So kommt die SPD wieder in die Mitte der Gesellschaft

Wenn die Sozialdemokratie erneut erfolgreich sein soll, dann muss sie ihre Werte erkennbar leben und enge Verbindungen zur Lebenswirklichkeit der Menschen knüpfen. Allein daraus erwachsen Glaubwürdigkeit und Vertrauen - Schritt für Schritt

„Progressives tend to believe that people vote on the basis of lists of programs and policies. In fact, people vote based on values, connection, authenticity, trust, and identity.“
George Lakoff, Thinking Points: Communicating Our American Values and Vision (2006)

Die deutsche Sozialdemokratie hat im vergangenen September eine historische Niederlage erlitten. Mit einem Verlust von zehn Millionen Wählerinnen und Wählern seit 1998 haben wir die Hälfte unserer Anhängerschaft verloren. Ähnlich geht es fast allen sozialdemokratischen Parteien in Europa. Daran zeigt sich ganz deutlich: Die Menschen wissen nicht mehr, wofür die Sozialdemokratie heute steht.  

Die Gründe für diesen Niedergang der Sozialdemokratie in vielen Ländern Europas, auch in Deutschland, liegen nicht in einzelnen, schwierigen Beschlüssen, die uns von unserer Wählerschaft entfernt haben. Wer das meint, unterliegt dem Irrglauben, man müsse der politischen Mitte in Deutschland hinterherjagen. Doch die politische Mitte ist kein fester Ort, sie bestimmt sich nicht soziologisch, sondern über die Deutungshoheit in der Gesellschaft.

Diese Deutungshoheit oder auch kulturelle Hegemonie hat die SPD mehrfach gewinnen können, in den siebziger Jahren mit Willy Brandt, später mit Helmut Schmidt und mit Gerhard Schröder. Die SPD hatte die Mehrheit in unserem Land hinter sich und stand damit fest in der Mitte der Gesellschaft. Auf dem Weg dahin hatte sie die Menschen mitgenommen, sie überzeugt und dann Schritt für Schritt Mehrheiten gewonnen. Die Mitte war links, weil wir sie verändert haben. Doch statt die Mitte zu verändern, haben wir uns in den letzten Jahren verändert. Wir haben uns schrittweise der herrschenden Deutungshoheit angepasst, und mit uns viele andere sozialdemokratische Parteien in Europa. Die zentrale Lehre aus der Wahlniederlage ist, dass wir uns nicht anpassen, sondern um unsere eigene Deutungshoheit kämpfen müssen.

Wie kommt die SPD wieder in die Mitte der Gesellschaft? Bei George Lakoffs Satz geht es nicht allein um eine wirksamere Kommunikation. Notwendige Voraussetzungen für künftigen Erfolg sind klare Werte und eine enge Verbindung zur Lebenswirklichkeit der Menschen. Daraus erwachsen Glaubwürdigkeit und Vertrauen – Schritt für Schritt. Wenn klar ist, wofür wir stehen, wenn wir in der Lage sind, eine glaubwürdige sozialdemokratische Geschichte zu erzählen als Gegenstück zur Erzählung der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, die sich bei den Bürgern – auch weil sie auf einen Bierdeckel passt – als vermeintlich einzig wahre Geschichte festgesetzt hat, dann schaffen wir ein neues Hoffnungsprojekt für die Menschen, die es besser haben wollen für sich und ihre Kinder. Dabei geht es nicht um Steuersenkungen, Investitionsprogramme, Stufen- oder Lineartarife. Wir müssen klar machen, welche Werte uns leiten, wenn wir Politik machen. Und die Menschen müssen sie in unserem Reden und Handeln auch wiedererkennen. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als gleichrangige Grundwerte – das zeichnet auch heute noch unser Gemeinwesen aus. Und dafür steht die SPD.

Bei den Werten gibt es klare und konkrete Unterschiede. FDP-Generalsekretär Christian Lindner hält den Staat für einen „teuren Schwächling“. Das ist nicht unsere Perspektive. Der Staat steht uns nicht gegenüber und nimmt uns nichts weg. Der Staat ist unser Staat. Was wir ihm geben, nutzt er dazu, um aufzubauen, was wir uns privat nicht leisten können: Kindergärten, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Polizei, Verkehrswege. Der Staat ist dem Gemeinwohl verpflichtet, nicht Einzelinteressen, so finanzkräftig sie auch sein mögen. Wer arm ist, wird deshalb nicht krank, und wer krank ist, wird deshalb nicht arm. Auch das ist ein Wert, der uns fundamental von denen unterscheidet, bei denen die Privaten Krankenkassen die Gesundheitsreform diktieren und im Gegenzug deren Parteimitgliedern Rabatte anbieten. So unverhohlen agiert eine Partei, die sich „liberal“ nennt!

