Pathologie als politische Lösung
"Kaum ist das Regime verschwunden, macht die irakische Bevölkerung von ihrer neuen Freiheit Gebrauch ... Eine lautstarke Minderheit protestiert gegen die Besatzungsmacht. Die Mehrzahl jedoch verlangt Nahrung, Wasser, Strom und Sicherheit. Die Meinungen und Forderungen sind vielfältig und wechselhaft ... Neben Erleichterung und Jubel hört man Stimmen des Zorns, des Misstrauens und der Klage ... Es kann Monate oder gar Jahre dauern, bis sich die gelassene Einsicht einstellt, dass der Siegeszug der fremden Macht zuletzt doch neue Freiheiten mit sich gebracht hat." (Wolfgang Sofsky)
Irak am 17. August 2003. In der Nähe von Tikrit wird eine Erdölpipeline zerstört. Die erst am Vortag wieder aufgenommenen Erdölexporte müssen unterbrochen werden. Gleichzeitig werden bei dem Beschuss eines Gefängnisses in Bagdad sechs Iraker getötet und 60 verletzt. In der irakischen Hauptstadt fällt nach einem weiteren Anschlag die Wasserversorgung aus und bei Basra wird ein dänischer Soldat in einem Gefecht getötet. Fast täglich kommen seit Kriegsende solche Nachrichten aus dem Irak. Sie gelangen meistens nicht auf die Titelseiten der Zeitungen. Sie sind zur Routine geworden. Das ändert sich nur, wenn es den Amerikanern gelingt, ehemalige Spitzenfunktionäre des gestürzten Regimes festzunehmen oder zu töten. Mit der Ausschaltung der ehemaligen Herrschaftselite wird die Hoffnung verbunden, der Widerstand gegen die Neuordnung des Landes werde zusammenbrechen. Das verzweifelte Bemühen der Vereinigten Staaten, den gestürzten Despoten selbst in ihre Gewalt zu bekommen, ist das Sinnbild für diesen Glauben an ein gutes Ende der amerikanischen Bemühungen im Irak.
Ein erklärungsbedürftiges Projekt
Amerikanische Bemühungen? Darf man einen Krieg auf diese Art verharmlosen? Tatsächlich ist an der Praxis amerikanischer Besatzungspolitik seit der Besetzung Bagdads am 9. April wenig zu kritisieren. Weder praktizieren die Vereinigten Staaten Terror zur Befriedung des Landes wie die Russen in Tschetschenien, noch ist das Ausmaß der Kampfhandlungen mit dem Vietnamkrieg ab 1965 zu vergleichen. Die Vereinigten Staaten wollen im Irak mehr erreichen als das klassische imperialistische Programm: die Kontrolle der irakischen Ölressourcen und einen Stützpunkt im Mittleren Osten. Unter Neuordnung verstehen sie, den Irak - und am Ende die islamische Welt - in die westliche Moderne zu führen. Die Besatzungssoldaten sollen durchsetzen, wofür der Westen unter anderem die Renaissance, die Reformation und die Aufklärung brauchte. Ein mutiges und erklärungsbedürftiges Projekt.
In Deutschland haben diese Erklärung schon vor Beginn des Krieges vor allem zwei Autoren versucht. Der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky beschreibt es in seinem Buch Operation Freiheit. Der Krieg im Irak als "sanfte Hegemonialpolitik (der USA) ... mit Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaat und Massenkonsum" als erfolgreiches Modell zur "gesellschaftlichen Befriedung ohne Gewalt". Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler versteht darunter in Der neue Golfkrieg ein "Prosperitätsregime". Der Irak solle in Zukunft seine Erdöleinnahmen für den Aufbau einer zivilen Infrastruktur und einer westlich orientierten Mittelschicht verwenden. Langfristige Ziele seien die Demokratisierung des Irak und die Aufhebung "arabisch-islamischer" Modernisierungsblockaden.
