Wettbewerbsvorteil Gerechtigkeit
Nicht erst seit Bestehen der Großen Koalition im Bund, aber besonders seit 2005 haben es die beiden Volksparteien immer häufiger mit dem Phänomen zu tun, dass in manchen ökonomischen Führungsetagen zu wenig Sinn für die integrative Funktion von Volksparteien vorhanden ist, für die Mühen der Konsensbildung, für politische Prozesse und auch politische Abstufungen. Dort fehlt oft jedes Verständnis dafür, dass Politik nicht digital ist, nicht entweder Null oder Eins. Es fehlt auch das Verständnis für die Notwendigkeit einer größeren Balance in unserer Gesellschaft. Ohne ein solches Verständnis aber wird der sozialen Marktwirtschaft der Reflex von Protektionismus, Staatsfixierung und auch Strukturkonservativismus nicht erspart bleiben, der ja auch ein Reflex auf Asymmetrien und Ungerechtigkeiten ist, die große Teile der Bevölkerung schmerzlich empfinden.
Seit die Menschheit über die Gerechtigkeitsfrage diskutiert, ist sie mit einem Grundproblem konfrontiert: Auch in gewachsenen Kulturräumen hat jede und jeder ein subjektives Gerechtigkeitsempfinden, über das zu diskutieren schon deshalb schwer fällt, weil es keine absolut verbindliche Vorstellung von Gerechtigkeit gibt. Gerechtigkeit lässt sich nicht auf einen objektiven Nenner bringen – sie wird immer subjektiv empfunden, sie ist immer relativ. In demokratisch verfassten Gesellschaften versuchen wir, das Dilemma des fehlenden objektiven Gerechtigkeitsbegriffs zu entschärfen, indem wir auf unsere demokratischen Institutionen zurückgreifen. Wir hoffen, dass das subjektive Empfinden einer Mehrheit, wie es in den Entscheidungen demokratisch legitimierter Gremien zum Ausdruck kommt, dem Gerechten möglichst nahe kommt.
Dabei ist Gerechtigkeit ohne Freiheit nicht zu haben. Richtig ist aber auch, dass ohne Gerechtigkeit die Freiheit unvollständig bleibt. Angesichts der Herausforderungen der Globalisierung rückt für mich immer stärker eine befähigende Freiheit in den Mittelpunkt. Die Freiheit, die ich meine, ist eine ermöglichende Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben, zur Teilhabe und Teilnahme am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Leben. Dieses Verständnis setzt den Akzent darauf, dass Freiheit nicht nur formal in der Verfassung verankert ist. Deswegen halte ich die eher angelsächsisch geprägte Sichtweise – angesichts kontinentaleuropäischer Traditionen und Mentalitäten – mindestens für unterkomplex. Ihr geht es vor allem um die Freiheit von staatlichen Eingriffen besonders bei Eigentum und Einkommen, also um die weitgehende Freiheit von Steuern und Abgaben und anderen staatlichen Zwängen. Diese Sichtweise greift zu kurz.
Der Stress wird andauern
Natürlich müssen wir an dieser Stelle die Balance halten. Aber ich halte es für falsch, ausgerechnet in einer Situation, in der die Globalisierung mit ihren Herausforderungen ziemlich ungebremst in den Alltag jedes Einzelnen Einzug hält, den Staat immer weiter zurückzudrängen, ihn gegebenenfalls auch aus einer liberalistischen ordnungspolitischen Raison zu diskreditieren und damit die Unsicherheit und auch die Ungleichheit immer weiter zu verstärken. Heute ist die Frage hochaktuell, ob die Verdrängung der Politik durch eine vornehmlich ökonomische Logik, der Vorrang des Konsumenten vor dem Bürger, das Schleifen von Administration und Verwaltungsverfahren wirklich im Interesse von „Globalisierungseliten“, „Hardcore-Individualisten“ oder auch eines ökonomisch radikalen Neoliberalismus ist. Brauchen nicht sogar die Globalisierungseliten in ihrem ureigenen Interesse einen handlungsfähigen Staat?
