche Begriffe benutzte vor allem die Regierung George W. Bush lange Zeit erfolgreich zu ihrer Selbstinszenierung. Hingegen wirkt eine solche Sprache für viele Europäer verstaubt. Gerade auch Progressive verwenden sie äußerst ungern. Geht es nach Susan Neiman, ist das ein großer Fehler. In ihrem Buch Moralische Klarheit: Leitfaden für erwachsene Idealisten argumentiert sie, die Werte der Aufklärung dürften nicht denen überlassen werden, die sie verfremden, verdrehen und ins Gegenteil verkehren. Aufklärer wie Rousseau, Voltaire oder Kant seien in ihrer Ablehnung des Orthodoxen und Autoritären von einem moralischen Kompass und klaren Werten geleitet gewesen, die auch im 21. Jahrhundert dringend gebraucht würden.
Linke nuscheln gern herum
Susan Neiman ist eine amerikanische Philosophieprofessorin mit Stationen in Yale und Tel Aviv und leitet seit zehn Jahren das renommierte Einstein Forum in Potsdam. Nachdem sie zunächst die Schule abgebrochen hatte, um sich in der Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg zu engagieren, promovierte sie schließlich in Harvard bei dem Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls. Im Zentrum ihrer Forschung stehen die Aufklärung und Immanuel Kant. Moralische Klarheit ist das dritte Werk von Susan Neiman, das auf Deutsch erscheint, nach dem viel beachteten Das Böse denken: Eine andere Geschichte der Philosophie (2002) und ihrer Außenansicht Fremde sehen anders: Zur Lage der Bundesrepublik (2005).
Die New York Times bezeichnete Moralische Klarheit 2008 als eines der wichtigsten Bücher des Jahres. Beim britischen Guardian stand es ein Jahr später auf der Liste der wichtigsten Sachbücher des Jahres. Warum erscheint dieses Buch auf Deutsch dann erst mit zweijähriger Verzögerung? Die Begründung lieferte Ulla Berkéwicz, Verlagsleiterin bei Neimans bisherigen Verlag Suhrkamp in der Welt: Das vorliegende Philosophiebuch sei „zu amerikanisch“. Der Verlag Hamburger Edition sah das erfreulicherweise anders und brachte den Band in diesem Herbst heraus. Ulla Berkéwiczs Einschätzung mag daher rühren, dass der Ausgangspunkt des Buches die Suche nach den Gründen für Bushs Wiederwahl im Jahr 2004 ist – zu einer Zeit also, die viele Europäer längst verdrängt haben. Die bloße Abrechnung mit einem hierzulande völlig desavouierten Regime wäre vielleicht tatsächlich nicht von breitem Interesse. Neimans Schlüsse und Gedanken, die aus ihrer Kritik erwachsen, reichen aber weit darüber hinaus. Linke „nuscheln“ gern herum, wenn es um Fortschritt und Ideale geht, schreibt Neiman. Aus Angst vor Missbrauch überlassen Fortschrittliche die stärksten Begriffe denen, die sie missbrauchen. Auch wenn dieses Problem in den USA offensichtlicher zutage tritt, ist es längst auch in Europa präsent.