Beide Autoren gehören in Deutschland zu den herausragenden Vertretern ihres Fachs. Wolfgang Sofsky ist mit dem Buch Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager (Frankfurt am Main 1997) bekannt geworden, Herfried Münkler mit seinen Studien über den modernen Krieg. Zuletzt hatte er in Die neuen Kriege (Reinbek 2002) das Ende des zwischenstaatlichen Krieges diagnostiziert. Beide Bücher haben einen gemeinsamen Charakterzug: Sie stehen unter dem Eindruck der Ereignisse, sind also während des Krieges oder kurz nach Kriegsende geschrieben, geben aber die kritische Distanz des Analytikers nicht auf. Das betrifft vor allem die Analysen der Vorgeschichte des Verlaufs der Kampfhandlungen nach Ausbruch des Krieges. Die unterschiedliche intellektuelle Herkunft der Autoren ist dabei unübersehbar. Sofsky hat einen bestechenden Blick für den Krieg als soziale Aktion. Wie er etwa den Begriff des Szenarios seziert, seine Bedeutung für die Ausarbeitung eines Kriegsplanes beschreibt und ihn von der Prognose abgrenzt, lässt die Handschrift des Soziologen erkennen. Die Kapitel Ziele und Szenarien und Kriegspläne sind herausragend und lohnen allein schon die Lektüre des Buches. Gleichwohl bleibt Sofskys Ansatz deskriptiv und bildet, nicht ohne Grund, in seiner Kapitelstruktur die Chronologie der Ereignisse ab.
Prototyp der Kriege des 21. Jahrhunderts?
Münkler steht in der Tradition der realistischen Schule in den internationalen Beziehungen. Sein Ansatz ist zwar konventioneller, aber auch systematischer als der von Sofsky. Die Vorgeschichte des Dritten Golfkrieges, die bei Sofsky kaum vorkommt, ist zentraler Bestandteil von Münklers Analyse. Er rekonstruiert die Gründe für den amerikanischen Entschluss zum Krieg, wohingegen sich Sofsky mehr für dessen Folgen interessiert. Beide Autoren geben aber Antworten vor allem auf drei Fragen: Welche Rolle spielen die Vereinigten Staaten als Hegemonialmacht im internationalen System? Wie werden sich die weltpolitischen Strukturen verändern? Welche Auswirkungen hat das für das westliche Bündnissystem im allgemeinen und Deutschland im besonderen?
Für beide Autoren ist der Irakkrieg der Prototyp für die Kriege im 21. Jahrhundert. Die Vereinigten Staaten agieren dabei weniger als eine klassische imperialistische Macht zur Durchsetzung ihrer ökonomischen und politischen Interessen. Vielmehr ist die letzte verbliebene Supermacht zugleich der einzige militärisch relevante Ordnungsfaktor im internationalen System. Dieses System ist seit dem Westfälischen Frieden von 1648 ein Staatensystem, und die UN seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ihr wichtigster Ausdruck.
Bin Laden ist bedrohlicher als Saddam
Die hergebrachte Konfliktform des zwischenstaatlichen Krieges wird an Bedeutung verlieren. Der Grund: Die Supermacht Amerika ist im klassischen Krieg nicht zu besiegen. Also werden Konflikte - und diese sind wegen der amerikanischen Ordnungsfunktion sehr schnell Konflikte mit den Vereinigten Staaten - mit zwei "Strategien systematischer Asymmetrisierung" (Münkler) ausgetragen werden. Die eine bedient sich des Terrorismus, die andere der Drohung mit Massenvernichtungswaffen. "Nine-Eleven" ist die Chiffre für diesen radikalen Strukturwandel. Während Sofsky auf eine Differenzierung zwischen beiden Formen verzichtet, hält Münkler nicht Saddam Hussein, sondern das Netzwerk Osama bin Ladens für die bedrohlichste Herausforderung der Vereinigten Staaten - allerdings ohne daraus Konsequenzen für seine Analyse zu ziehen. Vor diesem Hintergrund entwickelt Münkler seine Thesen zum Irakkrieg. Dessen Ursachen findet man weder in den offiziellen Erklärungen der Vereinigten Staaten oder Großbritanniens noch in den eindimensionalen Vorstellungen vieler Kriegsgegner ("Kein Blut für Öl"). Die Vereinigten Staaten wollten, so Münkler, mit dem Krieg ein "Dilemma" im Mittleren Osten auflösen. Der Status quo nach dem Ende des Zweiten Golfkrieges 1991 erwies sich zunehmend als unhaltbar. Die politischen und ökonomischen Kosten der US-Militärpräsenz, vor allem in Saudi-Arabien, stiegen - und waren am Ende der Auslöser für die Konfrontation mit Osama bin Ladens Terrornetzwerk El Kaida. Saddam Hussein konnte in den neunziger Jahren seine Herrschaft stabilisieren, und der Irak blieb trotz seiner militärischen Schwäche immer noch eine potentielle Hegemonialmacht in der Region. Die Wirtschaftssanktionen hatten sich wegen der katastrophalen Folgen für die irakische Zivilbevölkerung als kontraproduktiv erwiesen. Die Fortsetzung der Politik zur Eindämmung Saddam Husseins war also zunehmend fraglich geworden und eine politische Niederlage der Vereinigten Staaten keineswegs auszuschließen.
