Neue Balancen gesucht
Als die Linkspartei.PDS bei der Bundestagswahl im September 2005 erstmals zur Wahl stand, gaben ihr rund zwei Millionen Ostdeutsche, aber auch zwei Millionen Westdeutsche ihre Stimme. Nur jeder Dritte dieser Wähler hatte die PDS bereits bei der vorangegangenen Bundestagswahl gewählt. Für die Neuwähler waren vor allem zwei Themen entscheidend: die soziale Gerechtigkeit und die Arbeitsmarktpolitik. Darin waren sie sich mit denen einig, die schon früher für die PDS gestimmt hatten. Ähnliche Präferenzen hatten übrigens auch viele ehemalige SPD-Wähler, die 2005 ihr Kreuz nicht mehr bei der SPD machten.
Die entstehende neue Linke, so glaubten viele nach der Bundestagswahl, sei eine zum idealen Zeitpunkt präsentierte Kopfgeburt von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, jedoch ohne Kompetenz und Substanz. Die Partei sei das Sammelbecken der Zornigen, der Enttäuschten, der Ewiggestrigen, die zusammen mit den „DDR-Altkadern“ eine hoch problematische Mischung darstellten, ja eine Gefahr für die Demokratie. Unterwanderungsversuche von rechts und Ausrutscher im Wahlkampf taten ihr Übriges, um diese Sorge zu nähren.
Mittlerweile stehen beide Parteien kurz vor dem erfolgreichen Abschluss eines komplizierten, aber zügigen Fusionsverfahrens. Das Statut dürfte für so manchen gewöhnungsbedürftig sein und die mühsam ausgehandelten „Programmatischen Eckpunkte“ sind glücklicherweise noch nicht das Ende der Debatte. Aber man hat eine gemeinsame Struktur gefunden und notiert, was beiden Parteien programmatisch gleichermaßen wichtig ist. Alarmierende Fragen wie in der Diskussion um den ersten Entwurf – etwa, ob und wie individuelle Freiheitsrechte mit sozialen Menschenrechten vereinbar seien – tauchen nicht mehr auf. Die Bundestagsfraktion arbeitet und streitet; neben die Prominenten sind Fachleute getreten, die in Parlament und Öffentlichkeit respektiert und in der Partei mittlerweile hoch geachtet werden – und zwar unabhängig ihrer Herkunft.
PDS-Wähler sind für die EU-Verfassung
In den Umfragen liegt die Linke derzeit stabil bei etwa zehn Prozent. Diese potenzielle Wählerschaft hat zu den derzeit bestimmenden sozialen und politischen Themen gar keine besonders radikalen Ansichten. Selbst bei einem so aufgeladenen Thema wie dem Atomausstieg ähneln die Mehrheitsverhältnisse unter den Wählern der Linkspartei.PDS denen innerhalb der Wählerschaft der SPD und sind weit weniger polarisiert als bei den Grünen. So hätte noch im letzten Sommer eine relative Mehrheit der Anhänger der Linkspartei für die EU-Verfassung gestimmt – entgegen der lautstark verfochtenen Linie der Parteiführung.
Doch als im Sommer vergangenen Jahres eine Verschärfung der Hartz IV-Regelungen ins Gespräch kam, stellten sich die Linkspartei-Anhänger gegen die sie umgebenden Mehrheiten: Zwei Drittel von ihnen lehnten die Verschärfungen ab – im Bevölkerungsdurchschnitt hingegen waren etwa ebenso viele dafür oder wollten sogar noch weiter gehen. Dies ist freilich ein extremes Ergebnis – hier war der Gründungsimpuls der neuen Linken berührt, nämlich die Empörung über die Arbeitsmarktreformen der Regierung Schröder.
Schaut man jedoch auf die hintergründigen Motive der Empörung über die Hartz IV-Reformen, steht die Linkspartei nicht allein. Gefragt, ob Deutschland für die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft mehr Markt, mehr soziale Sicherung oder keinen Kurswechsel brauche, spricht sich die Mehrheit der deutschen Gesellschaft für das Soziale aus (53 Prozent), während nur ein Drittel auf den Markt setzt. Nur 24 Prozent der Deutschen glauben noch, dass wir eine soziale Markwirtschaft haben; 62 Prozent sehen das Wirtschaftssystem als nicht mehr wirklich sozial an. Die Linkspartei, vom Wähler bis zur Parteiführung, bringt im politischen Raum lediglich auf den Punkt, was ohnehin dem gesellschaftlichen Klima entspricht.
