Soziale Politik statt Rückkehr zum Nationalen
In der vergangenen Ausgabe der Berliner Republik hat Fritz W. Scharpf die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWU) einer Radikalkritik unterzogen. So sehr ich ihn schätze, muss ich dagegen halten: Scharpf geht von einer falschen Prämisse aus, bemüht erneut die unhaltbare These von der gegen deutschen Willen erzwungenen Währungsunion, adelt Schlampereien der verantwortlichen Politiker zu „strukturellen Mängeln“ der EWU und endet mit der Empfehlung, das Rad einfach um mehr als ein Jahrzehnt zurückzudrehen. Damit würde man Europa in der Tat zerstören und die Völker für lange Zeit in genau jenen bitteren Konflikt stürzen, den Scharpf vermeiden will.
Wenn Scharpf dem Euro die Schuld an der Finanzkrise gibt, geht das an den Tatsachen vorbei. Die Finanzkrise hat Mitte 2007 begonnen, als die schwelende Subprime-Krise in den USA offen ausbrach und die Banken sich aus Misstrauen gegeneinander kein Geld mehr liehen. Auf die Subprime-Krise einzugehen, führt hier zu weit. Nur in Stichworten die wirklichen Ursachen der Finanzkrise: liederliche Kreditvergabe durch amerikanische Banken; der Versuch des amerikanischen Staates, die skandalös ungerechte Einkommens- und Vermögensverteilung mit dem illusorischen Mittel des Immobilienerwerbs für alle zu kaschieren. Und vor allem: Die entwickelten Länder haben viele Jahre lang darauf verzichtet, ihre Pflicht wahrzunehmen und die Rahmen-bedingungen für den Finanzsektor zu setzen. Das finanzielle Atomkraftwerk wurde sich selbst überlassen, bis es zur Schmelze kam. Viele Banker und Politiker, denen Scharpf noch nicht einmal nahe steht, wird es freuen, dass er sie so fundamental von jeder Schuld entlastet. Doch wie man es auch dreht und wendet: Der Euro hat die Finanzkrise nicht ausgelöst.
Die Währungsunion ist auch nicht verantwortlich für eine verfehlte Wirtschaftspolitik in vielen Ländern. Richtig, wer einer einheitlichen Währung beitritt, verfügt nicht mehr über eine nationale Währung und kann deshalb auch keine Kurse mehr anpassen. Die Anpassung des Wechselkurses allerdings ist nicht das schmerzlose und sozialverträgliche Allheilmittel, zu dem es Scharpf stilisiert. Die Südländer, die ihre Währung zur Zeit des Europäischen Währungssystems I und II immer wieder gegenüber der D-Mark abwerteten, wurden dadurch nicht stärker. Im Gegenteil, sie fielen zurück.
Nominale (Wechselkurs-)Anpassungen vermeiden auch keine realen (Preis- und Lohn-)Anpassungen. Nach einer Abwertung sinken die Reallöhne aufgrund des Inflationsschocks schlagartig; die Verbindlichkeiten der Unternehmen und Finanzinstitute, die sich in Fremdwährungen finanziert haben, steigen sofort und üben weiteren Druck darauf aus, durch niedrigere Löhne die Wettbewerbsfähigkeit zu schützen. Wer leidet, sind die Arbeitnehmer, und zwar nicht weniger als im Falle einer Anpassung über Lohnverzicht. Der Chef des Bruegel-Instituts, Jean Pisani-Ferry, vergleicht eine Abwertung sehr plastisch mit der Sommerzeit: Statt die Sommerzeit einzuführen, könnten auch alle Unternehmen, Schulen, Verwaltungen, Verkehrsbetriebe individuell beschließen, eine Stunde früher anzufangen. Die Zeitumstellung vereinfacht das. Sie enthebt uns aber nicht des Zwangs, eine Stunde früher aufzustehen.
