Die Amerikaner im Irak

Wie viele andere Beobachter amerikanischer Außenpolitik hatte ich im Frühjahr 2003 den Kriegsentschluss der Bush-Administration kritisiert. Damals lehnte ich den Feldzug aus drei "realpolitischen" Gründen und aufgrund einer grundsätzlichen Überlegung ab

Zum einen gründete die Strategie der Vereinigten Staaten nicht auf einer realistischen Einschätzung der Situation, sondern auf ideologischen Versatzstücken. Die amerikanische Regierung behauptete, die irakische Bevölkerung strebe nach Freiheit und einer Demokratie westlichen Typs.

 

Nach der Befreiung werde daher ein freier, demokratischer Staat entstehen, der wiederum den Sturz anderer Regime in der Region nach sich ziehen werde. Entsprechend der „Theorie des Demokratischen Friedens“ werde der Nahe und Mittlere Osten zu einer friedlichen Region werden. Die Dominotheorie, nunmehr positiv gewendet, erlebte also eine Renaissance.

 

Mit gewissem Erstaunen hatte ich seit dem 11. September 2001 Verlautbarungen und Reden von Präsident George W. Bush und seinem Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gehört. Beispielsweise erklärte Rumsfeld im Oktober 2001 in Kairo, ein Beben werde durch den Nahen Osten gehen, eine Welle der Demokratisierung ähnlich wie in Osteuropa. Alle Staaten würden sich im Laufe der Zeit demokratisieren. Falls nicht, sei immer noch der gewaltsame Umsturz oder eine Intervention von außen möglich.

 

Für eine solche Prognose gab es meiner Ansicht nach weder in der jüngsten Geschichte des Irak noch in der Geschichte der Region Anhaltspunkte. Der Sturz Saddams würde keine demokratische Entwicklung garantieren, sondern eher eine lang andauernde Besatzung oder einen Bürgerkrieg. War also die Begründung des Krieges nur ein zynisches Kalkül? Ging es in Wirklichkeit, wie oft in der Geschichte und in der internationalen Politik, um geopolitische Interessen und den Zugang zu Ressourcen, um den Profit von Unternehmen?

 

Diese Erklärung war oft zu hören, überzeugend ist sie nicht. Bis heute bin ich der Auffassung, dass die Amerikaner die historisch-politische Begründung des Krieges ernst meinten, wenngleich handfeste ökonomische Interessen ebenfalls eine Rolle spielten. Präsident Bush war zu einer interventionistischen, ideologisch untermauerten Außenpolitik zurückgekehrt, die in den Vereinigten Staaten eine lange Tradition hat. Doch anders als seinen großen Vorgängern Woodrow Wilson, Franklin Delano Roosevelt oder John F. Kennedy fehlte George W. Bush die realpolitische Klugheit, die dem amerikanischen Engagement in aller Welt in der Vergangenheit zumeist, wenn auch nicht immer, zum Erfolg verholfen hatte.

 

Zweitens ignorierten die Amerikaner die komplizierte politische, ethnische und religiöse Struktur des Irak. Die politische Führung rechnete nicht mit Widrigkeiten; sie zog nicht in Betracht, dass ein militärischer Sieg nicht automatisch einen politischen Erfolg bedeutete. Die bittere Lektion des Vietnam-Krieges schien vergessen.

 

Und drittens drohten die Vereinigten Staaten im Fall des Scheiterns ihre herausgehobene Position in der Region zu verspielen, die sie mit Henry Kissingers shuttle diplomacy in den Jahren 1973 und 1974 errungen hatte. Seither war Washington die bestimmende Kraft im Nahen Osten gewesen, der einzige ernst zu nehmende Vermittler und spätestens seit dem Zweiten Golfkrieg von 1990/1991 auch die stärkste militärische Macht in der Region. Trotz aller politischen Rückschläge in den achtziger Jahren im Libanon, trotz des seither gewachsenen radikal-religiösen Terrorismus und trotz des stockenden Friedensprozesses zwischen Israel und Palästina – das amerikanische Engagement in der Region ist unabdingbar. Sollte sich je eine Friedenslösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt finden lassen, kämen nur die Vereinigten Staaten als Garantiemacht für ein solches Abkommen in Frage. Eine politische Niederlage im Irak würde also nicht nur die amerikanische Position am Persischen Golf nachhaltig schwächen, sondern die Stabilität in der gesamten Region gefährden.