Dann kamen die Angriffe vom 11. September 2001 auf New York und Washington. Zwar hatte der Irak damit nichts zu tun. Aber sie legitimierten den Präventivkrieg. Er ist die Antwort der Vereinigten Staaten auf die Herausforderung des asymmetrischen Krieges. In dessen "prinzipiell an Gewaltanwendung orientierten Kalkül" (Münkler) haben alle Akteure ein Interesse an Eskalation und präventivem Handeln. Im "symmetrischen", zwischenstaatlichen Krieg dagegen kann der Verzicht auf Eskalation sinnvoll sein. Das beste Beispiel ist der Zweite Golfkrieg im Jahr 1991. Die Vereinigten Staaten verzichteten aus politischen Gründen auf die mögliche Besetzung des Irak und beschränkten sich auf die Befreiung Kuwaits. Nach dem 11. September betrachteten die USA den Krieg nur noch unter dem Blickwinkel der Asymmetrie. Münkler fasst die veränderte Sichtweise der Amerikaner prägnant zusammen: "Bei der Bekämpfung von Terroristen und Massenvernichtungswaffen erlangt derjenige den größten Vorteil, der als Erster und mit aller Entschlossenheit zuschlägt."
Ganz so anders war der Irakkrieg nicht
Dabei gibt es allerdings ein Problem: Der Irak ist ohne Zweifel Bestandteil des klassischen Staatensystems des 20. Jahrhunderts. Die von Saddam Hussein ausgelösten Konflikte sind - und keiner weiß sie besser zu beschreiben als Münkler - symmetrischer und nicht asymmetrischer Natur zugleich. Saddam hat zwar im Dritten Golfkrieg im Frühjahr dieses Jahres asymmetrische Mittel angewandt. Aber es wäre auch ziemlich absurd gewesen, hätte der irakische Despot die Dummheit des Zweiten Golfkrieges wiederholt, hätte er also seine motorisierten Verbände in der Wüste zum Abschuss durch die Allianz aufgestellt. Die Anwendung asymmetrischer Mittel ist im klassischen Staatenkrieg weder ungewöhnlich noch neu. Das begründet also kaum die epochale Bedeutung des Irakkrieges.
Diese findet man auch nicht im Irak, sondern in den Vereinigten Staaten. Als die Flugzeuge in die Türme des WTC einschlugen, folgte auf einen kurzen Moment der Fassungslosigkeit die neokonservative Besinnung. Das geradezu klassische "Dilemma" einer Großmacht im Mittleren Osten aus symmetrischen Zeiten konnte nun asymmetrisch uminterpretiert werden. Bill Clinton hatte die Grenzen der amerikanischen Politik noch akzeptiert. Er betrachtete zwar den Status quo gleichfalls als unbefriedigend, sah aber keine Chance, diesen mit Aussicht auf Erfolg zu Gunsten der Vereinigten Staaten zu verändern. Die Neokonservativen denunzierten diese Strategie schon in den neunziger Jahren als "Ratlosigkeit" und verkündeten stattdessen ihr neues Evangelium der "Modernisierung" des Irak mit Hilfe von Besatzungstruppen. Gleichzeitig sollte die Verwestlichung des Islam via Bagdad das Problem des islamistischen Terrorismus lösen.
Kein Blut für Datteln!
An Münklers Analyse der strategischen Rahmenbedingungen der Vereinigten Staaten ist wenig auszusetzen. Höchstens an seiner Abwertung des Faktors Öl für den amerikanischen Entscheidungsprozess. Man hätte wohl kaum denselben Aufwand getrieben, wenn es in der Region statt Öl nur das zweitwichtigste Exportprodukt des Irak gegeben hätte - Datteln. Münkler macht allerdings den Fehler, zwei Faktoren - den symmetrischen Konflikt mit dem Irak und den asymmetrischen des Terrorismus - zu vermischen, die in der Realität nichts miteinander zu tun hatten. Der einzige Zusammenhang besteht darin, dass das pathologische Lösungskonzept der Neocons erst nach dem 11. September politische Durchschlagskraft gewinnen konnte. Andernfalls hätten sie dasselbe Schicksal erlitten wie General Douglas MacArthur während des Koreakrieges. Sein Vorschlag, Atombomben gegen die Volksrepublik China einzusetzen, war nicht die Idee eines verrückt gewordenen Einzeltäters. Die Pathologie entsprang der damaligen Realitätswahrnehmung. Die kommunistische Herausforderung war zu einer Europa, Asien und Amerika verschlingenden Bedrohung mutiert. MacArthur und seine Bundesgenossen waren fest davon überzeugt, dass dieser kommunistische Vormarsch nur noch mit dem Einsatz von Nuklearwaffen zu stoppen sei.
