Zivilgesellschaft und Sozialstaat
Abgrenzungen erweisen sich im Einzelnen oftmals als schwierig. Beispielsweise bewegten sich bürgerliche Familien des 19. Jahrhunderts teils in der privaten, teils aber in der zivilgesellschaftlichen Sphäre. Auch Wirtschaftsunternehmen können mit ihrer Orientierung an „Corporate Social Responsibility“ zivilgesellschaftliche Funktionen ausüben, wenngleich meist in enger Verzahnung mit ihren marktwirtschaftlichen Hauptfunktionen. Des Weiteren werden auch karitative und pädagogische Leistungen gerade in Deutschland häufig von Institutionen erbracht, in denen sich zivilgesellschaftliche und staatliche Prägungen mischen. Doch grundsätzlich handelt es sich bei zivilgesellschaftlichen Aktivitäten um freiwillige, unentgeltliche, über den privaten Raum hinausreichende Tätigkeiten mit viel Selbständigkeit und Freiheit, mit Verantwortungsbereitschaft und Chancen zur Solidarität, vielfältig, immer im Plural auftretend, nicht ohne Konflikt miteinander, aber gewaltfrei (zivil).
Es handelt sich um einen Tätigkeitstypus, der weder der kompetitiven, individuellen Nutzen optimierenden und dem Tauschprinzip verpflichteten Handlungslogik des Marktes, noch der kollektiven und hierarchischen Logik staatlich-bürokratischer Politik, noch den Grundsätzen der Intimität und Überschaubarkeit im privaten Leben folgt, vielmehr sich von diesen drei Bereichen – Staat, Markt und Privatsphäre – absetzt. Das Spektrum solcher Tätigkeiten ist breit gespannt. Es reicht von der unentgeltlichen Mithilfe bei vorschulischen Angeboten für Kinder mit schlechten Deutschkenntnissen oder bei der Altenbetreuung in der Nachbarschaft über das Ehrenamt im Sportverein und das Engagement in der Kirchengemeinde bis zum Einsatz für Naturschutz oder Menschenrechte in transnationalen Nichtregierungsorganisationen.
Das Verhältnis von Sozialstaat und Zivilgesellschaft erscheint auf den ersten Blick als Verhältnis der Differenz und der Spannung, und dies nicht ohne gute Gründe. Drei davon seien genannt.
Erstens: Zwar sind beide – Sozialstaat und Zivilgesellschaft – nach ihren Zielen und Handlungslogiken vom Markt unterschieden und mit über-individuellen Zwecksetzungen verbunden. Doch handelt es sich um voneinander klar unterscheidbare Formen sozialen Handelns. Die sozialstaatlichen Gewährleistungen sind in der Regel obligatorisch und rechtlich bindend, die zivilgesellschaftlichen freiwillig und bestenfalls vertraglich abgesichert. Zivilgesellschaftliche Aktivitäten können sich auf dem Allgemeinwohl verpflichtete Ziele richten, besitzen aber größere Freiheitsspielräume und höhere Flexibilität als sozialstaatliche, weil sie anders als diese nicht universellen Ansprüchen Rechnung tragen müssen, sondern auf partielle, beispielsweise lokale, Aufgaben begrenzt bleiben können.
Zweitens: Sieht man auf die Entstehungsbedingungen des Sozialstaats, auf die Triebkräfte und Motive seiner Entstehung in Deutschland seit den 1880er Jahren, dann erweisen sich diese Bedingungen, Motive und Triebkräfte als vielfältig, aber zweifellos gehörte zu ihnen an hervorragender Stelle die Überzeugung, dass die gewünschte Daseinsvorsorge unter den neuen sozialökonomischen Bedingungen für große Bevölkerungsgruppen, speziell für die gewerbliche Arbeiterschaft, weder hinreichend individuell und familienintern noch hinreichend durch zivilgesellschaftliche Organisationen, etwa Gesellenbrüderschaften, Vereine, selbstorganisierte Kassen und Gewerkschaften zu leisten sei. Der Aufstieg des Sozialstaats antwortete auf die nicht ausreichende Kraft nicht-staatlicher, auch zivilgesellschaftlicher Sicherungen.
