Warum Deutschland Legitimitätsweltmeister werden muss
Das Restaurant Lenzig ist nur ein paar Schritte vom Schöneberger Rathaus entfernt, vor dem John F. Kennedy einst verkündete: „Ich bin ein Berliner“. Das kann Ben Scott seit 2012 auch über sich behaupten. Die Liebe hat den Amerikaner nach Berlin gebracht: Nach zehn Jahren in Washington D.C. hatte seine deutsche Frau Sehnsucht nach ihrer Heimat. Die Wahl fiel auf Schöneberg, weil der Westberliner Stadtteil – einst amerikanischer Sektor – über zahlreiche zweisprachige Kitas und Schulen für die beiden Töchter verfügt. Scott geht gern ins Lenzig, weil das Publikum hier so gemischt ist: „Hier kommen Familien mit Kindern, alteingesessene Senioren und verliebte Pärchen zum Essen hin“, erzählt er, als wir mit Rollberger Bier aus der kleinen Neuköllner Privatbrauerei anstoßen.
Scott stammt aus der texanischen Provinz und erzählt mir, dass er in der US-Hauptstadt einen Kulturschock erlebte: „Washington hat eine faszinierende Aura“. Einerseits seien dort engagierte und brillante Köpfe für das Gemeinwohl am Werk, andererseits gebe es dort zu viele Zyniker und Lobbyisten. Scott leitete das Washingtoner Büro der Denkfabrik „Free Press“, als die Obama-Kampagne 2008 auf ihn aufmerksam wurde. „Obamas Leute haben gezielt progressive Think Tanks angezapft“, sagt Scott, der dafür angeheuert wurde, den Technologie-Teil des Wahlprogramms der Demokraten zu entwerfen. Von seinem ehemaligen Chef ist er nach wie vor fasziniert: „Ich bin überzeugt, dass Obama der progressivste Präsident ist, den wir je hatten.“ Auch wenn nun viele ernüchtert sind, ist Scott überzeugt: Die großen Projekte seien gelungen, die Wirtschaft sei nach der Krise durch aktive Konjunkturpolitik wieder auf die Beine gekommen, und die Gesundheitsreform bleibe eine Errungenschaft von historischer Dimension. Und noch etwas: Obama habe eine ganze Generation von jungen Progressiven in die Politik gezogen. Diese werde auf Jahrzehnte die Washingtoner Politik mitprägen.
Nachdem der Präsident seine einstige Erzrivalin Hillary Clinton zur Außenministerin ernannte, habe sich diese gezielt nach Obama-Leuten für ihre „21st Century Statecraft Agenda“ umgesehen, erzählt Scott. „Die USA haben weltweit einen Vorsprung an digitalem Know-how. Die Außenministerin wollte dies auch in der Diplomatie nutzen.“ Scott und seine Mitstreiter bekamen den Auftrag, eine Art digitales Start-up im riesigen Apparat des amerikanischen Außenministeriums aufzubauen. Der wurde dringend gebraucht, als Twitter und Co den arabischen Frühling befeuerten. Scott schulte Diplomaten und Dissidenten darin, neue Medien effektiv einzusetzen. Mit dem später im libyschen Bengasi ermordeten amerikanischen Botschafter Chris Stevens arbeitete er eng dabei zusammen, um das Glasfasernetz, das der Despot Gaddafi hatte kappen lassen, wiederherzustellen. So konnten sich die Rebellen wieder untereinander vernetzen.
Bei schwäbischen Maultaschen und badischem Rotwein kommen wir auf Scotts Wechsel von der amerikanischen in die deutsche Hauptstadt zu sprechen. Welche Unterschiede bestehen zwischen der Politikberatung in beiden Ländern? In Deutschland gebe es zwar exzellente wissenschaftliche Forschung, diese spiele aber in der politischen Praxis kaum eine Rolle, so Scott. Nichtregierungsorganisationen haben hierzulande zwar eine hohe Glaubwürdigkeit, aber zu wenige Ressourcen, um konkrete Politikprogramme zu entwerfen. Und die politischen Stiftungen seien zwar gut ausgestattet, hätten aber zu wenig Inhouse-Expertise und verzettelten sich nicht selten aufgrund ihres unüberschaubaren Themenspektrums.