Früher aufstehen hätte geholfen
In der Tat, die Länder, die heute unter einer Zahlungsbilanzkrise leiden, hätten – im übertragenen Sinn – schon vor Jahren früher aufstehen müssen. Anders gesagt: Sie hätten ihre Bildungssysteme renovieren, ihre Berufsausbildung verbessern, mehr in Forschung und Entwicklung investieren und eine maßvolle Lohnpolitik betreiben müssen. Die Warnlampe der Zahlungsbilanz war übrigens nicht, wie Scharpf behauptet, durch den Euro ausgeschaltet. Sie leuchtete in Griechenland, Portugal, Spanien et cetera sehr hell. Aber die verantwortlichen Politiker taten so, als könnten sie das wachsende Defizit ignorieren. Die Überschussländer wie Deutschland hingegen waren froh, ihre Mittel in den auf Kredite angewiesenen Ländern anlegen zu können. Das Ganze ging so lange gut, bis die – notorisch unvernünftigen und sehschwachen – Kapitalmärkte schlagartig das Vertrauen verloren, es könnte ein gutes Ende nehmen. Dann reagierten sie plötzlich mit Kreditverknappung. „Sudden stop“ nennen die Ökonomen, was irreführend in böse Spekulation umgedeutet wird.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hätte rechtzeitig einschreiten müssen. Nicht etwa ihr Mandat hat sie daran gehindert – dieses verpflichtet sie ja gerade dazu, zur makroökonomischen Stabilität des Euroraums beizutragen –, sondern ihre Schludrigkeit, Bequemlichkeit, übermäßige Nähe zu den Banken, teils auch neoliberales Mainstreamdenken. So wurde die EZB immer wieder auf die Immobilienblase hingewiesen, die sich in Spanien und Irland bildete. Gewarnt wurde rechtzeitig, aber es geschah nichts. Dabei hätte man die Kreditbedingungen in den betreffenden Ländern verschärfen, die absurde Steuerförderung der Immobilien(spekulation) einstellen und – vor allem – auf die Gefahr hinweisen können. Nichts von dem geschah, weder seitens der EZB noch der EU-Kommission oder des Finanzministerrats Ecofin.
Dies im Nachhinein damit zu entschuldigen, in einer Währungsunion müsse es ja so zugehen, ist bestenfalls ein großes Missverständnis. Ein einheitlicher Währungsraum befreit niemanden von der Pflicht, im eigenen Land nachhaltig zu wirtschaften, statt Brandrodung zu betreiben. Aber nach der Einführung des Euro haben leider alle Beteiligten so gehandelt, als hätten sie einen Freibrief für ein wirtschaftspolitisches Hütchenspiel. Es ist übrigens nicht so, dass die deutsche Stabilitätspolitik in Spanien oder Frankreich sonderlich unbeliebt wäre. Im Gegenteil. Spricht man mit den Menschen in diesen Ländern, kommt ein robuster Realismus zum Vorschein. „Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt“, hört man ständig. Unpopulär sind allerdings die Versuche von Teilen der deutschen Politik und Öffentlichkeit, von der Währungsunion zu profitieren, die Partner aber hängen zu lassen, wenn es ernst wird. Dabei profitiert Deutschland, dessen Steuerzahler angeblich so furchtbar unter den Rettungsschirmen leiden, auch heute noch, und zwar durch extrem niedrige Zinsen. Durch sie sparen wir in den nächsten Jahren zig Milliarden beim Schuldendienst.
Droht uns die »Fremdherrschaft«?
Erst jetzt beginnt die Eurozone, die Konsequenzen zu ziehen und den Rahmen für eine koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik zu setzen. Nur diese kann Vertrauen wiederherstellen. Notwendig ist aber mehr als ein unverbindliches Palaver über nationale Stabilitätsprogramme. Wir brauchen einen Euro-Finanzminister, beziehungsweise, bis es endlich soweit ist, eine „Wirtschaftsregierung“ für den Euroraum, die auf Verstöße gegen vertragliche Verpflichtungen hinweist und Abhilfe verlangt. Die von Scharpf kritisierten Sixpack-Maßnahmen sind Schritte auf diesem Weg. Ein europäischer Finanzminister kann, da hat Scharpf recht, kein Beamter sein. Er muss vielmehr ein gewählter, dem Parlament verantwortlicher und rechenschaftspflichtiger Politiker sein.
Dagegen bemüht Scharpf das Gespenst der Vereinheitlichung, ja sogar das schlimme Wort von der „Fremdherrschaft“. Nur in einer Klammer gesagt: Ich hätte nicht gedacht, dass ein progressiver deutscher Intellektueller im Jahre 2012 im Zusammenhang mit europäischer Politik von Fremdherrschaft sprechen könnte. Das ist nicht politically incorrect, sondern viel schlimmer. Es ist historisch überholte nationale Melancholie.