Die Autorin begibt sich auf feindliches Territorium: Zum Höhepunkt der Bush-Ära veröffentlichte dessen Berater William J. Bennett das Buch Why We Fight: Moral Clarity and the War on Terrorism, um der amerikanischen Außenpolitik eine moralische Rechtfertigung zu geben. „Moralische Klarheit“ war das Erfolgsrezept der amerikanischen Rechten von Reagan bis Bush. Nach dem 11. September erlebte diese Strategie mit Bushs berüchtigter Rede über die „Achse des Bösen“ ihren Höhepunkt. Wie im Orwellschen „Neusprech“ wurden dabei die Tatsachen dreist verkehrt: Eine Phase des moralischen Niedergangs der amerikanischen Politik, in der Kriegsgründe fingiert, Bürgerrechte beschnitten und Foltermethoden legalisiert wurden, kleidete sich in eine Sprache der moralischen Reinheit. Erst 2008 versuchte Barack Obama mit Erfolg, den moral high ground wieder für Progressive zu beanspruchen. Die Autorin schreibt im Vorwort der deutschen Ausgaben, ihr sei klar, dass der Titel ihres Buches gerade in Deutschland zunächst auf Unverständnis stoßen werde: „Wie sollte es auch anderes sein in einem Land, in dem das Wort Held verstaubte Bilder toter Verwandter in Wehrmachtsuniformen hervorruft und das Wort moralisch eher als Schimpfwort denn als Auszeichnung taugt.“
Die Triebfeder des Buches ist, wie Neiman schreibt, der Zorn gegen jene, die den Begriff Moral zu Unrecht gekapert haben und die Hoffnung, das verlorene Territorium zurückzugewinnen. Ihr Leitbild ist die Aufklärung, ihr Verbündeter ist Immanuel Kant, der den Moralbegriff im 18. Jahrhundert revolutioniert hatte. Kant war Mitbegründer eben jener Geisteshaltung, der zufolge Fortschritt zwar nicht zwangsläufig ist, aber möglich. Neiman meint, die Gedanken der Aufklärung könnten uns vor prämoderner Nostalgie und postmodernem Misstrauen bewahren. Wer sich der Aufklärung verpflichtet fühle, sei immer auch dazu verpflichtet, die Welt zu verstehen und zu verbessern. Die Aufklärung des 21. Jahrhunderts müsse die Arbeit des 18. Jahrhunderts erweitern, indem sie auf neue Gefahren für die Gedankenfreiheit hinweist und für soziale Gerechtigkeit eintritt.
Aufklärer benutzen peinliche Begriffe
Im Zuge dieser Besinnung auf die Aufklärung rückt Neiman vier zentrale Werte in den Fokus. Erstens ist da die Idee, dass alle Menschen das gleiche Recht auf Glück haben. In früheren Zeiten wurden Krankheit und Armut als Zeichen göttlichen Missfallens gedeutet. Das aufklärerische Denken stärkte das Bewusstsein, dass diese Übel überwindbar sind. Der zweite zentrale Wert ist die Vernunft, die dem vormals herrschenden blinden Autoritäts- und Aberglauben entgegengesetzt wurde. Der dritte Wert mag aus heutiger Sicht missverständlich sein: die Demut vor der Schöpfung. Die Aufklärer setzten diese Demut aber nicht gleich mit dem Glauben an einen Gott. Der vierte zentrale Wert der Aufklärung ist die Hoffnung, die alle anderen Werte antreibt und ein Fundament für Taten ist. Denn wer glaubt, die Welt werde immer schlechter, wird sich nicht aufraffen, viel mehr zu tun, als lediglich den Kopf zu schütteln. Der Untertitel „Leitfaden“ suggeriert eine Aufforderung zum Handeln. Genau das möchte die Autorin erreichen: „Das Buch will nicht nur analysieren; die Leser werden auch aufgefordert, den Mut aufzubringen, Begriffe zu benutzen, die ihnen vorher peinlich erschienen. Denn ohne die Sprache der Moral sind wir nicht einmal in der Lage, die Welt zu beschreiben – geschweige denn, sie zu verändern.“
Kein Zufall, dass sich Susan Neiman für Obamas Wahlkampagne engagierte. In ihrem Buch bezieht sie sich gleich mehrfach auf ihn. Ein zentraler Satz des amerikanischen Präsidenten lautet „The world as it is, is not the world as it should be“. Genau diese Haltung entspricht Neimans zentraler Forderung nach einem ausgereiften und wahren Idealismus, der auf moralischen Werten basiert. Diesen Idealismus beschreibt sie mit Kants Worten als die Fähigkeit zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte, zu unterscheiden – ohne eines der beiden jemals aus den Augen zu verlieren. «
Susan Neiman, Moralische Klarheit: Leitfaden für erwachsene Idealisten, Hamburg: Verlag Hamburger Edition, 480 Seiten, 32 Euro