Drittens schließlich ist das Problem des crowding out zu nennen. Es kommt vor und kann im internationalen Vergleich – beispielsweise zwischen Deutschland und den USA – beobachtet werden, dass der Sozialstaat zur Nicht-Entstehung oder Verdrängung an sich möglicher Selbsthilfepotenziale „von unten“ beiträgt. Beispielsweise an der teils öffentlichen, teils zivilgesellschaftlichen Organisation des Schulwesens lässt sich das vergleichend beobachten. Hier setzt die liberale Kritik am Sozialstaat und seinen obrigkeitlichen Implikationen an. Umgekehrt, aber im Grunde nach demselben Muster des Nullsummenspiel-Denkens, setzt hier manche links-orthodoxe Kritik an zivilgesellschaftlichen Alternativprogrammen an, die als Beiträge zur Erosion des Sozialstaats oder als „Notstopfen“ angesichts eingesparter sozialstaatlicher Leistungen abgelehnt werden.
Andererseits gibt es Gegenargumente und Befunde, die auf die Kompatibilität von Sozialstaat und Zivilgesellschaft hinweisen: Es ist unbestreitbar, dass der deutsche Sozialstaat, als er in den 1880er Jahren mit dem Sozialversicherungssystem in einer Form entstand, die bis heute nachwirkt, nicht so geordnet wurde, wie sich das Bismarck gewünscht hätte: Er wurde nicht primär aus dem staatlichen Haushalt, sondern zu großen Teilen aus Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert. Die Beiträge und Leistungen wurden gestaffelt, nach Maßgabe der Höhe des im Erwerbsleben erzielten Lohns und Gehalts (unter einer bestimmten Bemessungsgrenze).
Wie die Sozialpartnerschaft entstand
Diese Entscheidung ging wohl auf eine Intervention der Nationalliberalen im Reichstag mit ausdrücklicher Unterstützung der Sozialdemokratie zurück. Sie implizierte die folgenreiche Abwendung vom Prinzip der gleichen Grundsicherung für alle, das im ursprünglichen Entwurf des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes vorgesehen war. Mit all dem hing dann die starke Rolle intermediärer Institutionen und damit gesellschaftlicher Gruppen in der Konstruktion und Implementierung der staatlichen Sozialversicherung zusammen, beispielsweise die starke Rolle der Berufsgenossenschaften, der Ersatz- und Hilfskassen und damit auch gesellschaftlicher Partizipationschancen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. All dies förderte die Einbeziehung der Sozialdemokratie in Gesellschaft und Politik des Wilhelminischen Reichs, und sie sollte langfristig zur Herausbildung des deutschen Modells der Sozialpartnerschaft beitragen.
Deutschland hatte damals – und hat erst recht heute – ein starkes sozialstaatliches System, aber vielfach gegliedert, mit teilautonomen Trägern und Akteuren, geprägt durch die Teilnahme intermediärer Gruppen und Instanzen, die bei der Initiierung und Weiterentwicklung der entsprechenden Gesetze wie bei ihrer Implementierung eine große Rolle spielen. Man denke an die kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen, an die Gebietskörperschaften, die kirchlichen und anderen Wohlfahrtsverbände, die subsidiär eingebunden sind, auch an die „Sozialpartner“ und ihre Mitbestimmungsrechte. Es kommt also unter bestimmten Bedingungen zur Koexistenz, ja zur Verflechtung von Sozialstaat und Zivilgesellschaft. Gleichfalls hängen die hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrade skandinavischer Länder mit zivilgesellschaftlichen Elementen der Arbeitslosenversicherung und ihrer Verwaltung durch die Gewerkschaften zusammen.
Dies führt zu zwei vergleichenden Argumenten, das eine intertemporal, das andere international. Blickt man auf den langfristigen Wandel und auf die vergangenen Jahrzehnte, dann sieht man zumindest in Deutschland eine bemerkenswerte Parallelität. Wir beobachten, jedenfalls bis in die neunziger Jahre, einen massiven Ausbau des Sozialstaats und seiner Leistungen, zugleich aber einen unbestreitbaren Aufschwung der Zivilgesellschaft, nicht nur was die Diskussion über sie und ihre zumeist positive Konnotation angeht, sondern auch in Bezug auf die zivilgesellschaftliche Praxis. Das Engagement in Vereinen, Bürgerinitiativen, Stiftungen (auch Bürgerstiftungen), im Ehrenamt und beim Spenden für allgemeine Zwecke hat kräftig zugenommen. Außerdem zeigt der internationale Vergleich der Sozialwissenschaftler, dass hohe Sozialstaatsquoten und hohe zivilgesellschaftliche Partizipationsraten miteinander korrelieren. Die skandinavischen Werte sind auf beiden Messleisten hoch, die süd- und osteuropäischen in beiden Hinsichten niedrig.