Pfälzer Leberwurst gibt es immer noch
Gemeinsame europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik zielt nicht auf Feinregulierung und one size fits all. Die ganze Binnenmarktlogik ist ja nicht, wie Margaret Thatcher in den achtziger Jahren behauptet hat, auf Vereinheitlichung aus, im Gegenteil: Sie etabliert das Prinzip, dass viele Wege zum Glück – oder nach Rom – führen. Bis zum Beginn des Binnenmarkts durften in Deutschland keine französische Paté und kein belgisches Bier verkauft werden. Heute ist das selbstverständlich, trotzdem gibt es noch Pfälzer Leberwurst und Bier nach dem Reinheitsgebot.
Eine gemeinsame Finanzpolitik wird weder die deutsche und die spanische Kommunalverwaltung vereinheitlichen, noch das deutsche Schulwesen dem italienischen angleichen. Aber sie wird verhindern, dass einzelne Regionen über Jahre hinweg ihre Wettbewerbsfähigkeit vernachlässigen im Vertrauen darauf, dass sie schon von irgendjemandem aufgefangen werden. Oder dass ein Land wie Italien seine Verschuldung nicht reduziert. Oder dass die spanische Zentralbank alle Augen zudrückt, während die Sparkassen aufgrund ihrer Schrottimmobilien untergehen.
Ein Wort noch zum Ursprung der Währungsunion, der mit der Wiedervereinigung nun wirklich nichts zu tun hat, auch wenn Scharpf diese moderne Dolchstoßlegende erneut bemüht. Im Jahr 1970 legte Luxemburgs Premieminister Pierre Werner einen Plan für eine Währungsunion vor, aus dem nichts wurde, weil es keinen festen Zeitplan gab. Am 24. März 1987, also zweieinhalb Jahre vor dem Fall der Mauer, griff Hans-Dietrich Genscher als bundesrepublikanischer Außenminister die Idee wieder auf und schlug vor, das EWS in Richtung Währungsunion weiterzuentwickeln. Ein paar Monate später, die Mauer stand immer noch betonfest, legte er sein „Memorandum für die Schaffung eines europäischen Währungsraumes und einer Europäischen Zentralbank“ vor. Es gab keinen Konnex zur Wiedervereinigung (an die damals niemand mehr wirklich glaubte), wohl aber zur Liberalisierung des Kapitalmarkts, die im vollen Gang war.
Allen Experten war klar, dass die Liberalisierung der Kapitalbewegungen, die 1988 trotz französischer Bedenken beschlossen wurde, das Risiko spekulativer Turbulenzen verstärkte. Europas Währungsvielfalt war überholt, weil sie den Binnenmarkt ohne Grenzen in Gefahr brachte. Helmut Kohl machte sich Genschers Vorstoß mit einer Regierungserklärung am 24. Juni 1988 zu eigen. Der Hannover-Gipfel der EU berief wenige Tage später den von Jacques Delors geleiteten Ausschuss zur Vorbereitung der Währungsunion ein. Wir sollten das Märchen, Frankreich habe nach dem Fall der Mauer 1989 der Bundesrepublik die Währungsunion abgepresst, endlich vergessen.
Gibt es eine Alternative zur Währungsunion? Scharpf fällt auch nur das ein, was alle anderen Fundamentalkritiker vorschlagen: Zurück auf Los, zurück zu einem System anpassbarer Wechselkurse. Das funktionierte schon in den achtziger Jahren nicht mehr. Die Unternehmen sind in der Eurozone teilweise enger vernetzt als in einzelnen Mitgliedsstaaten. Währungsschwankungen verhindern diese integrierte Produktion.
George Soros hat das Pfund 1992 aus dem Europäischen Währungssystem herausgeschossen, indem er mit Milliardenaufwand darauf wettete, dass die Bundesbank und die Bank of England den Wechselkurs nicht verteidigen würden. Anschließend flogen andere Länder heraus, zerbrach das EWS: Die Schwankungsmarge der Kurse wurde auf 15 Prozent heraufgesetzt, das faktische Ende fester Wechselkurse. Heute ist die Feuerkraft der privaten Anleger noch wesentlich größer. Sollten die festen, aber anpassbaren Wechselkurse irgendeine Glaubwürdigkeit haben, müssten sie mit unbegrenzten Beistandsverpflichtungen der teilnehmenden Staaten unterlegt sein. Auch das wäre eine Einladung zur Spekulation dagegen – und pikanterweise ein noch kostspieligerer Rettungsschirm als alles, was wir uns heute mit EFSF und ESM leisten.