Heute heißt die gleiche Konstellation "islamistische Bedrohung" und "Präventivkrieg". Allerdings ohne einen Harry S. Truman im Weißen Haus, der den Spuk mit dem Rausschmiss des Generals beendete. Was Münkler eher analytisch entwickelt und nicht ohne Bedauern ausspricht, formuliert Sofsky wesentlich drastischer. Die Pathologie der Neokonservativen ist auch seine. Für ihn "entbehrt der Präventivkrieg" nicht "der Rationalität". Er sieht ihn als eine "probate Strategie der Hegemonie. ... Die Präventivstrategie will den Gegner von nichts überzeugen, sie will ihn tatsächlich entwaffnen und ein für allemal außer Gefecht setzen" (Sofsky). Dass der ursprünglich symmetrische Staatenkrieg mittlerweile in den befürchteten asymmetrischen Krieg der Terroristen umgeschlagen ist, macht den Irrsinn komplett. Die Präventivkriegstrategie ist nicht nur nicht die Lösung - sie schafft erst die Probleme, die sie zu lösen vorgibt.
Keine Kriege ohne Staaten
Darin liegt die epochale Bedeutung des Irakkrieges: dass ein MacArthur die Gelegenheit bekommt, die Richtlinien der Politik zu bestimmen. Die juristischen Kollateralschäden neokonservativer Pathologie werden von Münkler und Sofsky überbewertet. Zwar hat die Entwicklung, das Gewaltverbot der UN-Charta (unter anderem durch die Legitimierung der "humanitären Intervention") zunehmend auszuhöhlen, mit der Präventivkriegsdoktrin eine neue Qualität gewonnen. Genauso erodiert mit der neuen Doktrin ohne Zweifel das völkerrechtliche Verbot des Angriffskrieges. Aber es gibt, anders als beide Autoren vermuten, keine prinzipielle Veränderung im Spannungsfeld von Recht und Politik. Die Akteure blieben im Irakkrieg Staaten - trotz privater Kriegsunternehmer wie Osama bin Laden. Wobei selbst dieser für seine Angriffe die logistische Unterstützung eines Staates namens Afghanistan brauchte. Der Angriff auf Afghanistan nach den Anschlägen vom 11. September 2001 war völkerrechtlich unumstritten, politisch legitim und militärisch gerechtfertigt. Wäre der Irak in gleicher Weise in die Anschläge verwickelt gewesen, wäre dies ein klassischer Kriegsgrund - auch für Deutschland - gewesen.
Die Regierung Bush versuchte dem Irak eine Verbindung zu El Kaida und den Besitz der bis heute nicht gefundenen Massenvernichtungswaffen nachzuweisen. Offensichtlich betrachteten die Vereinigten Staaten und Großbritannien diesen Nachweis als völkerrechtliche Voraussetzung für das Agieren am Persischen Golf. Heute erlebt Tony Blair - um es diplomatisch auszudrücken - die innenpolitischen Folgen seiner zweifelhaft gewordenen Argumentation. Dieses Problem hat George Bush zwar noch nicht, weil die Amerikaner einstweilen von den Anschlägen am "Nine-Eleven" paralysiert bleiben. Der überzeugte Pro-Amerikaner weiß aber, dass dieser Zustand kognitiver Dissonanz in der amerikanischen Öffentlichkeit nicht ewig andauern wird. Warum sollten die Vereinigten Staaten einen solchen Aufwand zur Legitimation ihrer Irakpolitik betrieben haben, wenn sie nicht genau gewusst hätten, dass sie sich ein Handeln wie weiland die deutsche Axt im völkerrechtlichen Wald nicht leisten konnten?