Scott sieht in Berlin Bedarf an Politikberatung mit inhaltlicher Expertise, die dabei zugleich den politischen Prozess gut genug versteht, um ihre Inhalte an den richtigen Stellen zu platzieren. Deshalb fühlt er sich bei der Siftung Neue Verantwortung, die Scott als „Start-up Think Tank“ bezeichnet, gut aufgehoben. „Die Stiftung pflegt gute Kontakte zu allen Parteien im Bundestag. Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis als Präsident und prominente Wirtschaftsführer im Präsidium bilden eine gute Balance. Die Finanzierung ist breit genug gestreut, um solide und ohne Beeinflussung arbeiten zu können“, sagt Scott. Seine beiden Schwerpunkte als Programmdirektor für die „Europäische Digitale Agenda“ sind die digitale Wirtschaft sowie die Diplomatie in der Post-Snowden-Ära. Auf den Whistleblower angesprochen, drückt Scott gemischte Gefühle aus: Snowdens Anliegen sei richtig gewesen. Ihm sei es gelungen, eine Debatte über Geheimdienste, die gegen demokratische Werte verstoßen, ins Rollen zu bringen. Trotz der Enthüllungen, die den USA massiven Schaden zugefügt hätten, sei allerdings kaum damit zu rechnen, dass Snowden tatsächlich Verbesserungen auslöse.
Als wir auf die NSA-Debatte in Deutschland zu sprechen kommen, erzählt Scott zunächst mehr von seinem Berliner Stadtteil: Zahlreiche „Stolpersteine“ in Schöneberg erinnern an die über 16 000 jüdischen Einwohner, die hier lebten, bevor ein großer Teil von ihnen vor den Augen ihrer Nachbarn deportiert wurde. Auch das Kunstprojekt „Lichtgrenze“ anlässlich des 25. Mauerfalljubiläums habe gezeigt, wie lebendig die Geschichte in Berlin sei. „Weltweit weiß man, wie wichtig die Legitimität und Legalität staatlichen Handels in Deutschland genommen wird – einem Land, das auf eine dunkle Vergangenheit der Willkürherrschaft zurückblickt“, sagt Scott. Leider sei diese Glaubwürdigkeit bislang nicht in dem Maße genutzt worden. Zwar kritisiere Deutschland lautstark die außer Kontrolle geratene Arbeit der Geheimdienste, mache aber kaum konkrete Vorschläge, was genau verändert werden müsste. Zudem hätten es die Deutschen versäumt, ihr eigenes Haus in Ordnung zu bringen. „Ich verfolge die Arbeit des NSA-Unterschussausschuss genau.“ Bislang habe dieser Ausschuss wenig Neues zur NSA zutage gebracht, kritisiert Scott. Hingegen habe man viel über den BND erfahren, der im Ausland ähnliche Befugnisse habe wie die NSA. Und der BND wolle sich seine Rechte, Daten von Ausländern zu filzen, auch künftig nicht beschneiden lassen. Zumal er damit einen großen Schatz aus der Hand geben würde: In Frankfurt befinde sich mit dem „DE-CIX“ der größte Internet-Knoten weltweit, durch den besonders Daten aus dem Mittleren Osten und Russland fließen.
Scott hält die SPD für am besten positioniert, um eine Reformagenda im NSA-Untersuchungsausschuss anzuführen. Die Grünen und die Linkspartei hätten zwar Reformen gefordert, als kleine Opposition wüssten sie aber auch, dass sie nur in begrenztem Maße etwas bewirken können. Die Union wiederum zeige kein großes Interesse an einem Richtungswechsel und scheine darauf zu spekulieren, dass die Debatte langsam abebbt. Damit komme es auf die SPD als Regierungspartei mit breiter Basis an. Jene Bundestagsabgeordneten, die in der Sache Klartext gesprochen haben, müssten jetzt eine Reformagenda vorantreiben, die aus konkreten Schritten beim eigenen Nachrichtendienst und einem gemeinsamen Vorgehen mit den verbündeten Staaten bestehen sollte. „Deutschland hat das Potenzial zum Legitimitätsweltmeister“, sagt Scott. Der Texaner hat schnell gelernt, welche Metaphern im fußballbegeisterten Deutschland funktionieren.