Wer überrascht, der gewinnt
Diese positive programmatische Zwischenbilanz wird allerdings dadurch getrübt, dass die Menschen die SPD in einem zentralen Punkt nicht für den richtigen Anwalt halten: in der Steuer- und Abgabenpolitik. Zwar kann die SPD darauf hinweisen, dass Rot-Grün die größte Steuerentlastung in der Geschichte der Bundesrepublik durchgesetzt hat. Der Spitzensteuersatz wurde von 53 auf 42 Prozent gesenkt, der Eingangssteuersatz von 23,9 auf 15 Prozent. Die Steuerquote " also der Anteil der Steuern am Bruttoinlandsprodukt " ist in Deutschland mit rund 23 Prozent eine der niedrigsten unter den OECD-Staaten. Auch andere Tatsachen sprechen eigentlich für sich: Etwa 50 Prozent der Menschen in Deutschland zahlen im Ergebnis keine Steuern. Ein Ehepaar mit zwei Kindern zahlt (gemeinsam veranlagt) nach der Splittingtabelle unter Berücksichtigung des Kindergelds bis zu einem Bruttoeinkommen von 37.610 Euro keine Steuern.
Das Problem ist eher die auch im internationalen Vergleich relativ hohe Sozialabgabenquote. Bis zu einem Einkommen von 40.000 Euro für Alleinverdiener und 60.000 Euro für Gemeinsamverdiener sind die Sozialabgaben höher als die Steuern. Eine alleinstehende Krankenschwester mit einem Bruttoeinkommen von 1.850 Euro zahlt pro Monat nur rund 230 Euro Steuern aber etwa 380 Euro an Sozialabgaben.
Wahr ist aber auch: Der Steuersatz in der ersten Progressionszone nach dem Eingangssteuersatz von (noch) 7.665 Euro (zukünftig: 8.004 Euro) steigt überproportional steil an. Erst ab 12.740 Euro "beruhigt" sich die Kurve etwas. Das ist der so genannte "Waigel-Buckel" oder Mittelstandsbauch. Trotz der insgesamt moderaten Steuerbelastung nimmt sie am Anfang des Tarifs überproportional zu.
"Kalte Progression" als gefühltes Problem
Hingegen ist die "kalte Progression" eher ein gefühltes Problem. In der politischen Diskussion wird häufig beklagt, dass Einkommenszuwächse durch die automatisch steigende Grenzbesteuerung auch höher besteuert werden. Im Jahr 2008 betrug die Mehrbelastung für den Durchschnittsverdiener durch die "kalte Progression" allerdings nur 1,50 Euro pro Monat.
Dennoch steckt die SPD in einem Dilemma: Einerseits ist es richtig, wenn sie darauf hinweist, dass die Steuerbelastung für Gering- und Durchschnittsverdiener nicht das Hauptproblem ist, und dass wir die noch vorhandenen Einkommenssteuereinnahmen benötigen, damit der Staat handlungsfähig bleibt. Schon heute ist die Lohn- und Einkommenssteuer mit Abstand nur noch die zweitgrößte Steuereinnahmequelle nach den Einnahmen aus der Mehrwertsteuer, die kaum Verteilungswirkungen berücksichtigt. Es spricht einiges für das Argument, der Staat sei unterfinanziert. Andererseits besteht in Deutschland andauernd der Eindruck, die Steuern seien zu hoch, und besonders die SPD kümmere sich nicht genug um eine Entlastung der "Mittelschicht".