Was der Virus des Nationalen zerstört
Politisch würde die Rückkehr zu einem Wechselkurssystem ins Desaster führen. Das EWS hatte sich auch deshalb überlebt, weil in ihm die Zentralbank des größten Staates, die Bundesbank, alleine den Ton angab. Alle anderen Teilnehmer waren dazu verurteilt, der Geldpolitik der Bundesbank zu folgen, im Guten wie im Schlechten, ohne Einfluss nehmen zu können. Wer glaubt, er könne die Euro-Partner von heute auf diesen Status zurückwerfen, ohne schwerste politische Konflikte auszulösen, verkennt die Realitäten: Die Partner, die aus der Währungsunion hinauskomplimentiert würden, wären keinesfalls glücklich darüber, sich im Motorraum einer MS Europa wiederzufinden, auf deren Kommandobrücke allein die Bundesbank schaltet und waltet. Attraktiver wird es selbst dann nicht, wenn Scharpf den neuen Unterlingen von den Vorzügen vermeintlicher nationaler Souveränität vorschwärmt.
Deutschland stünde als das Land da, an dessen Egoismus die Währungsunion zerbrach. Für die Partner würde sich die Realität so darstellen: Sie müssten der Geldpolitik der Bundesbank folgen, hätten aber keinen Einfluss. Wie heute in der Währungsunion müssten sie ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen, durch Lohnanpassung und Strukturreformen. Allerdings ohne Beistand von außen, aus dem Deutschland sich herausgewunden hätte. Zum Hohn würde ihnen das à la Scharpf auch noch als Wiedergewinn der Freiheit verkauft. Europa würde zum schnellen Brüter für Nationalisten. Die wirtschaftlichen Verluste für Deutschland, nicht allein durch Exporte, sondern mehr noch durch die unvermeidliche Rückabwicklung des Binnenmarktes – Länder mit Zahlungsbilanzproblemen würden sofort Handelshemmnisse einführen – sind mittlerweile zur Genüge beschrieben worden.
Eine Frage zum Schluss: Warum gewinnt die Rückkehr zur (illusorischen) nationalen Souveränität auch unter Menschen, die sich im weitesten Sinne als progressiv verstehen, an Attraktivität? Wohl auch deshalb, weil wir über Jahre zu viel von nationalen Interessen und zu wenig von sozialen Interessen in Europa geredet haben. Die Folge ist auch bei den Programmen für die Krisenländer zu beobachten: Sie enthalten teilweise unvermeidliche Härten, glänzen aber auch durch Verzicht auf einen möglichen sozialen Ausgleich. Warum hat die EU nicht von Andorra, Liechtenstein, Monaco, Luxemburg, Österreich, den Kanalinseln und der Schweiz verlangt, die Identität der griechischen Steuerflüchtlinge umgehend preiszugeben? Deren Guthaben könnten einen gehörigen Teil der griechischen Auslandsverbindlichkeiten tilgen. Das wäre nicht nur angemessen, sondern würde auch eine völlig andere Akzeptanz der Anpassungsprogramme schaffen.
Nicht nur die EU ist blind dafür, sondern auch die sozialdemokratisch geführten Regierungen Europas, diejenige Griechenlands eingeschlossen, auch die Oppositionspartei SPD. In Deutschland gab es nach dem Krieg einen Lastenausgleich. In keinem Euro-Krisenland ist Ähnliches verlangt worden. Die europäischen Krisenländer und die Troika „ersparen“ ihren breiten Schultern, die mehr tragen könnten, diesen Beitrag. Aus den Regalen der OECD, die fälschlich als neoliberal beschimpft wird, kann man sich Modelle für Steuersysteme holen, die mit Substanzsteuern den Weg zur Steuerflucht verbauen. Niemand ist es eingefallen, darauf zurückzugreifen. Der Virus des nationalen Denkens zerstört nicht nur die Währungsunion. Er macht auch blind für die Möglichkeiten, sozialverträgliche Politik zu gestalten.