Tim Renners schmutzige Fantasie
Einen Insiderbericht über die Musikbranche hatte Tim Renner schon in den achtziger Jahren geplant: Damals wollte er im Stil von Günter Wallraff als Undercover-Journalist dort vermutete Machenschaften aufdecken. Stattdessen machte er dann ungeplant eine steile Karriere im „Schweinesystem“. Er stieg bis zum Geschäftsführer des größten Musiklabels in Deutschland Universal Music auf und machte sich anschließend mit seiner eigenen Firma Motor Entertainment selbständig. Renner baute Acts wie Rammstein, Element of Crime, Tocotronic und Sportfreunde Stiller mit auf. Zudem wurde der Studienabbrecher an der Mannheimer Popakademie zum Professor ernannt.
Wie die Grenzen verfließen
Nun hat er zusammen mit der DJane und Gründerin der Firma „s’läuft“, Sarah Wächter, sein Insiderbuch vollendet. Es geht vor allem um Musik, aber immer wieder kommt auch die Politik ins Spiel. Nicht nur, weil sich die Musikbranche natürlich immer wieder ordentlich Gehör auf politischer Ebene verschafft. Sondern auch, weil die Bedingungen für Erfolg in Musik und Politik oft erstaunlich ähnlich sind. Charisma und ein klares Rollenbild sind für beide Seiten unabdingbar. Wenn Bono Entwicklungshilfe betreibt und Barack Obama wie ein Rockstar an der Berliner Siegessäule empfangen wird, verfließen die Grenzen endgültig.
Wie schon bei Renners vorherigen Büchern ist der Titel Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten aus einem Song entliehen. Dieses Mal dem Refrain von „Trrrmmmer“ der Hamburger Gruppe Die Sterne. Der Titel spiegelt treffend die Stimmung in der Musikbranche wider. Denn schienen in den neunziger Jahren die Bäume in den Himmel zu wachsen, brachen im digitalen Zeitalter die Umsätze zunächst ein. Der Champagner ist leer, das Geld alle, man räumt in den Trümmern auf. Aber es darf wieder geträumt werden. Denn das Internet hat nicht nur alte Geschäftsmodelle hinweggefegt, sondern bietet auch viele neue Chancen, Musik zu produzieren, zu verbreiten und damit Einnahmen zu erzielen. Beispielhaft beschreiben die Autoren, wie die Manager des erfolgreichen Rappers mit der Panda-Maske Cro mit allen Lehrbuch-Regeln der traditionellen Vermarktung gebrochen haben und stattdessen in erster Linie auf Social Media setzten. So gab es für 100 000 Facebook-Likes einen kostenlosen Song – und sehr schnell hatte Cro 1,7 Millionen Facebook-Fans. Während der Sänger Sven Regener in seiner bekannten „Die pinkeln uns ins Gesicht“-Rede die Gefahren einer Umsonst-Kultur im Internet beschwört, weiß Cro es besser: Bezahlt wird im Netz immer, egal ob mit Daten, Zeit oder Geld für Premiumzugänge.
Wer die Branche verstehen will, muss wissen, wie emotional sie tickt. Renner und Wächter beschreiben Musiker und die Menschen hinter den Kulissen als Getriebene ihrer großen Liebe und Leidenschaft: „Musik ist reine Emotion. Wenn es ums pure Überleben geht, bringt sie einen kein Stück weiter. Allerdings ist ein Leben ohne Liebe und Musik nicht lebenswert.“ Und dann erläutern die Autoren, wie schon Föten durch ein Schlaflied Sicherheit und Wohlbefinden empfinden und dass fast jeder spätestens als Teenager über Musik Identität und Zugehörigkeit findet.
Das Buch lotet die Erfolgsfaktoren von Musikern aus. Ein historisches Verdienst des Rock’n’Roll sei es gewesen, Musik unabhängig von den Fesseln des Handwerks zu machen. Der näselnde Jan Delay, der knöldende Herbert Grönemeyer, der nuschelnde Udo Lindenberg und erst recht die häufig eher schreienden als singenden Rockinterpreten Till Lindemann, Farin Urlaub, Campino und Marius Müller-Westernhagen würden es mit ihrer Gesangstechnik niemals in den Recall einer Castingshow schaffen. Dennoch sind diese glorreichen Sieben seit langem Deutschlands erfolgreichste Sänger – im Gegensatz zu den zahllosen Casting-Sternchen, die innerhalb weniger Wochen wieder am Seicht-Pop-Himmel verglühen. Der Grund: Künstler müssen nicht höher, schneller und komplizierter singen können, sondern einen einzigartigen Ausdruck haben und wiedererkennbar sein.