Für mich steht dreierlei fest: Erstens wird der Stress – will sagen: die Beschleunigung – in unserer Wirtschaft und Gesellschaft anhalten, weil die Sehnsüchte, der Ehrgeiz, das wirtschaftliche Handeln von Milliarden arbeitsteilig in die Globalisierung integrierten Menschen, besonders in Asien, für uns mehr denn je von Belang sind und sich auf uns auswirken. Zweitens ist die Globalisierung ein irreversibler Prozess. Drittens ist keine andere große Volkswirtschaft so sehr mit dem vernetzt, was wir den globalen Wettbewerb nennen, wie Deutschland. Warum? Weil mehr als 40 Prozent unseres Bruttoinlandprodukts über Im- und Exportbeziehungen generiert werden und damit jede Abkoppelung aus der Globalisierung automatisch auf Wohlstandsverluste hinausläuft.
Insiderwissen und Abfindungsexzesse
Ja, unsere auf Wettbewerb beruhende Wirtschaftsordnung führt zu Ungleichheiten. Das ist prinzipiell aber gar nicht zu kritisieren, solange diese auf Leistung und fairen Chancen für möglichst alle beruhen, denn das liegt in der Natur des Wettbewerbs. Ohne Unterschiede im Ergebnis könnte der Wettbewerb seine positiven Wirkungen nicht entfalten. Wenn die Unterschiede aber auf dem Ausnutzen von Insiderwissen oder Abfindungsexzessen beruhen, schwindet das Vertrauen der Bevölkerung in das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der sozialen Marktwirtschaft.
Dabei hat die Balance zwischen Effizienz und Gerechtigkeit in den vergangenen sechzig Jahren sozialer Marktwirtschaft in Deutschland insgesamt gut funktioniert. Damit wurde eine soziale Stabilität erreicht, die einer der wichtigsten Standortfaktoren unseres Landes ist. Das wird häufig unterschätzt. Seit einiger Zeit entfernen wir uns zunehmend von dieser Balance und bewegen uns auf eine gefährliche gesellschaftliche Schieflage hin. Die Gefahr einer gesellschaftlichen Spaltung nimmt deutlich zu:
- Oben befinden sich die Hochverdiener oder die Globalisierungselite. Diese Gruppe verabschiedet sich zunehmend aus der Solidargemeinschaft, nicht nur in Richtung Liechtenstein. Sie ist nicht mehr von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen abhängig, beschafft sich Bildung, Gesundheit und Sicherheit über die Märkte selbst.
- In der Mitte sind die vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich als Hauptlastträger der Staatsfinanzierung empfinden und in den letzten 15 Jahren im Durchschnitt keine Verbesserung ihrer Realeinkommen erlebt haben. Die gesellschaftliche Mitte trägt mit ihren Sozialversicherungsbeiträgen ganz wesentlich den Sozialstaat. Das heißt aber, dass der Staat die Ansprüche an den Sozialstaat mit der Leistungsfähigkeit und vor allem mit der Leistungsbereitschaft der Mittelschichten in Einklang bringen muss. Sollte diese gesellschaftliche Mitte eines Tages ihre Solidarität aufkündigen, würde der deutsche Sozialstaat zusammenbrechen.
- Weiter unten stehen diejenigen, die vom Staat nach wie vor stärker alimentiert als befähigt werden, die kaum eine Chance auf gesellschaftliche Teilhabe oder sozialen Aufstieg haben, die sich in Parallelgesellschaften wiederfinden oder einrichten.
Teilhabe braucht wirtschaftliche Dynamik
Deswegen dürfen sich weder die Politik noch die übrigen gesellschaftlichen Gruppen der Verantwortung entziehen, dafür zu sorgen, dass sich die gefühlten und tatsächlichen Schieflagen in unserer Gesellschaft zumindest nicht noch weiter verschärfen. Die Kunst besteht darin, zugleich zu verhindern, dass notwendige Korrekturen die wirtschaftliche Dynamik schwächen. Das ist die Gratwanderung, die wir bewältigen müssen.
Wir brauchen ein höheres wirtschaftliches Wachstum – nicht als Selbstzweck, sondern als Voraussetzung für mehr Wohlstand und Teilhabe. Nur so erreichen wir die gewünschten Einkommenssteigerungen, die möglichst viele Bürger an einer positiven Wirtschaftsentwicklung partizipieren lassen. Und nur über dieses Wirtschaftswachstum wird der Staat die notwendigen Zukunftsinvestitionen tätigen können, die dieses Land dauerhaft in der Champions League halten.