Ähnlich sieht es in anderen Bereichen aus: Wenn 59 Prozent der Anhänger der Linkspartei Auslandseinsätze der Bundeswehr prinzipiell ablehnen, stehen sie zwar einer gesellschaftlichen Mehrheit gegenüber, die diese prinzipiell gutheißen. Doch mit dem Wunsch, die Anzahl der deutschen Auslandseinsätze zu vermindern, liegen die Mehrheiten in der Gesellschaft und unter den Sympathisanten der Linkspartei schon wieder gleichauf. Das gilt erst recht für die Ablehnung der Tornado-Einsätze in Afghanistan, die quer durch die Wählerschichten aller Parteien geht. Doch während die Führungen und Fraktionen der übrigen Parteien für den Einsatz votierten, stimmte die Linksfraktion im Bundestag dagegen.
Auch die Bildungspolitik ist ein gutes Beispiel: Die Forderung der Linkspartei, das gegliederte Schulsystem durch eine Gemeinschaftsschule zu ersetzen, in der die Kinder länger gemeinsam lernen, würden 56 Prozent der Deutschen unterschreiben; 39 Prozent wollen das bisherige System beibehalten. Aber im politischen Raum wird dieses bildungspolitische Ziel, das zum Teil auch Sozialdemokraten und Grüne unterstützen, am vehementesten von der Linkspartei propagiert. So geht die rot-rote Koalition in Berlin gerade den Weg in Richtung Gemeinschaftsschule. Wo die SPD allerdings – wie in Brandenburg – die CDU der PDS als Partner vorgezogen hat, geschieht dies nicht.
Rückenwind wie sonst nur für die FDP
In zentralen gesellschaftlichen Fragen steht die Linkspartei also für Forderungen, die in der Gesellschaft und bei den Anhängern der übrigen demokratischen Parteien mehrheitsfähig sind, jedoch von diesen nicht in dieser Form vertreten werden. Hier dürfte der eigentliche Grund dafür liegen, dass mittlerweile 39 Prozent der Deutschen erwarten, die Linkspartei werde künftig stark an Rückhalt gewinnen. Derartigen Rückenwind hat sonst nur noch die FDP.
Sicher, ein Selbstläufer ist die neue Linkspartei nicht. Viele Basiskompetenzen einer demokratischen Linken werden nach wie vor eher der SPD zugeschrieben. Diese gilt den meisten Menschen im Lande (31 Prozent) als „Anwalt des kleinen Mannes“, die Linkspartei folgt mit deutlichem Abstand (15 Prozent), liegt aber immerhin vor der Union.
Noch konkurrieren SPD und Linkspartei auf ähnlichem gesellschaftlichem Terrain und liegen mit ihren deklarierten Zielen sowie den ihnen zugeschriebenen Kompetenzen nahe an den Bestrebungen großer Mehrheiten. Die Linkspartei stellt im Osten in erster Linie die Fortsetzung der PDS dar, im Westen ist sie zum Teil eine kleine Abspaltung der SPD. Offen bleibt, wie stark diese Abspaltung wächst. Würde sich beispielsweise ein Mann wie Rudolf Dreßler zum Wechsel in die Linkspartei entschließen, könnte das der SPD wohl zusätzliche Wähler kosten.