Seit 200 Jahren Überraschung und Empörung
Münkler sieht dagegen eine "Tendenz zur Tribunalisierung der internationalen Politik" und spricht von der "Aushebelung institutioneller Regelungen und Bindungen (des Völkerrechts) durch die Inszenierung von Medienkampagnen". Was Münkler allerdings nicht realisiert: Die Show fand im UN-Sicherheitsrat statt. Darüber hinaus verzichteten die Vereinigten Staaten und Großbritannien nach dem Scheitern einer weiteren kriegslegitimierenden Sicherheitsrats-Resolution im März 2003 keineswegs auf jede völkerrechtliche Legitimation. Sie beriefen sich auf die Sicherheitsrats-Resolution 1441 vom November 2002. Nach einem mühseligen diplomatischen Tauziehen war eine Formulierung zugelassen worden, die im Sinne der Kriegsbefürworter interpretiert werden konnte. Wenn auch zu diesem Zeitpunkt alle Akteure hofften, sich mit ihrer Interpretation am Ende politisch durchzusetzen. Die rechtliche Interpretation war ein Teil der politischen Auseinandersetzung um den Krieg. Weder das Völkerrecht noch die Vereinten Nationen konnten den Konflikt lösen. Wohl wahr.
Sie waren lediglich Foren der Konfliktbearbeitung und keine Gerichte zur Entscheidungsfindung. Für Wolfgang Sofsky jedoch sind diese Mechanismen der internationalen Politik schlicht unverständlich. Er tituliert die UN als das, was sie nun einmal sind: ein "Weltforum". Sie pflege sich das "Monopol über die Gewalt anzumaßen", höhnt er, und habe sich wieder einmal als "Gremium unverbindlicher Selbstdarstellung und hegemonialer Weltpolitik" erwiesen. Das ganze Verfahren im Weltsicherheitsrat sei von Anfang an vom "Verdacht der politischen Inszenierung" überschattet worden. Die Fakten sorgen schon seit 200 Jahren in den Wäldern Germaniens, wo als verfeindete Stämme Idealisten und Realisten hausen, für Überraschung oder Empörung. Je nach Standort. Beide sehen vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Das Völkerrecht war noch nie mehr als die rechtliche Kodifizierung politischen Handelns. Staaten halten sich freiwillig an die vereinbarten Normen. Allerdings nur solange, wie keine fundamentalen Interessen berührt werden, die zum Konflikt führen. Dann sind die Interpretationskünste der Juristen und die Schachzüge der Diplomaten gefragt. Die Idee, dass das Völkerrecht die Handlungen der Politik bestimmen könnte, ist richtig - solange es sich die Politik nicht anders überlegt. Es ist eine intellektuell wenig anspruchsvolle Übung, dem Völkerrecht seine fehlende Durchsetzbarkeit und den Vereinten Nationen ihre politische Irrelevanz nachzuweisen. Beides liegt in der Natur der Sache namens Staatensystem. Das wird sich erst ändern, wenn im Weltstaat das Völkerrecht zum innerstaatlichen Recht und der Krieg zur Kriminalitätsbekämpfung wird. Aber die Grenzen zu bestimmen, heißt eben nicht, die Möglichkeiten zu leugnen. Das ist der Fehler.
Colin Powells schöne Augen
Münkler und Sofsky fallen ihrer eigenen Analyse - und der amerikanischen Propaganda - zum Opfer. Sowohl was die Bedeutung der Vereinten Nationen und des Völkerrechts betrifft als auch im Hinblick auf die Politik der Kriegsgegner in der Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten. Zwar hatte George Bush vor dem Irakkrieg keine Gelegenheit ausgelassen, die "Irrelevanz" der Vereinten Nationen zu betonen, wenn sie sich nicht den Vorstellungen der Vereinigten Staaten im Irakkonflikt beugten. Tatsächlich aber agierte er bis zuletzt in deren Rahmen. Was wohl nicht nur mit den schönen Augen oder den idealistischen Weltvorstellungen des angeblichen Multilateralisten Colin Powell zu tun hatte. Von fragwürdigem Wert ist also Münklers Aussage, die "Zukunft der UNO" hänge davon ab, ob ihre Mitglieder bereit seien, die Ausnahmestellung der Vereinigten Staaten zu akzeptieren und sich auf eher symbolische oder mit großen Spielräumen ausgestattete Fesseln der Weltmacht zu beschränken. Alles andere dürfte auf die Selbstzerstörung der Vereinten Nationen hinauslaufen. Die Zukunft der Vereinten Nationen hing schon immer davon ab, dass sie sich nicht den realen Machtverhältnissen widersetzten, sondern sie widerspiegelten. Das galt zu Zeiten des Kalten Krieges genauso wie heute. Die tägliche Dosis "Irrelevanz" gab es für Deutschland und Frankreich durch US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld.