 

Hinzu kam viertens ein grundsätzliches Problem: Krieg ist die ultima ratio der Politik und nicht einfach ein politisches Instrument unter vielen. Wer Soldaten in den Einsatz schickt, sollte sehr sorgfältig prüfen, ob dieser Schritt tatsächlich notwendig ist. Manchmal ist die Anwendung militärischer Gewalt unausweichlich, im Jahr 1991 zur Befreiung Kuwaits zum Beispiel oder im Jahr 2001 bei der Entmachtung der Taliban. Doch im Fall des Irak bestanden 2003 erhebliche Zweifel. Zum einen hielten falsche Beweise für die angebliche Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak als Kriegsgrund her; zum anderen hatten die Vereinigten Staaten in über 200 Jahren Außenpolitik nie präemptive Politik betrieben – die Bush-Regierung schien mir von der politischen Tradition des Landes abzuweichen. Bundeskanzler Schröder hatte daher Recht, als er den Vereinigten Staaten die Gefolgschaft verweigerte, auch wenn man dabei über seinen Stil geteilter Meinung sein kann. Im Übrigen wurden die Alliierten in den Jahren 2002 und 2003 nicht wirklich gefragt, ob sie den Irak-Krieg befürworteten. Der Entschluss stand in Washington seit langem fest.

 

Als die Geschichte zu Ende war

 

Zwischen dem 11. September 2001 und dem März 2003 veränderten sich die Rahmenbedingungen für das politische Handeln der Staaten – sowohl faktisch, als auch auf dem Gebiet der symbolischen Politik. Spätestens seit Mitte dieses Jahrzehnts ist die internationale Politik von einer pessimistischen Grundhaltung geprägt. Die zwei großen Umbrüche der Weltpolitik, der Zerfall der Sowjetunion und die demokratischen Revolutionen ab Mitte der achtziger Jahre (keineswegs nur in Ost- und Mitteleuropa, auch in einigen afrikanischen Staaten und in Lateinamerika), schienen zunächst eine Phase des „demokratischen Friedens“ unter Führung der Vereinigten Staaten einzuleiten. Francis Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“, derzufolge sich nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der sozialistischen Staaten Demokratie und Marktwirtschaft überall durchsetzen würden, war in den Neunzigern weithin akzeptiert.
Die Zeichen an der Wand – die Kriege nach dem Zerfall des jugoslawischen Vielvölkerstaats, der Völkermord in Ruanda, die Anarchie in Somalia und in anderen afrikanischen Staaten – wurden übersehen oder für überwindbare Einzelfälle gehalten. Zwar räumte Fukuyama später ein, dass in islamischen Staaten eine andere Dynamik herrsche als in der post-kommunistischen Welt. Er war jedoch davon überzeugt, dass sich diese Dynamik verändern lasse. Viele neokonservative Denker dachten ähnlich. Ihnen war die vorsichtige Politik der Clinton-Regierung ein Gräuel. Bis zu den Anschlägen vom 11. September 2001 wiegte sich der Westen in dem vermeintlich sicheren Bewusstsein, dass die Prinzipien des Liberalismus alle Welt durchdringen würden. Der Anschlag auf das World Trade Center brachte dann einen Moment der Verunsicherung.

 

Dabei kamen die Anschläge nicht unangekündigt. Bereits seit dem Frühjahr 1993 waren die Vereinigten Staaten das erklärte Ziel eines internationalen islamischen Terrorismus. Die Anschläge wurden immer „professioneller“ durchgeführt: Am 26. Februar 1993 verübten Terroristen das erste Attentat auf das New Yorker World Trade Center: Eine Autobombe forderte sechs Todesopfer und 1.042 Verletzte. Am 25. Juni 1996 gab es einen Sprengstoff-Anschlag auf die Khobar Towers in Saudi-Arabien, bei dem 20 Menschen starben (davon 19 amerikanische Soldaten) und 372 verletzt wurden. Es folgten Anschläge mit Autobomben auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam am 7. August 1998 mit zusammen 260 Toten und mehr als 5.500 Verletzten. Schließlich wurde der amerikanische Zerstörer USS Cole am 12. Oktober 2000 beim Auftanken in einem jemenitischen Hafen von einem Schlauchboot aus mit einer Bombe angegriffen, die ein Loch in die Bordwand riss. Zu beklagen waren siebzehn getötete Marinesoldaten und 39 Verletzte. Dann erst folgte der 11. September 2001.