Wo man Klientelpolitik betreibt, herrschen völlig andere Werte

Die Freiheit, dass jede und jeder etwas aus seinem Leben machen kann, bedeutet für uns zugleich Verantwortung füreinander: Solidarität. Wer auf Hilfe angewiesen ist, muss sicher sein können, dass er diese Hilfe auch bekommt. Dafür sind die Menschen auch bereit, Leistung zu bringen und sich nach ihren Möglichkeiten solidarisch an der Finanzierung zu beteiligen.

Wir setzen uns dafür ein, dass die Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen mehr Geld in der Tasche haben, ob mit Tarifpolitik, Mindestlöhnen oder mit geringeren Sozialabgaben. Wir sollten unser Ziel klar machen und nicht unseren Ehrgeiz darauf ausrichten, dass jeder jede einzelne Maßnahme verstanden hat. Wo man stattdessen Steuererleichterungen  verspricht und dann nur die eigene Klientel profitieren lässt, während den allermeisten Menschen am Ende durch höhere Beiträge und Abgaben weniger netto bleibt – da herrschen völlig andere Werte. Weder Freiheit noch Gerechtigkeit. Und schon gar nicht Solidarität.

Wir wollen, dass sich die Besserverdiener deutlich stärker an der Finanzierung des Staates beteiligen. Denn beispielsweise die finanzielle Auszehrung der Kommunen trifft unsere Gesellschaft ins Mark. Die Menschen brauchen in einer sich rasant ändernden Welt ihre Stadt, ihre Gemeinde als Ort, wo sie sich sicher und wohl fühlen können. Was vor Ort geschieht ist oft viel wichtiger als viele Gesetze, die wir in Berlin beschließen, wenn es um Integration geht, um Betreuung und Hilfe, um Bildung – aber das alles kostet Geld.

Aus seinem Leben etwas machen kann nur, wer die Chance auf Bildung hat. Uns fehlen in Deutschland jedes Jahr 25 Milliarden Euro im Bildungssektor, um wenigstens wieder auf den Durchschnitt der Industrienationen zu kommen. Stattdessen verkleinert die Bundesregierung den finanziellen Spielraum bei Ländern und Schulträgern um jährlich fast 10 Milliarden Euro. Wir sollten für möglich halten, dass dies absichtlich geschieht.

Die SPD hat in ihrer Geschichte schlimmere Krisen durchlebt als die vom September 2009. Die Sozialdemokratie hat immer wieder die Kraft für einen neuen Aufbruch gehabt und ist als starke und selbstbewusste und auch als erfolgreiche Partei daraus hervorgegangen. Wir müssen unsere Werte leben und Nervenenden in alle Teile der Gesellschaft wachsen lassen. Wir müssen die Mitte verändern. Dann werden wir auch wieder neues Vertrauen und neue Glaubwürdigkeit erringen.

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität müssen nicht nur in politische Vorhaben abgeleitet werden. Sie müssen im Leben der Menschen spürbar werden, Hoffnung und Aufstiegschancen müssen Abstiegsangst und Hoffnungslosigkeit ablösen. Darum werden wir uns in den nächsten Jahren kümmern.

In ihrer ersten Ausgabe vor zehn Jahren machte sich die Berliner Republik (Heft 1/1999) Gedanken darüber, wie wohl „die/der ideale Parteivorsitzende“ aussehe. Erwartungsvoll fordernd schrieb damals Christian Lange: „Er muss bereit sein, aus den Einzelanforderungen seine eigene Linie zu definieren, und dazu in der Lage sein, sich Verbündete zu suchen, um sich allmählich die Gefolgschaft der Partei zu sichern.“ Diese werde ihm dafür „Achtung“ und „Liebe“ versprechen. Mir wäre schon mit einem gedient, zu dem ich meinen Teil gerne beitragen will: „Beide, Partei und Vorsitzender, müssen nun lernen – angesichts der harten Wirklichkeit – Solidarität zu leben.“«





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