Die SPD muss sich entscheiden
Welche Aussagen sollte die Sozialdemokratie also im Regierungsprogramm treffen? Grundsätzlich sind zwei Herangehensweisen denkbar:
Nach dem "Defensivmodell" sollte der Schwerpunkt der Wahlauseinandersetzung auf Themen mit Sex-Appeal gelegt werden, bei denen die Sozialdemokratie die gesellschaftliche Mehrheit auf ihrer Seite hat. Dazu gehören sicherlich die Bürgerversicherung, der Mindestlohn und die ökologische Industriepolitik. Das Thema Steuern und Abgaben würde lediglich mit allgemeinen Zielvorgaben angesprochen. Hierzu gehört das Ziel der Abgabensenkung, wie es die SPD in den "Orientierungspunkten für ein integriertes Steuer- und Abgabensystem eines sozialen Deutschlands" formuliert hat, das auf dem Zukunftskonvent in Nürnberg im Mai 2008 präsentiert wurde. Dazu kommen die Forderung nach einem einfacheren und gerechteren Steuersystem, der Kampf gegen Steuerhinterziehung sowie Punkte, die bereits in den Orientierungspunkten und im "Steinmeier-Plan" genannt werden: eine moderate Erhöhung des Spitzensteuersatzes, gegebenenfalls kombiniert mit der Absenkung der Bemessungsgrundlage für die "Reichensteuer". Diese überschaubaren Steuermehreinnahmen (die Annhebung des "Reichensteuersatzes" auf 47 Prozent brächte etwa 640 Millionen Euro, die Heraufsetzung des Spitzensteuersatzes auf 45 Prozent schätzungsweise 2,7 Milliarden Euro) könnten politisch an konkrete Verwendungszwecke geknüpft werden. Denkbar wäre auch die weitere Senkung des Eingangssteuersatzes oder eine Vereinfachung des Steuersystems im unteren Tarifverlauf.
Die Argumente für eine solche Herangehensweise liegen auf der Hand: Wir machen uns nicht angreifbar. Gewonnen wurden Wahlen in der Vergangenheit regelmäßig durch die Ablehnung unsozialer und unrealistischer Forderungen der anderen Parteien auf dem Gebiet Steuern und Abgaben. Außerdem gefährden wir damit nicht die Einnahmebasis des Staates.
Was für eigene Vorschläge spricht
Andererseits ist es deutlich einfacher, gegen eine unsoziale flat tax oder eine Erhöhung der Mehrwertsteuer in die Schlacht zu ziehen, als gegen "populäre" Steuersenkungsversprechen. Wenn die Union deutliche Steuersenkungen im Zuge einer "großen Steuerreform" verspricht, kommt die Aussage, wir hätten ja erst 2001 die Steuern gesenkt und müssten nun den handlungsfähigen Staat erhalten, möglicherweise etwas schwach daher. Die Alternative wären umfassende eigene Vorschläge. Das heißt konkret: Die SPD macht den Menschen in der Mitte der Gesellschaft konkrete Angebote, ohne in einen "postdemokratischen" (Colin Crouch) Steuersenkungswettbewerb mit der Union einzutreten " die Steuerquote bleibt insgesamt konstant! Dafür spricht, dass Wahlen "in der Mitte" der Gesellschaft gewonnen werden und dass die SPD nach verbreiteter Auffassung zu wenig für die "Leistungsträger" (im Beckschen Sinne) tut.
Mögliche Eckpunkte einer solchen Strategie lauten wie folgt: Eine einkommensabhängige Senkung der Sozialabgaben würde Geringverdiener und Arbeitgeber gleichermaßen entlasten. Damit würde die SPD auch ihre "Nürnberger" Programmatik beibehalten. Nach diesem "Progressionsmodell" würde jemand, der wenig verdient, auch weniger Sozialabgaben zahlen. Auch die Arbeitgeber profitieren hiervon aufgrund der nahezu paritätischen Finanzierung. Bis zu einem Bruttoeinkommen von sagen wir 2.000 Euro steigen die Sozialabgaben langsam an. Denkbar wäre auch die Einführung eines Freibetrages, der ebenfalls zu einer degressiven Entlastung führt. Die Finanzierung erfolgt über einen höheren Steuerzuschuss. Die Kosten variieren je nach Ausgestaltung im unteren zweistelligen Milliardenbereich. Mit diesem Modell machen wir Arbeit gerade im Dienstleistungssektor wieder attraktiv.