 

Die Bush-Administration regierte das Land damals seit einem knappen Jahr und hatte bis dahin eine zögerliche Außenpolitik betrieben. Am Anfang von Bushs neuer Politik, die er nach dem Wahlsieg im Herbst 2000 proklamiert hatte, stand Distanzierung: Er stellte sich explizit gegen die Außenpolitik seiner republikanischen und demokratischen Vorgänger. Sein Vater George Bush und sein Vorgänger Bill Clinton hatten versucht, in vielen Krisen zu vermitteln und die Vereinigten Staaten als wohlwollenden Hegemon in einem multilateralen internationalen Umfeld zu etablieren. Bush verkündete lapidar den Rückzug. Wie die Präsidenten Warren Harding und Calvin Coolidge nach dem Ersten Weltkrieg in Reaktion auf den Internationalismus Wilsons, erklärte der Präsident, dass die Vereinigten Staaten die bisherige Krisendiplomatie einstellen würden. Erklärungen dieser Art stellten vor allem eine Abgrenzung zu Clintons Interventionen während dessen zweiter Amtszeit dar. Präsident Bush hatte nicht die Chuzpe zuzugeben, dass er sich damit auch von der Politik seines Vaters verabschiedete.

 

Die erste Nagelprobe folgte auf dem Fuße. Als im Frühjahr und Sommer 2001 der israelisch-palästinensische Konflikt eskalierte, reagierte Washington auf die Bitten um Vermittlung nicht. Auch die schwelenden Krisenherde Sudan, Somalia, Kaschmir und Nordkorea beachteten die Amerikaner kaum. Von Afrika ganz zu schweigen. Allein China, der mögliche zukünftige hegemoniale Konkurrent, wurde misstrauisch beäugt und zum Gegenstand strategischer Planungen gemacht. Im ersten Amtsjahr gab es mit Peking denn auch eine Reihe von Verstimmungen. So landete im April 2001 ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug, das mit einem chinesischen Kampfflugzeug kollidiert war, auf einer chinesischen Insel. Die Chinesen hielten die amerikanische Besatzung mehrere Tage lang fest. Noch im gleichen Monat bekräftigte der Präsident seine Bereitschaft, Taiwan auch in Zukunft zu verteidigen und autorisierte umfangreiche Waffenverkäufe an die Regierung in Taipeh.

 

Die Politik des demokratischen Imperialismus

 

Aus multilateralen Abkommen (besonders aus dem Kyoto-Protokoll und dem Internationalen Strafgerichtshof) zogen sich die Vereinigten Staaten zurück. Distanz und Rückzug galten als nationales Interesse.

 

Die Anschläge des 11. September 2001 beendeten diese Politik. Auf den global agierenden islamischen Aufstand reagierte die Regierung Bush mit der Formulierung des „demokratischen Imperialismus“, natürlich ohne diesen überspitzten, aus europäischer Sicht pejorativen Begriff zu verwenden. Für sie war die neue Herausforderung durchaus mit dem Kalten Krieg vergleichbar. Die Ausdehnung der demokratischen Ordnung auf islamisch geprägte Staaten sollte dem Aufstand seine Dynamik nehmen. Dieser Strategie lag die Vorstellung zugrunde, in demokratischen Staaten würden radikal-religiöse Kräfte, einer wichtigen Komponente ihrer Legitimität beraubt, schnell an Kraft und Bedeutung verlieren. Eine Politik des demokratischen Imperialismus musste daher offensiv und präemptiv sein: Sie sollte die Terroristen von möglichen Ressourcen und Unterstützern abschneiden.

 

Die Anschläge des 11. September 2001 legitimierten diese Wende der Politik. Die Radikalität der neuen Politik ging zum einen darauf zurück, dass die Vereinigten Staaten erstmals im eigenen Land angegriffen worden waren, zum anderen auf die neue Gefährdungslage. Die möglichen Gegner, terroristische Organisationen oder „Schurkenstaaten“, hatten zwar noch keine gemeinsame Politik abgestimmt. Eine solche war aber denkbar und musste verhindert werden.

 

Die neue Politik der Regierung Bush verband neokonservative Politikkonzepte mit einer klassischen „realistischen“ Interessenpolitik. Das Ergebnis war ein „Neo-Wilsonianismus“, der widersprüchlich begründet wurde. Das Hauptargument dieser Denkrichtung besagt, dass die USA in den Staaten, die für die Krise in einer Region hauptverantwortlich sind, immer dann einen Regimewechsel herbeiführen müssen, wenn er zu einer prinzipiell demokratischen und freiheitlichen Ordnung führt. Eine solche Politik der „Demokratisierung“ – wobei mit Demokratisierung zunächst im Wesentlichen Wahlen gemeint waren – führe im Zeitverlauf zu regionaler Stabilität. Denn wenn sich wichtige Staaten (gemessen an ihren militärischen Kapazitäten) und zentrale Staaten (je nach der geografischen Lage der Krisenregion) zu dieser Staatsform bekennen, würden andere Länder folgen.