Es sieht also eher nach crowding in als nach crowding out aus. Und warum das so sein könnte, darüber gibt es eine lebhafte theoretische Diskussion. Beispielsweise wird auf die positiven Wirkungen funktionierender Demokratie hingewiesen, die beides – Sozialstaat wie Zivilgesellschaft – begünstigt, unter anderem über die Herstellung einer Kultur des Vertrauens. Auch dürfte relativ ausgeprägter Wohlstand eine Rolle spielen und sich sowohl auf sozialstaatliches wie auf zivilgesellschaftliches Verhalten positiv auswirken.
Pionierleistungen auf einem Gebiet, das erst entsteht
Lassen sich der Sozialstaat als förderliche Bedingung von Zivilgesellschaft und umgekehrt zivilgesellschaftliches Engagement als Ressource deuten, die dem Sozialstaat Kraft zuführt und ihn befördert? Die Akademiengruppe „Altern in Deutschland“ konstatiert, dass das zivilgesellschaftliche Engagement der Älteren – außerhalb der Familie und außerhalb der Erwerbsarbeit – in den vergangenen Jahren zugenommen hat. Nach den Ergebnissen der regelmäßig erhobenen Freiwilligensurveys engagierten sich im Jahr 2004 beispielsweise rund 37 Prozent der Personen zwischen 6 und 70 zivilgesellschaftlich in der einen oder anderen Weise – das waren 6 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor. Umfragen zeigen, dass weitere 25 Prozent dieser Altersgruppe unter Umständen zu zivilgesellschaftlichem Engagement bereit beziehungsweise daran interessiert wären.
Das zivilgesellschaftliche Engagement der Älteren findet gegenwärtig am häufigsten als ehrenamtliche Tätigkeit in Vereinen und Verbänden statt, vor allem in Sportvereinen, Pfarrgemeinden und religiösen Gruppen sowie in sozialen und wohltätigen Organisationen. Langsam diversifiziert sich das zivilgesellschaftliche Engagement jedoch, auch bei den Älteren. Es findet sich beispielsweise in Organisationen, die sich für humanitäre Hilfe, Menschenrechte und Minderheiten einsetzen. Die Zahl der lokalen, öffentlich finanzierten Seniorenbüros und Freiwilligenagenturen nimmt zu. Es entwickelt sich eine Vielfalt von unabhängigen Gruppen im Nahraum , in dem sich jüngere Alte mehr oder weniger selbstorganisiert für die Belange von älteren hilfsbedürftigen Alten einsetzen. Die hier gesammelten Erfahrungen stellen oft Pionierleistungen auf einem gesellschaftlichen Gebiet dar, dessen Entwicklung erst beginnt.
Es geht um die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft
Was hat das mit Sozialstaat zu tun? Sehr viel, denn einerseits würde all dies ohne sozialstaatliche Absicherung nicht funktionieren. Sozialstaatliche Hilfestellungen sind geeignet, zivilgesellschaftliches Engagement zu erleichtern, in Gang zu setzen und zu verstetigen: Beispielsweise ist die materielle Versorgung der Alten – vor allem als Bezieher von Renten, Pensionen und anderen Transferleistungen – eine wichtige Voraussetzung für ihr zivilgesellschaftliches Engagement. Zudem besitzen staatlich initiierte, oftmals kommunale Programme eine große Bedeutung. Daher sollten mit öffentlichem Geld lokale Kristallisationskerne und Organisationsstrukturen ausgebaut und neu geschaffen werden, die es den Älteren erleichtern, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren, dadurch der Gesellschaft etwas zurückzugeben und Verantwortung zu übernehmen.
Zum einen kann zivilgesellschaftliches Engagement, also die Bereitschaft, Dinge in die eigenen Hände zu nehmen und zusammen mit anderen zu gestalten, die Erwartungen und Anforderungen an den Sozialstaat reduzieren und so helfen, seiner Überforderung vorzubeugen. Zum anderen kann zivilgesellschaftliches Engagement in vielfältiger, wenngleich schwer messbarer Weise das Humanvermögen einer Gesellschaft stärken, ihre Leistungsfähigkeit im umfassenden Sinn verbessern und damit die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaats stärken, weil es geeignet ist, in spezifischer Verknüpfung von Freiheit und Verantwortung gesellschaftlich zu aktivieren. Damit hilft die Zivilgesellschaft mit, die Substanz zu stärken, von der auch der Sozialstaat lebt, die Ressourcen, die der Sozialstaat braucht. Zur Voraussetzung des Sozialstaats heute gehört auch eine funktionierende Zivilgesellschaft. Auf die geschickte Verbindung und gegenseitige Verstärkung von beiden kommt es an. «
Eine längere Fassung dieses Beitrages erscheint in: Ulrich Becker, Hans Günter Hockerts und Klaus Tenfelde (Hrsg.), Sozialstaat Deutschland: Geschichte und Gegenwart, Berlin 2010.