Ein zweiter zentraler Punkt wäre eine Entlastung der Leistungsträger wie Facharbeiter, Krankenschwestern und Angestellten bei der Einkommensteuer durch die Abflachung des "Waigel-Buckels". Damit leisten wir einen Beitrag zur Steuervereinfachung und entlasten die Mittelschicht. Je nach Grad der Abflachung beliefen sich die Kosten auf bis zu 24,5 Milliarden Euro. Diese Steuersenkung käme nahezu allen Steuerpflichtigen zugute und würde sich besonders bei den mittleren Einkommen stark auswirken, gerade bei gemeinsam veranlagten Ehepaaren im Splitting-Verfahren.
Attraktiv werden für die Mitte
Darüber hinaus wäre überlegenswert, den Eingangssteuersatz weiter zu senken, auch wenn weiterhin gilt: Gerade bei den kleinen Einkommen sind die Sozialabgaben eine weit größere Belastung, so dass Bürgern mit geringer Grenzbesteuerung mit dem "Progressionsmodell" bei den Sozialabgaben mehr gedient wäre. Auch eine Vereinfachung im unteren Tarifverlauf wäre möglich.
Für eine solch offensive Herangehensweise lassen sich gute Argumente finden. Wenn wir den negativen Trend der Meinungsumfragen umkehren wollen, müssen wir die Menschen überraschen. Wir müssen Vorschläge machen, mit denen wir uns von den Wettbewerbern absetzen und die uns für die Mitte wieder attraktiv machen. Gleichzeitig müssen die Vorschläge allerdings gegenfinanziert sein.
Zur Gegenfinanzierung könnten drei Elemente dienen: die Reaktivierung der privaten Vermögenssteuer, die Erhöhung des Spitzensteuersatzes und die Einführung einer Besteuerung auf Finanztransaktionen. Denn ohne Gegenfinanzierung fehlen die Mittel für den handlungsfähigen Staat " für den Bau und Erhalt von Straßen, Schulen, Kindertagesstätten und für die Polizei, um die Verwendung der Mittel noch einmal klar vor Augen zu führen.
Vermögenssteuer und Spitzensteuersatz
Die Einführung einer Vermögenssteuer ist möglich und sinnvoll. Der ehemalige Finanzminister Theo Waigel hatte die Vermögensteuer auslaufen lassen, weil er nicht bereit war, ein verfassungsmäßiges Bewertungsrecht vorzulegen. Denn nicht die Vermögenssteuer als solche wurde 1995 vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig angesehen, sondern nur deren Bewertungsgrundlage. Die Union hat damals auf Grundlage des von Professor Paul Kirchhof erfundenen und mittlerweile vom Bundesverfassungsgericht selbst verworfenen "Halbteilungsgrundsatzes" argumentiert und behauptet, eine Vermögenssteuer könne aus diesem Grunde überhaupt nicht mehr erhoben werden.
Das war und bleibt Unsinn. Entscheidend ist eine verfassungsmäßige Bewertungsgrundlage, die wir jetzt endlich haben. Neue Untersuchungen haben ferner ergeben, dass der Verwaltungsaufwand einer Vermögenssteuer auch weit geringer wäre als in der öffentlichen Debatte bisher dargestellt. Politisch gilt: Die Wiedereinführung dieser Steuer ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit. Nach einer neueren Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung besitzt das reichste Zehntel der Bevölkerung fast zwei Drittel des gesamten Vermögens, dagegen verfügen mehr als zwei Drittel der Bevölkerung nur über einen Anteil am Gesamtvermögen von weniger als zehn Prozent. Je nach Ausgestaltung lassen sich mit einer privaten Vermögensbesteuerung bis zu 10 Milliarden Euro einnehmen.
Die Erhöhung des Spitzensteuersatzes wäre aufgrund der Entlastung eines Großteils der Bevölkerung ebenfalls vermittelbar. Eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 45 Prozent brächte Mehreinnahmen in Höhe von knapp 3 Milliarden Euro.
Ein wichtiger Einnahmeblock könnte zudem die Einführung einer Steuer auf Finanztransaktionen, also einer Börsenumsatzsteuer sein " zumindest in der Variante, wie sie seit 1694 in Großbritannien sowie der Schweiz und im Staat New York existiert: als Steuer in Höhe von 0,5 Prozent auf den Aktienumsatz, wie sie Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück jetzt vorgeschlagen haben.