Die neue Ära der vorsorgenden Politik
Maßgeblich sind die politischen Konstellationen. Anfang Dezember 2006 meinten 37 Prozent der Bevölkerung mit Blick auf die Große Koalition im Bund, dass sich die SPD besonders für soziale Gerechtigkeit einsetze. Aber dieser Prozentsatz ist rückläufig. Renate Köcher vom Institut für Demoskopie in Allensbach fasst es so zusammen: „Gerade auch in der eigenen Anhängerschaft ist die Wahrnehmung der SPD als Anwalt sozialer Gerechtigkeit in den letzten Monaten deutlich schwächer geworden ... Die sozialdemokratisch orientierten Bürger empfinden insbesondere die geplanten Nullrunden bei den Renten, die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Verschärfung der Regeln für den Anspruch auf Arbeitslosengeld, die Kürzung der Pendlerpauschale und die Verlängerung der Probezeiten bei Neueinstellungen als Verstoß gegen ihre Gerechtigkeitsvorstellungen.“
Die SPD sitzt in einer Falle, die sie sich selbst gestellt hat. In den Koalitionsverhandlungen im Jahr 2005 hatten Gerhard Schröder und Franz Müntefering jene Ressorts für die SPD eisern erkämpft, die für die Fortsetzung der Agenda-2010-Politik eine zentrale Rolle spielen: Das Ministerium für Arbeit und Soziales sowie das Finanzministerium sind die Schlüsselressorts für den Umbau des alten, nachsorgenden Sozialstaates. Doch plötzlich rückte eine vorsorgende Gesellschaftspolitik auf die Tagesordnung. Als Matthias Platzeck im Herbst 2005 den SPD-Vorsitz übernahm und für seine Partei die Zukunftsthemen Bildung und Familie in den Vordergrund rückte, war es schon zu spät: Die beiden betreffenden Ressorts wurden bereits von CDU-Frauen geleitet. Als Ursula von der Leyen dann ihre Kampagne für mehr Krippenplätze startete, blieb der SPD nichts weiter übrig, als die Finanzierungsfrage aufzuwerfen – zu einem Zeitpunkt, da der eigene Finanzminister die nächste Runde der Steuerentlastung für die Unternehmen durchdrückte.
Bsirske und Peters als Paten der Linkspartei
Deutschland sucht nach den Reformjahren der Regierung Schröder und angesichts der Globalisierung nach neuen Balancen. Fast zwei Drittel aller Deutschen meinen heute, dass die Unternehmen, wenn sie nach Reformen rufen, nur eigene Interessen verfolgen, nicht aber dem Gemeinwohl dienen. Und so befürworten nur noch 18 Prozent, dass die Wirtschaft mehr Einfluss auf die Politik erlangt – 55 Prozent wollen genau das Gegenteil. Andererseits nehmen laut Allensbach-Institut seit zwei Jahren die kritischen Stimmen gegenüber den Gewerkschaften ab. Eine Trendwende hat eingesetzt. Seit Anfang 2003 hat sich der Anteil derer, die sich einen stärkeren Einfluss der Gewerkschaften auf die Politik wünschen, von 28 auf 44 Prozent erhöht. Unter den Ostdeutschen, die eher gewerkschaftsskeptisch eingestellt sind, ist diese Tendenz noch stärker zu beobachten.
Dass das Pendel wieder zurückschlagen wird, haben die Gewerkschaften selbst frühzeitig erkannt. Und zwar nicht nur die Gewerkschaftsfunktionäre, die die WASG mitgründeten, sondern auch jene, die dies begünstigten und unterstützten. So ergriffen Verdi-Chef Frank Bsirske und der IG-Metall-Vorsitzende Jürgen Peters vor der letzten Bundestagswahl Partei für die entstehende neue Linke und setzten sich sogar für eine rot-rote Bundesregierung ein.
Die Trillerpfeifen-Linke bleibt unpopulär
Mittlerweile lässt sich ein regelrechtes Hand-in-Hand von kämpferischen Gewerkschaftern und radikalen Linken beobachten: Nachdem Oskar Lafontaine öffentlich das Recht auf politische Streiks forderte, kam es Anfang 2007 in Süddeutschland zu zeitweiligen Arbeitsniederlegungen der IG Metall samt Kundgebungen gegen die Rente mit 67. Politischer Streik in der Praxis? Führende DGB-Funktionäre sehen das anders: Die IG-Metall habe bloß die Gewerkschaftskampagne gegen die Rente mit 67 in die Betriebe getragen.