 

Demokratisch verfasste Staaten wiederum hielten untereinander Frieden. Mit dem „Axiom des demokratischen Friedens“ nahm man an, Demokratien seien friedfertiger als autoritäre Herrschaftssysteme. Damit baut die Theorie auf Überlegungen auf, die bereits Immanuel Kant in seinem Buch Zum ewigen Frieden formulierte, ebenso wie andere Autoren nach ihm. Kant argumentiert, dass in einem „republikanisch“ verfassten Staat, der die Partizipation der Staatsbürger an der Entscheidung über Krieg und Frieden zulasse, keine Kriege beschlossen würden, da die Bürger die Lasten des Krieges selbst tragen müssten. „Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anderes seyn kann), die Beystimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg seyn solle, oder nicht, so ist nichts natürlicher, als dass, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten, sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.“

 

Die Vorstellung Kants, dass Demokratien prinzipiell weniger kriegsgeneigt sind, wird durch die Geschichte jedoch nicht bestätigt. Demokratien sind oft in militärische Auseinandersetzungen verwickelt, stets allerdings mit autoritären Regimen. Seit 1816 gab es keinen Krieg mehr zwischen Demokratien. Diese Tatsache nährt wiederum die Annahme, ein „demokratischer Imperialismus“ führe zu einer Friedensordnung.

 

Diese Politik, so ein zusätzliches, „realistisches“ Argument, dient aber nicht nur einem idealistischen Konzept zur Schaffung eines Weltfriedens. Es liegt im ureigenen Interesse der Vereinigten Staaten, weil es die Sicherheit erhöht. Ein erneuter Angriff wird schwieriger und damit unwahrscheinlicher. Um dieses Ziel zu erreichen, bedienen sich die USA aller Instrumente internationaler Politik. Militärische Interventionen wie in Afghanistan oder im Irak gehören ebenso dazu wie unterschiedliche Formen der direkten oder indirekten Einflussnahme wie in Georgien oder in der Ukraine. Solche Überlegungen führten zur Begründung des Irak-Krieges.

 

Hier ist eine Einschränkung wichtig: Natürlich beschreibt eine monokausale Erklärung immer nur einen Teil der Wirklichkeit. Motive und Verhalten in Entscheidungsfindungsprozessen sind vielschichtiger und nicht zuletzt auch von konventionellen sicherheitspolitischen oder ökonomischen Motiven bestimmt. Dem ideologischen Motiv kommt aber eine zentrale Bedeutung in Entscheidungsprozessen zu. Nach dem 11. September 2001 war es von besonderer Bedeutung.

 

Im Irak-Krieg wurde dieses Denken zum ersten Mal praktisch angewandt. Der Feldzug in Afghanistan im Herbst 2001 hatte noch der direkten und unmittelbaren Verteidigung der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten gedient. Al-Kaida und die Taliban waren Bundesgenossen in einem Kampf gegen die westliche Welt. Sie kooperierten politisch und militärisch – man musste sie entmachten. Der Irak, seit dem zweiten Golfkrieg 1991/1992 ein von den Vereinigten Staaten bekämpftes politisches System, gehörte dieser Allianz nicht an. Der Konflikt der westlichen Staatengemeinschaft mit der Regierung von Saddam Hussein war anderer Natur. Radikal-religiöse Vorstellungen spielten allenfalls eine untergeordnete Rolle. Wie mit dem Regime zu verfahren sei, war in Europa und in den USA umstritten. Einig war man sich nur in den vagen Rahmenbedingungen eines containment. Doch die Regierung Bush sah im Irak des Saddam Hussein einen möglichen künftigen Gegner. Konsequent betrieb sie ihre neue Politik.

 

In einem kurzen, mit hoher technologischer Überlegenheit geführten Krieg besiegten die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten das Saddam-Regime und beseitigten alle militärischen und administrativen Strukturen des vollkommen auf die Person des Diktators ausgerichteten Baath-Staates.

 

Eine grundlegende Verbesserung ist nicht in Sicht

 

Die Vereinigten Staaten „entkernten“ im Jahr 2003 den irakischen Staat. Unter dem Signum der Ent-Baathisierung wurden alle Institutionen des Staates aufgelöst, der seit dem zweiten Golfkrieg ohnehin geschwächt war. Die Folge war zunächst Anarchie; fast alles staatliche und administrative Handeln kam zum Erliegen. Für einen Neuaufbau aber hatte Washington kaum Pläne, denn die neokonservativen Ideologen glaubten, der neue Irak würde sich von innen heraus automatisch demokratisch organisieren.