Zwar übte sich die US-Administration in der Kunst der Demütigung mit Mitteln der Diplomatie - eine Disziplin, die im einst von Bismarck versehenen Auswärtigen Amt wohl vergessen worden ist. Die Vereinigten Staaten beendeten jedoch in keiner diplomatischen Sekunde den politischen Verkehr mit den gescholtenen Verbündeten. Was man von einem übermächtigen Hegemon doch wohl erwarten könnte. Die renitenten Europäer waren außerdem so "irrelevant", dass man die Irrelevanz jeden Tag ausdrücklich betonte. Im Übrigen vermied man sorgsam jeden Anschein des Bruches. Was die Franzosen nicht störte, eher in ihrer Haltung bestärkte, geriet allerdings in Deutschland zur Identitätskrise. Der Wind aus Washington via "altes Europa" wurde hier zum Sturm, der mit der Opposition reihenweise Leitartikler aus den Schuhen kippen ließ. Das alte Bonmot Winston Churchills, "Die Deutschen hängen dir entweder an der Kehle, oder sie liegen dir zu Füßen", verwirklichte sich im Typus Angela Merkel. An der Kehle von Donald Rumsfeld ist sie dabei nicht gesichtet worden.
Der Hegemon als Feldwebel
Zu falschen Schlussfolgerungen kommen selbst brillante Intellektuelle wie Münkler und Sofsky, wenn die Prämissen ihres Denkens verfehlt sind. Diese drehen sich um die Hegemonie der Vereinigten Staaten im internationalen System. Ohne Zweifel sind die Vereinigten Staaten nach allen relevanten Kriterien die bedeutendste Nation der Welt: politisch, ökonomisch, militärisch und kulturell. Das heißt aber eben nicht, dass sie wie ein Feldwebel auf dem Exerzierplatz als Hegemon auf der Weltbühne agieren könnten. Genau diesen Eindruck aber vermittelt Sofsky. Er analysiert die irakische Despotie Saddam Husseins und die Funktionsmechanismen eines totalitären Staates. Dieselben Regeln findet man verblüffenderweise auch in seiner Analyse der amerikanischen Hegemonie wieder.
Die Verhaltensweisen des Bürgers gegenüber dem Diktator in der Despotie ähneln denen der anderen Mächte gegenüber dem Hegemon im internationalen System. Unterwerfung oder Anpassung sind die Alternativen. Bei unbotmäßigem Verhalten droht die Bestrafung - entweder durch den Verlust des Schutzes der Vormacht oder durch militärische Unterwerfung im Falle des Aufbegehrens. Die Hegemonie ist bei Sofsky eine Form der Despotie bei der man bestenfalls auf den guten Diktator hoffen kann: "Übermacht erlaubt Willkür, aber sie fordert höchste Verantwortung. Eine Politik des Konsens, wie sie von den Mindermächtigen wortreich proklamiert wird, ist für die Supermacht eine Zumutung. Allenfalls ist von ihr ein aufgeklärter Machtgebrauch zu erwarten." Münkler teilt zwar die Prämissen Sofskys, aber er erkennt das entscheidende Problem: "Eine solche Entwicklung wird nur dann vermieden werden können, wenn die USA schon bald auf dem gegenwärtig beschrittenen Weg, bevorzugt auf die harten Faktoren der Macht ... zu setzen, scheitern und sich wieder stärker auf die weichen Machtfaktoren ... besinnen."
Der Wahn hat einen Namen
Diese Entwicklung wird schneller eintreten als man noch vor wenigen Wochen glaubte. Irgendwann wird jede pathologische Lösung von der Realität widerlegt. Im Irak ist es der Versuch, mit Besatzungssoldaten fünf Jahrhunderte europäischer Geistesgeschichte zu ersetzen. Dieser Wahn hat einen Namen: Nation building by eggheads. Made in Washington, D. C. Wobei das keinen Trost bedeutet. Die Folgen müssen Europäer und Amerikaner gemeinsam ausbaden. Die Frage nach dem Hegemon dürfte sich dann in der Rückschau als irrelevant erweisen. Weder Herfried Münkler noch Wolfgang Sofsky hat diese Entwicklung ausgeschlossen. Das spricht für beide Autoren. Trotz aller Kritik: Besseres kann man über ein Buch nicht sagen.