Der Korbflechter von Rammstein
Aber auch die glorreichen Sieben der deutschen Musikszene waren nicht auf Anhieb erfolgreich. Beharrungsvermögen und Hartnäckigkeit waren notwendig. Im Buch erklärt der Manager einer wohlbekannten und anfangs erfolglosen Düsseldorfer Punk-Band trotzig: „Wir machten mit den Toten Hosen so lange immer wieder dasselbe, bis es jeder Verstanden hat.“ Auch Panikrocker Udo Lindenberg zeigte Steherqualitäten. Er war der Pionier der deutschsprachigen Rockmusik, bis ihm die jungen Wilden der Neuen Deutschen Welle die Butter vom Brot nahmen. Immer wieder verschwand er von der Bildfläche und kämpfte sich zurück. Anfang der neunziger Jahre wollte seine Plattenfirma sogar schon geflossene Vorauszahlungen abschreiben und den damals alkoholkranken Musiker vor die Tür setzen. Allein der zynische Kommentar aus der britischen Konzernzentrale – „Wer weiß, wie lange der noch lebt, und dann verkaufen wir die ganzen alten Platten“ – hielt das Management davon ab. Doch gleich mehrfach schaffte Lindenberg ein Comeback: Erst mit dem „Sonderzug aus Pankow“, dann mit „Stark wie Zwei“, und schließlich mit dem vom Drogentod einer Mitarbeiterin inspirierten „Horizont“-Song, der auch der Hit des gleichnamigen Musicals wurde.
Zum Lesevergnügen machen das Buch nicht zuletzt allerlei Anekdoten und Skurrilitäten aus der Branche. Der Frontsänger Till Lindemann von Rammstein ist ehemaliger DDR-Auswahlschwimmer, ausgebildeter Korbflechter und Inhaber eines Pyrotechnikerscheines. Die Toten Hosen besitzen eine Firma namens HkM (Heikes kleiner Musikverlag) und eine namens HnkakbsM (Heikes noch kleinerer, aber kein bisschen schlechterer Musikverlag). Ausgerechnet Baden-Württemberg besitzt eine eigene Rockstiftung. Die Jungs von Element of Crime schlugen sich am Anfang ihrer Karriere als Möbelpacker durch. Sie konnten damals nicht in ihrem Kreuzberger Heimatbezirk plakatieren, weil ihr Bassist Stütze kassierte und Angst hatte, das Amt würde ihn erkennen und sein Geld streichen.
Ein Schlüssel zum Erfolg in der Branche ist, wenig überraschend, Charisma. Charis – übersetzt „das Gottesgeschenk“ – stammt aus dem Griechischen. Und die Griechin Marion Aphrodite Gleiß, besser bekannt als Marusha, hat es definitiv. So ist sie bis heute eine der bekanntesten und erfolgreichsten Persönlichkeiten der Techno-Szene, obwohl es sicher zutrifft, was im Buch über sie steht: „Sie konnte keine Platten auflegen, sie konnte nicht produzieren, sie konnte nicht singen, sie hatte keine Ahnung von Journalismus.“ Ein Psychologie-Professor wird von Renner und Wächter mit den Worten zitiert: „Charismatische Personen empfinden besonders intensiv und sind in der Lage, auch andere starke Gefühle erleben zu lassen.“ Musik ist eben, wie die beiden Autoren schreiben, reine Emotion. Deshalb sei der aufbrausende Popstar, der auf der Tournee sein Hotelzimmer zerlegt, auch keine mediale Erfindung publicitygeiler Manager. Charisma und Kontrollverlust lägen tatsächlich dicht beieinander.
Ausstrahlung muss auch mit starken Bildern unterstrichen werden. Ausführlich wird dazu Bill Drummond porträtiert. Der hat nicht nur legendäre Alben und viele Hits hinterlassen, sondern sich auch visuell in die Musikgeschichte eingebrannt. So feuerte er bei der Verleihung der Brit Awards mit Zigarre im Mund und schottischem Kilt bekleidet aus einer Maschinenpistole Platzpatronen über die Köpfe der erschrockenen Gäste und erklärte später: „Eigentlich wollten wir literweise Schafsblut auf die Vertreter der Musikindustrie schütten, aber unsere Mitstreiter von Extreme Noise Terror waren Veganer.“
Guido und die situativen Gummistiefel
Je klarer ein Bild, desto besser. Das wissen auch die Meister der Visualisierung von Rammstein – und mussten schmerzhaft erfahren, dass dies ins Auge gehen kann. So schlugen bei Konzerten in Europa die Gitarristen mit großen Neonröhren auf den nackten Oberkörper ihres Sängers ein. Der spektakuläre Anblick ist hierzulande ungefährlich, weil die dünnen Leuchten implodieren. Bei einer Wiederholung in den Vereinigten Staaten gab es jedoch eine böse Überraschung. Die Röhren sind dort wesentlich dicker und stehen unter Druck. Doch der blutende, splitterübersäte Frontsänger zog die Show trotzdem bis zum Ende durch. Das ist eben das Erfolgsrezept von Rammstein, die dazu sagten: „Wir haben die kräftigen Männer aus Schwerin, die keine Angst davor haben, in die Steckdose zu fassen, und die Bandmitglieder aus Berlin, die wissen, was dann passiert.“
Erfolg gibt es auch in der Musik meist nur im Team. Und dafür bedarf es einer klaren Rollenaufteilung. Renner und Wächter nennen es das „Drei ??? Prinzip“: Einer bekommt die Aufmerksamkeit und die Mädchen, einer hält alle bei Laune und der Dritte zieht hinter den Kulissen die Strippen. In der Popmusik wurde das bereits von den Beatles unter Beweis gestellt: Paul McCartney als Sonnyboy, John Lennon als Intellektueller und Ringo Starr als Witzbold. Klare Reihenfolge, klare Anlaufstellen, klare Themensetzung.