 

Das Erwachen war bitter und schmerzhaft. Außerhalb der amerikanisch dominierten Welt der Besatzungszonen und Camps füllte sich das Machtvakuum durch Kämpfe und Machtstrukturen verschiedener Gruppen und Institutionen. Das Amalgam der Kriege entstand, das die Berichterstattung über den Irak tagtäglich zeigt: Unternehmer der Gewalt, die häufig Profitstreben mit vagen politischen Äußerungen verbinden; radikal-religiöse Gruppen, zum Teil von Kämpfern aus anderen Ländern unterstützt; Milizen, die religiöse oder ethnische Gruppen verteidigen; ein fragmentierter, provisorischer Regierungsapparat, der mit der einen oder anderen Gruppe Allianzen auf Zeit eingeht. Die irakische Armee und Polizei – mühsam wieder aufgebaut – sind zu einer wirksamen Unterstützung der Amerikaner nicht in der Lage. Nahezu die Hälfte der derzeit rund 138.000 Soldaten ist lediglich dazu bereit, in ihrer Heimatregion Dienst zu tun. Ihre Loyalität gilt nur zu einem sehr geringen Teil dem irakischen Gesamtstaat. Selten stehen die Einheiten in voller Stärke zur Verfügung. Es fehlt an einer effizienten Führungsstruktur auf Brigade- und Divisionsebene. Eine grundlegende Verbesserung des Zustands der Armee, die einen nationalen Versöhnungsprozess und die Überwindung der religiösen und ethnischen Differenzen voraussetzen würde, ist nicht in Sicht.

 

Aus der abstrakten Erkenntnis dieser Problematik heraus und um die Situation besser erfassen und verstehen zu können, entschloss ich mich, für einige Wochen in den Irak zu reisen. Ich war mir bewusst, dass das Bild von der amerikanischen Kriegsführung, das ich mir mithilfe der Medien in Deutschland gemacht hatte, bestenfalls ein Ausschnitt der verworrenen Lage im Irak war, möglicherweise aber auch ein Zerrbild. Obwohl die Reise in ein Kriegsgebiet problematisch werden würde, fand ich es notwendig, mich dieser Erfahrung zu unterziehen, ohne die meiner Ansicht nach eine wirkliche Analyse der amerikanischen Politik letztlich nicht möglich ist.

 

Sich ein „eigenes Bild“ von einer politischen Krise zu machen, ist allerdings nicht immer unproblematisch. Manche diskreditierten die Reise als „Kriegstourismus“, und nicht immer ist dieser Vorwurf fehl am Platze, doch treibt wohl die wenigsten Beobachter nur der Voyeurismus. Und auch diejenigen, die ihre Augen vor der Situation verschließen oder glauben, diese aus sicherer Distanz heraus einschätzen zu können, sind nicht über Kritik erhaben. Selbst wenn nicht jeder in Krisengebiete reisen muss – man sollte nie glauben, alle Fakten zu kennen. Doch der Reisende muss wissen, dass er durch die persönliche Anschauung nicht mehr als ein paar Mosaiksteine des Gesamtbildes zusammentragen kann.

 

Die Situation, die ich vorfand, war erschreckend und düster: Im Irak gibt es im vierten Kriegsjahr keine Sicherheit – außer auf „Inseln“ wie den Camps und in der Internationalen Zone in Bagdad. Sicherheit kann es in einer derart komplexen Kriegssituation auch gar nicht geben. Zuerst müsste die Machtfrage geklärt und ein Gewaltmonopol etabliert sein, wovon das Land jedoch weit entfernt ist. Erst dann könnte sich ein rechtsstaatliches System entwickeln. Es geht schon lange nicht mehr um Demokratie (unter der sich im Übrigen auch im Irak alle etwas Unterschiedliches vorstellen), sondern um die Schaffung eines Zustandes der physischen Sicherheit. Ein irakischer Familienvater in Tikrit sagte mir, dass sein allererstes Anliegen Sicherheit sei – und er verstand darunter das nackte Überleben.