Den Sozialstaat an seinen Wirkungen messen
Bei der Frage, wie viel soziale Ungerechtigkeit wir aushalten müssen, sind gerade diejenigen gerne etwas hemdsärmlig, die in der Einkommenshierarchie oben stehen. Nach dem Motto: Unter den Bedingungen der Globalisierung müssen wir eben Abstriche bei der Gerechtigkeit akzeptieren und den Gürtel enger schnallen. Auch mit etwas weniger Gerechtigkeit gehe es uns im Vergleich zu Ländern wie China, Indien oder Russland immer noch sehr gut.
Diese Haltung ist nicht nur inakzeptabel; sie ist vor allem auch ökonomisch und politisch hoch riskant. Denn sie setzt Globalisierung mit der billigenden Inkaufnahme von mehr Ungerechtigkeit gleich und glaubt, die Legitimationsgrundlagen unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems dennoch erhalten zu können. Das ist ein Irrtum.
Die Reformen für mehr Wachstum und Beschäftigung müssen weitergehen. Wenn wir über eine gerechte Politik diskutieren, müssen wir eine Perspektive einnehmen, die sich weder auf eine platte Wohlfahrtsstaatlichkeit noch auf einen eindimensionalen Neoliberalismus reduziert. In der Vergangenheit war diese Diskussion allzu oft eine Debatte über das „gerechte“ Verteilen von Geld. Sie war bestimmt von einem meist einseitig auf höhere Sozialtransfers verengten Blick, der völlig ausblendete, wie sehr Menschen durch Langzeitarbeitslosigkeit und schlechte Bildung benachteiligt werden, weil ihre Chancen schwinden.
Die Politik steht in der Pflicht, hierauf zu reagieren. Zum einen müssen wir uns im Rahmen einer soliden Haushaltspolitik die Frage stellen, wie wir unser knappes Geld im Sinne der Betroffenen wirkungsvoller und effizienter einsetzen. Wir müssen die Wirkung von Maßnahmen nicht am finanziellen Input, sondern konsequent am tatsächlichen Output messen. Zum anderen ist klar, dass eine gerechtere Politik nicht mehr allein an der gegenwärtigen Einkommens- und Vermögensverteilung festgemacht werden kann.
Gemeinsam müssen wir – Politik und gesellschaftliche Gruppen – es schaffen, den Gerechtigkeitsblick der Menschen zu erweitern. Globaler Wettbewerb und demografischer Wandel erfordern zwangsläufig eine stärkere Orientierung des politischen Handelns, aber auch der Bewertung von Politik an mehr Chancengerechtigkeit und Generationengerechtigkeit, also an nachhaltiger Gerechtigkeit. Nur so ist mehr Teilhabe möglich. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir dabei die materielle Verteilungsgerechtigkeit aus den Augen verlieren dürfen. Umverteilung als Korrektur von Marktmechanismen bleibt nach wie vor notwendig.
„Bin ich Gewinner oder Verlierer?“
Den Fokus stärker auf nachhaltige Gerechtigkeit zu legen heißt auch, dass wir einen längeren Zeithorizont für die Beurteilung der Wirkung politischer Maßnahmen zulassen sollten. Es wäre schon viel gewonnen, wenn politische Reformen – auch in der medialen Darstellung – nicht mehr nur anhand der Fragen „Was bringt mir das kurzfristig?“ oder „Bin ich Gewinner oder Verlierer?“ beurteilt würden. Die Frage muss stattdessen lauten: „Was haben wir alle davon?“
Wir werden weiterhin einen fürsorgenden Sozialstaat für die in Not geratenen Menschen brauchen. Er hat genügend Anwälte in unserer Gesellschaft. Wir brauchen aber zunehmend auch den vorsorgenden und aktivierenden Sozialstaat, der seine Bürgerinnen und Bürger im wirtschaftlich-technischen Wandel so befähigt, dass sie gar nicht erst in Notlagen geraten und auf soziale Transfers angewiesen sind. Die Hauptaufgabe des vorsorgenden Sozialstaates ist es, jeder und jedem zu ermöglichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, seine Fähigkeiten zu entfalten, seine Existenz aus eigener Kraft zu sichern. Das schließt Existenz sichernde Löhne ein.