Man muss schon genau hinsehen, um zu erkennen, welche Erwartungen bezüglich neuer Balancen in der Gesellschaft tatsächlich reifen. Fest steht: Nicht den alten Trillerpfeifen-Gewerkschaften wird mehr Einfluss gewünscht, sondern es wird ein modernes soziales Gegengewicht gefordert. Renate Köcher: „Die Bevölkerung wünscht sich eher einen konzilianteren, konstruktiveren Kurs der Gewerkschaften als eine radikalere Interessenvertretung sowie teilweise eine Verlagerung des gewerkschaftlichen Engagements. An der Spitze der Ziele, für die sich die Gewerkschaften nach den Vorstellungen der Bevölkerung verstärkt engagieren sollten, stehen die Stärkung des Standorts, so dass es Unternehmen erleichtert wird, in Deutschland zu bleiben, die Unterstützung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, die Verbesserung der betrieblichen Aus- und Weiterbildung und die verstärkte Unterstützung von Arbeitnehmern, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Bei all diesen Zielen hat die Bevölkerung den Eindruck, dass sie in der gewerkschaftlichen Programmatik und Arbeit bisher nur einen geringen Stellenwert haben.“
Es wird also nicht gewünscht, dass die Gewerkschaften bloß die Wirtschaft unterstützen, der es nur um das eigene Wohl statt um das große Ganze gehe. Gerade diese Dimension des Ganzen sollten die Gewerkschaften wieder in den Blick nehmen: Wie sind Globalisierung und soziale Sicherung miteinander vereinbar? Wo können sozialstaatliche Nachsorge und gesellschaftspolitische Vorsorge in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gesetzt werden?
Kommt jetzt die reine Protestpartei?
Wird die Linkspartei diese drängenden Fragen bewältigen können? Das wird davon abhängen, wie es ihr gelingt, ihre durchaus unterschiedlichen Handlungsimpulse und politischen Traditionen zu vereinbaren. Bevor sie sich auf den Weg zur neuen Linkspartei machte, hatte die PDS mit der Denkfigur des „strategischen Dreiecks“ einen identitätstiftenden Bezugsrahmen zwischen Protest und Widerstand, realpolitischem Gestaltungsanspruch und Orientierung auf längerfristige Transformationsprozesse in Richtung eines demokratischen Sozialismus gefunden. Zwar ist das „strategische Dreieck“ in die Gründungsdokumente der neuen Partei aufgenommen worden, faktisch aber – das zeigten die jüngsten Parteitage von WASG und Linkspartei.PDS – wird die neue Linke die gesamte Debatte über die „Programmatischen Eckpunkte“ sowie über „Kriterien“ für Regierungseintritte und -austritte, wie sie sich WASG und Minderheiten in der PDS wünschen, wieder auf den Tisch bekommen.
Rein rechnerisch muss man sich auch nicht mehr die Frage stellen, ob man erneut einen Bezugsrahmen wie das „strategische Dreieck“ hinbekommt (und damit links neben der SPD längerfristig politikfähig ist). In Ostdeutschland hat es mit dem Schritt zur neuen Linkspartei keinen neuen Durchbruch gegeben. Der entscheidende Zuwachs an gesellschaftlicher Zustimmung für die PDS trat hier bereits im Jahr nach der Bildung der rot-grünen Bundesregierung ein (über 25 Prozent in den Jahren 1999 bis 2001; jetzt sind es etwa 26 Prozent). Im Westen dagegen dümpelte die PDS bis 2005 zwischen ein und zwei Prozent, während die Linkspartei.PDS seit 2006 in Umfragen relativ stabil bei um die sechs Prozent liegt.
Wie eine Volkspartei arbeitet
Dies könnte der Linkspartei auch ohne Rücksicht auf die Wählermassen im Osten eine parlamentarische Präsenz auf Bundesebene sichern. Kann man deswegen darauf verzichten, einen Spagat zu machen zwischen Volkspartei (Ost) und Richtungspartei (West), zwischen kommunal- und landespolitischer Prägung einerseits und Protest und Kritik andererseits? Kann man darauf verzichten, nicht nur in den eigenen Reihen, sondern auch mit der politischen Konkurrenz Kompromisse einzugehen? Kann man darauf verzichten, Handlungsrahmen zu akzeptieren, gegen die man eigentlich zu Felde ziehen will? Kann man es unterlassen, breite gesellschaftliche Schichten im Auge zu behalten, wenn man die eigenen Ziele formuliert?
Die Potenziale der Linkspartei werden sich ohne die Erfahrungen einer Volkspartei nicht mobilisieren lassen. Zumindest die PDS hat in ihren Anfangsjahren schon einmal erlebt, dass sich unter demokratischen Verhältnissen letztlich die Wählerinnern und Wähler einer Partei bemächtigen und sie zur Ausfüllung einer Vertretungslücke ermächtigen. Ein solcher Vorgang könnte sich wiederholen und ehemalige SPD- wie PDS-Mitglieder daran erinnern, dass sie alle einmal gelernt haben, wie eine Volkspartei arbeitet.