 

Eine fast undurchschaubare Mischung verschiedener Kriege

 

Daher bieten alle Gruppen in diesem Krieg zunächst einmal Sicherheit durch Akkumulation von Macht und präventives, als Abschreckung gedachtes Töten. Nachts werden die Leichen in Bagdad oft an befahrenen Kreuzungen förmlich drapiert, so dass – anhand der ethnischen, religiösen oder politischen Zugehörigkeit der Toten – alle sehen können, welche Miliz hier herrscht und Sicherheit garantiert. Ein Dolmetscher berichtete mir, Muqtata al-Sadr habe zurzeit Probleme mit seinen Anhängern, weil er die Ermordung schiitischer Pilger nicht verhindern könne.

 

Und doch: Ist der gewaltsame Tod abgewendet, folgen die Probleme materieller Sicherheit (Nahrung, Trinkwasser, Wärme). Um diese Dinge wird unter dem Banner religiöser Ideen gekämpft. Das Machtvakuum nach Saddam Husseins Niederlage hat nicht zu einem Bürgerkrieg geführt, sondern zu einer fast undurchschaubaren Mischung verschiedener Kriege, was in einer Kriminalisierung der Politik des Irak resultiert.

 

Dazu gibt es ein immer größeres Flüchtlingsproblem: Berichten des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen zufolge befinden sich insgesamt 4,2 Millionen Iraker auf der Flucht, jeder achte der 26 Millionen Einwohner des Landes. Trotz der andauernden Medienaufmerksamkeit bleibt das Flüchtlingsdrama weitgehend unbemerkt. Allein im Jahr 2006 verließen 500.000 Iraker das Land, jeden Monat fliehen weitere 50.000 Iraker ins Ausland. Die Mehrzahl geht in die Nachbarländer Syrien (rund 1,4 Millionen) und Jordanien (rund 750.000), andere fliehen nach Ägypten (rund 80.000). Die Golfstaaten haben 200.000 Flüchtlinge aufgenommen.

 

Im nur 4,3 Millionen Einwohner zählenden Jordanien stehen hunderttausende Iraker ohne gültige Papiere unter „Beobachtung“; die anderen gelten als Gäste, nicht als Flüchtlinge. Dies bedeutet, dass die Iraker in diesem Land kaum Rechte haben, beispielsweise auf medizinische Versorgung oder Bildung. Jordanien hat das internationale Flüchtlingsabkommen von 1951 nicht unterzeichnet. Das macht die Situation noch komplizierter: Viele der Iraker fürchten, in den Irak zurückgeschickt zu werden. Syrien sieht sich jeden Monat mit 30.000 weiteren Flüchtlingen konfrontiert. Daneben gibt es an die 1,9 Millionen Binnenflüchtlinge. Bis Ende des Jahres rechnet man mit 2,3 Millionen Vertriebenen innerhalb des Irak. Nach Aussage des Hohen Flüchtlingkommissars der Vereinten Nationen, António Guterres, handelt es sich damit um die größte Fluchtbewegung und Vertreibung im Nahen Osten seit 1948. Die radikal-religiös motivierte Gewalt (manchmal auch ethnische oder politische Auseinandersetzungen) führt dazu, dass ehemals „gemischte“ Stadtviertel, nicht nur in Bagdad, nun weitgehend von Irakern einer bestimmten religiösen Zugehörigkeit oder Ethnie bewohnt werden.

 

Bushs Außenpolitik ist auf der ganzen Linie gescheitert

 

Der Irak stellt nicht nur ein Problem der amerikanischen Politik dar. Die Stabilisierung des Irak ist – vor allem in Zukunft – auch eine Aufgabe der Europäer. Denn wie die Vereinigten Staaten prägten die Europäer viele Jahrzehnte die Geschicke des Irak, indem sie ihn aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches herauslösten und zu einem eigenständigen Gebilde machten, das sie zu beherrschen suchten. Die englischen Kolonialherren und späteren Protektoren, im Zweiten Weltkrieg kurze Zeit auch Deutschland, in der Nachkriegszeit dann die USA, sahen in dem Land einen wichtigen, strategischen Verbündeten. Im Krieg gegen den Iran des Ajatollah Chomeini wurde das Regime in Bagdad aufgerüstet, während man die brutalen Menschenrechtsverletzungen, etwa den auch mit chemischen Waffen geführten Krieg gegen Teile der eigenen Bevölkerung, beharrlich ignorierte. Erst die Aggressivität Saddam Husseins gegen Kuwait und seine immer martialischere Rhetorik im Sommer 1990 änderten die Wahrnehmung. Erst jetzt wurden der Baath-Staat und Saddam Hussein zum Feindbild des Westens, vor allem der Vereinigten Staaten. Aus dem einzudämmenden Gegner wurde nach dem 11. September 2001 schließlich der prinzipielle, potenziell gefährliche Feind.