Bei der generellen Finanztransaktionssteuer würden sämtliche Finanztransaktionen mit einem Steuersatz zwischen 0,01 Prozent und 0,1 Prozent belegt. Die Steuer ist eine Kapitalverkehrssteuer. Sie wird auf erzielte Umsätze im Wertpapierhandel sowie auf Derivate erhoben, wenn die Geschäfte im Inland oder unter Beteiligung wenigstens eines Inländers im Ausland abgeschlossen werden. Nach Berechnungen des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung würde eine Transaktionsbesteuerung in Deutschland bei einem Steuersatz von 0,1 Prozent Einnahmen in Höhe von 43,3 Milliarden Euro erbringen. Der durch die Einführung der Steuer bewirkte Transaktionsrückgang ist dabei bereits berücksichtigt. Andere Studien kommen zu ähnlich hohen Erträgen.
Warum eine Börsenumsatzsteuer sein muss
Im Jahr 2007 war das Volumen der Finanztransaktionen 74-mal so hoch wie das nominelle Bruttoinlandsprodukt der gesamten Welt. Dies zeigt, dass sich die Finanz- von der Realwirtschaft abgekoppelt hat. Denn würden die Transaktionen primär aus der Absicherung realwirtschaftlicher Aktivitäten stammen, etwa künftiger Exporterlöse oder hoher Rohstoffausgaben, dürfte das Transaktionsvolumen die nominelle Weltproduktion nicht nennenswert übersteigen. Eine mögliche Dämpfung der Finanztransaktionen mittels einer Besteuerung träfe folglich nicht die Realwirtschaft.
In der EU entfallen 99 Prozent aller Börsentransaktionen auf Deutschland und Großbritannien. Deshalb erscheint in einer ersten Stufe eine Verwirklichung zusammen mit Großbritannien denkbar. Die extreme Konzentration des Handelsvolumens auf die Börsen in London und Frankfurt zeigt, dass der Erfolg einer Börse von seiner Größe und dem Grad seiner internationalen Verflechtung abhängt, nicht allein von den Transaktionskosten. Deshalb wird eine geringfügige Transaktionssteuer zu keiner nennenswerten "Abwanderung" von Transaktionen führen. Angesichts des derzeitigen window of opportunity erscheint ihre Einführung auch im europäischen " oder internationalen " Rahmen nicht mehr völlig utopisch. Sozialdemokraten sollten sie fördern.
Die Börsenumsatzsteuer wird häufig mit den Argumenten abgelehnt, sie verteurere Spekulation lediglich, könne sie aber nicht verhindern; sie würde die optimale Allokation von Kapital verhindern; und eine Einführung sei ohnehin nur international möglich. Diese Argumente sind nicht zwingend. Natürlich lässt sich Spekulation nicht unterbinden, aber es könnten beträchtliche Einnahmen für den Staat generiert werden. Vor dem Hintergrund der von den Finanzmärkten ausgehenden Krise des Wirtschaftssystems ist eine solche Steuer auch vermittelbar und popularisierbar: Jeder Schlachter, jeder Klempner und jeder Dachdecker zahlt Umsatzsteuer. Eine Umsatzsteuer auf Kapitalerträge ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit. Wir müssen der alten Forderung wieder Gehör verschaffen, dass nicht in erster Linie die Arbeit besteuert werden soll.
Mit einem solchen Mix aus spürbaren Impulsen für die Einkommen der großen Mehrheit der Gesellschaft, verbunden mit einer stärkeren Besteuerung von Kapital würde ein Gesamtpaket präsentiert, das nicht zu Lasten der Steuerquote und des handlungsfähigen Staates ginge. Es würden Lehren aus der Finanzmarktkrise gezogen und endlich eine notwendige stärkere Besteuerung von Kapital " und nicht nur von Arbeit " erfolgen. Schließlich: Mit einem solchen Konzept würde die SPD die Wähler überraschen und sich gegenüber der Linkspartei und der Union abgrenzen. Die SPD gewinnt die Menschen " und die Bundestagswahl.