Charisma, große Bilder, feste Rollenaufteilung – vieles, was in der Musikbranche Erfolg verspricht, scheint auch auf die Politik übertragbar. An einigen Stellen beziehen sich Renner und Wächter sogar direkt darauf. Dass beispielsweise effektvolle Bilder nicht immer mit Kalkül entstehen, wird mit Willy Brandts spontanem Kniefall in Warschau illustriert. Auch Guido Schmitz, der ehemalige Büroleiter von Gerhard Schröder, erzählt im Buch, wie die wahlmitentscheidenden Bilder vom Bundeskanzler in Gummistiefeln im Jahr 2002 situativ entstanden.
Provokation ist das Klappern, das in der Popbranche wie in der Politik zum Geschäft gehört. Renner und Wächter beschreiben, dass Künstler sich und ihre Musik emotional aufladen, indem sie das etablierte System angreifen. Normalerweise läuft dabei die Front „progressiv gegen konservativ“. Unvergessen sind die Sex Pistols, die das Thronjubiläum der britischen Queen mit „She ain’t a human being“ besangen und damit so lange vor dem House of Parliament plärrten, bis sie öffentlichkeitswirksam festgenommen wurden. Schlagerbarde Heino drehte den Spieß einfach um. Er coverte die härtesten Jungs der deutschen Musikszene, und sein Manager kam bei der Veröffentlichung des Videos „vor Angst fast um“, weil er angeblich bedroht wurde. Der „Aufstand der Rocker“ in der BILD-Zeitung war freilich inszeniert. Und vor allem erfolgreich: Das Album „Mit freundlichen Grüßen“ wurde die erste Nummer 1 in Heinos langer Karriere.
Klare Abgrenzung ist also hilfreich. Das wissen auch politische Parteien, schreiben Renner und Wächter: „Sie kommunizieren stärker über Feindbilder und Ängste denn über Visionen. Sei es der Verlust des Wachstums (CDU), die Unfreiheit via Regulierung (FDP), die soziale Ungerechtigkeit (SPD und Linke), die Umweltverschmutzung (Grüne) oder der Eingriff in die Möglichkeiten des Internets (Piraten). Es ist der ‚Feind‘, die vermeintliche Bedrohung und das Negativbild, das den Wähler anscheinend politisch am stärksten motiviert.“
Tim Renner, bitte übernehmen Sie!
Die politischen Bezüge des Buches kommen nicht von ungefähr. Renner beriet bereits Bundeskanzler Gerhard Schröder und hat später mit dem von ihm initiierten Kreativpakt Frank-Walter Steinmeier unterstützt. Mit „(Wir sind) Zuhaus“ war er für den erfolgreichen Wahlkampfsong der SPD verantwortlich – erlebte aber auch die nachgelassene Schlagkraft und Organisation der Parteizentrale. Zwischen den unterschiedlichen Machtzentren der Kampa verpuffte Renners Versuch, eine effektive virale Kampagne im Netz zum Song zu starten.
In einem Interview wurde Tim Renner kürzlich gefragt, ob er heimlich von einer späten Karriere als Rockstar träume. Doch das „Wunderkind der deutschen Musikbranche“ (stern) hat die aktive Karriere mit seiner Band „Quälende Geräusche“ bereits als Teenager an den Nagel gehängt. „Mein schmutzige Fantasie ist eher eine späte Karriere als Politiker“, antwortete er. Ein paar gute Ideen für die Politik hat er zweifellos.
Tim Renner und Sarah Wächter, Wir hatten Sex in den Trümmern und träumten: Die Wahrheit über die Popindustrie, Berlin: Berlin Verlag 2013, 336 Seiten, 16,99 Euro