 

In der Mitte seiner zweiten Amtszeit musste Präsident Bush erkennen, dass beide bisherigen Formen auswärtiger Politik – Distanz und Rückzug sowie Neo-Wilsonianismus – gescheitert waren. Dies zeigten auch andere wichtige außenpolitische Initiativen und Probleme. So ist die amerikanische Politik der Nonproliferation gescheitert – Indien musste als Nuklearmacht anerkannt werden und die atomare Rüstung ist in Nordkorea, Pakistan und mittlerweile in Iran weit fortgeschritten, sie wird durch diplomatische Initiativen nicht mehr zu verhindern sein. Konzepte für eine umfassende nukleare Abrüstung der aufstrebenden Atommächte gibt es nicht.

 

Die Politik der präemptiven Intervention muss ebenfalls als gescheitert betrachtet werden: Weder in Afghanistan noch im Irak ist es gelungen, ein stabiles demokratisches System zu errichten. In beiden Ländern wird nach wie vor Krieg geführt. Überregionale terroristische Bewegungen haben durch die Interventionen nicht nur neue Rechtfertigungen für ihre Aktionen, sondern auch ein militärisches Betätigungsfeld gefunden. Dementsprechend erstarken religiös motivierte terroristische Bewegungen in ideologischer und militärischer Hinsicht. Die Eskalation des israelisch-palästinensischen Konflikts und der erneute Ausbruch des Konflikts zwischen Israel und der Hisbollah konnten nicht verhindert werden. Der Demokratisierungsprozess im Libanon ist damit de facto zu Ende. In den palästinensischen Gebieten machten sich radikal-islamische Bewegungen (in erster Linie die Hamas) die Demokratisierungsbemühungen zunutze und gewannen an politischem Einfluss. „Gemäßigte“ arabische Staaten sehen diese „Demokratisierung“ mit zunehmender Besorgnis.

 

Welche Konsequenzen für die deutsche Außenpolitik?

 

Zudem vernachlässigten die Vereinigten Staaten eine Reihe von binnen- und zwischenstaatlichen Konflikten über lange Zeit, die nun ebenfalls zu eskalieren drohen: die Konflikte im Sudan, zwischen Sudan und dem Tschad sowie die Konflikte in Somalia und zwischen Somalia und Äthiopien. Die meisten dieser Konflikte haben eine religiöse Komponente und bieten überregionalen terroristischen Organisationen ein Betätigungsfeld.

 

Die amerikanische Politik hat Syrien und Iran leichtfertig die Rolle der einzigen Staaten überlassen, die gegen die USA Widerstand leisten. Die Folge ist ein politischer Prestigegewinn für Damaskus und Teheran und eine Stärkung ihrer Schutzmachtfunktion für regionale islamische Widerstandsorganisationen wie Hamas und Hisbollah.

 

Dieser Überblick zeigt, dass sich verschiedene Konflikte zu einer größeren überregionalen Auseinandersetzung zusammenfügen. Eine Verbesserung der amerikanischen Position in diesen Auseinandersetzungen ist nur durch eine kohärente Politik möglich, die einzelne Konflikte in einen Zusammenhang stellt. Die Regierung Bush ist in vielen Bereichen – vor allem unter der Führung von Condolezza Rice und durch personelle Veränderungen seit dem Herbst 2006 – zu Prinzipien des von Clinton vertretenen eingeschränkten Multilateralismus zurückgekehrt. Dies reicht aber nicht mehr aus, um in der derzeitigen Situation zu einer deutlichen Verbesserung zu kommen. Notwendig ist eine größere Kurskorrektur.

 

Der archimedische Punkt der internationalen Politik ist heute das amerikanisch-irakisch-iranische Konfliktdreieck. Die Vereinigten Staaten betrachteten den Irak-Krieg lange mehr oder weniger als eine singuläre Angelegenheit im Rahmen des globalen Krieges gegen den Terror. Die Amerikaner glaubten, die Stabilisierung des Irak könne ohne die Mitwirkung der Nachbarstaaten Syrien und Iran gelingen. Der Schlüssel zum Erfolg im Irak liegt aber in Teheran. Nur eine iranisch-irakische Zusammenarbeit – mit Billigung und Unterstützung der Vereinigten Staaten – kann im Irak zu einer Stabilisierung führen. Sie würde der schiitischen Mehrheit die nötige Sicherheit geben, um mit den anderen religiösen und ethnischen Gruppen des Landes zu dauerhaften Kompromissen zu kommen. Und sie wäre ein Anreiz für Iran, auch in anderen Fragen zu kooperieren.