Ob es uns gelingt, in diesem Land eine breite gesellschaftliche Unterstützung für notwendige weitere Reformen zu organisieren, hängt auch entscheidend davon ab, ob die Eliten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft in ihren öffentlichen Äußerungen stärker als bisher die Gerechtigkeitskomponente wichtiger Reformen betonen. Wir werden Reformen immer schwerer durchsetzen können, wenn beim Bekanntwerden von Eckpunkten eines Reformvorhabens alle Anstrengung darauf gerichtet ist, Empörungswellen zu organisieren, oder wenn fast schon reflexartig gerufen wird, diese Reform und jener Einschnitt gehe einfach nicht weit genug, sondern sei bestenfalls „ein Schritt in die richtige Richtung“.
Liechtenstein als Lebensform
Solche Lautsprecher-Aussagen machen den Menschen Angst und erschweren es, Reformen durchzusetzen. Und das umso mehr, als diese Eliten ihre Vorbildfunktion viel zu häufig ignorieren, ja offenbar gar kein Gefühl mehr dafür haben, dass dies ihre Funktion ist. Das aktuell spektakulärste Beispiel ist die massenhafte Steuerhinterziehung in Richtung Liechtenstein. Obwohl die Steuersätze gerade auch im Spitzensteuerbereich in den letzten Jahren deutlich gesenkt wurden, wollen immer mehr Wohlhabende möglichst gar keine Steuern mehr zahlen. Nur um der Besteuerung in Deutschland zu entkommen, lassen sie sich auf komplizierte Finanzkonstruktionen ein und gründen – und dies ist nur ein Beispiel – verschachtelte Stiftungen in Nachbarländern. Eben diese Leute beschweren sich darüber, wie kompliziert das deutsche Steuersystem sei und fordern einheitliche Steuersätze für alle – zu ihren Gunsten natürlich. Die aus einer solchen Haltung folgenden kriminellen Handlungen verursachen nicht nur einen erheblichen materiellen Schaden, sondern unterminieren den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die auf einer modernen, allgemein akzeptierten Wertvorstellung von nachhaltiger Gerechtigkeit fußt, ist im Zeitalter der Globalisierung alles andere als ein Anachronismus, sondern kann vielmehr ein Wettbewerbsvorteil sein, vielleicht auch ein Exportgut im Wettbewerb unterschiedlicher Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle weltweit. Nachhaltige Gerechtigkeit in einem umfassenden Verständnis ist ein wichtiger Pfeiler für die Stabilität und die Reformfähigkeit unseres Wirtschaftssystems, die wiederum langfristige Voraussetzung für den Erfolg im globalen Wettbewerb mit anderen Wirtschaftsmodellen ist.
Politik muss Menschen für Veränderungen gewinnen. Das ist möglich, aber auch nur dann, wenn sie sich erstens auf eine solide soziale Absicherung verlassen können, die nicht jeden zweiten Tag wieder grundsätzlich in Frage gestellt wird; wenn wir ihnen zweitens die Notwendigkeit von Reformen plausibel erklären und es uns gleichzeitig gelingt, sie von der Fairness und Gerechtigkeit dieser Reformen zu überzeugen; und wenn wir sie drittens in die Lage versetzen, die Chancen für sich selbst zu nutzen, die diese Veränderungen bei manchen Risiken eben auch mit sich bringen.
Nur gemeinsam kommen wir voran
Menschen für Veränderungen zu gewinnen, ist aber keine ausschließliche Aufgabe der Politik. Politiker brauchen die Unterstützung der gesellschaftlichen Eliten. Nur gemeinsam wird es gelingen, auch weiterhin Strukturreformen durchzusetzen und dabei gleichzeitig die Menschen davon zu überzeugen, dass es in Deutschland durch diese Reformen fairer und gerechter wird. Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass möglichst viele Menschen vorankommen. Nur dann wird auch unser Land vorankommen.