 

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die deutsche Außenpolitik – besonders für die Verschränkung von Außen- und Sicherheitspolitik? Zunächst eine Warnung: Helmut Schmidt hat gesagt, ihm bereite es große Sorgen, dass Politiker, die die Brutalität des Krieges nicht aus eigener Anschauung kennen, über Krieg und Frieden entscheiden – und daher allzu leichtfertig dazu neigen, einen Krieg zu beginnen. Der Altkanzler stellte schon im Herbst 2003 fest, er blicke voller Pessimismus auf die kommenden Jahrzehnte, für die er große militärische Auseinandersetzungen, Unterdrückung und Verfolgung von Minderheiten bis hin zu Genoziden, Bürgerkriegen und einer wachsenden terroristischen Bedrohung prognostizierte. Vieles davon ist bereits eingetreten.

 

Auch wenn nicht alle politischen Analytiker eine derart pessimistische Prognose teilen, muss sich politisches Handeln auf eine solche Gestalt der Welt vorbereiten. Dies kann nur zweierlei bedeuten: Militärische Interventionen müssen wieder zur ultima ratio der Politik werden; dies gilt vor allem für die Diskussionen im transatlantischen Verhältnis. Und einer neuen amerikanischen Administration muss die Rückkehr zu einer multilateralen, vorsichtigen Politik erleichtert werden. Kriegsszenarien wie der Feldzug von 2003 dürfen sich nicht wiederholen.

 

Eine Selbstbegrenzung der amerikanischen Politik, die eine neue Regierung wahrscheinlich durchsetzen wird, kann aber nur mit europäischer Unterstützung wirksam sein. Die Vereinigten Staaten sind am Ende der Amtszeit George W. Bushs ein überforderter Hegemon. Sie brauchen eine erneuerte transatlantische Zusammenarbeit. Dafür ist auch ein deutsches Engagement in Krisenregionen und bei der Bekämpfung des Terrorismus die Voraussetzung. Solche Einsätze werden keine mit dem Irak-Krieg vergleichbaren Operationen sein. Sie entspringen außenpolitischer Verantwortung und sind zugleich im europäischen (und damit deutschen) Interesse. So wie die Balkankrisen der neunziger Jahre nur mit Hilfe der Vereinigten Staaten zu lösen waren – Washington leistete diese Hilfe nach einigem Zögern – so bedarf es nun eines dauerhaften und nachdrücklichen europäischen Engagements im Nahen und Mittleren Osten zur Entlastung der USA.

 

Keine Flucht ins erträumte Biedermeier!

 

Dies bedeutet ein größeres internationales Engagement der Europäer und der Bundesrepublik, auch mit militärischen Mitteln. Deutschland hat mit seinem Wunsch, einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu bekommen, die Bereitschaft zu größerer Verantwortung erklärt. Künftige militärische Einsätze bewegen sich mithin in einem „Dreieck“ von Begründungen: der Bestimmung des Krieges als ultima ratio der Politik, was Operationen wie den Irak-Feldzug von 2003 ausschließt; der Akzeptanz internationaler Verantwortung, die ein über politische Rhetorik und politisch-finanzielle sowie wirtschaftliche Maßnahmen hinausgehendes Engagement verlangt; und eine langfristige und umfassend angelegte Verteidigung europäischer Interessen durch Stabilisierungsbemühungen und Krisenprävention. Die deutsche Politik während der Irak-Krise in den Jahren 2002 und 2003, bei der Unterstützung der Vereingten Staaten in Afghanistan, im Mittleren Osten und am Horn von Afrika sowie zuvor die Balkanmission entsprechen diesen Anforderungen.

 

Eine solche Politik ist unpopulär, und sie entspricht nicht den Empfindungen einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Sie erfordert in den nächsten Jahren ein hohes Maß an Aufklärung und Überzeugung. Aber eine realistische Alternative ist nicht erkennbar. Ein Rückzug oder eine Einschränkung der verschiedenen Einsätze, wie sie in der Beifall heischenden Rhetorik mancher Politiker vorgeschlagen wird, wäre eine verantwortungslose Flucht in ein erträumtes Biedermeier.

 

Eine ausführliche Beschreibung seiner Reise in den Irak hat Dietmar Herz im Beck Verlag veröffentlicht: Die Amerikaner im Krieg: Bericht aus dem Irak im vierten Kriegsjahr, München 2007, 160 Seiten, 17,90 Euro.

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